von Marc Saxer, 26.5.12
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Democracy 3.0. Regierungen stürzen und werden durch Technokratenregime ersetzt. Kapitalismusgegner besetzen Bankenviertel. Populisten und Extremisten gewinnen Wahlen. Spanien zerbricht am Spardiktat. In Griechenland droht das Militär mit einem Putsch. In Deutschland verteidigen brave Bürger Parkbäume in blutigen Straßenschlachten. Und die Piraten versetzen etablierte Parteien in Angst und Schrecken.
Ist die Demokratie noch in der Lage, die enormen Fliehkräfte unserer Gesellschaften auszutarieren? Oder stoßen die demokratischen Staaten im Inneren ebenso an ihre Grenzen wie beim verzweifelten Versuch, die Kräfte der globalisierten Märkte zu bändigen? Treibt das Versagen der Demokratie die Menschen in die Arme der Rattenfänger und Extremisten? Ist schon wieder Weimar?
Jede Gesellschaft braucht ein leistungsfähiges Betriebssystem
Nu mal halblang. Richtig ist: die demokratischen Systeme, in denen wir leben, sind in einer bedrohlichen Krise. Wer nun aber das System Demokratie vorschnell abschreibt, vergisst, dass die Herrschaft des Volkes immer wieder an die Bedingungen ihrer Zeit angepasst wurde. Die Ursprungsversion Democracy 1.0 stand ganz im Geiste der Aufklärung: der eigentliche Zweck der Gesellschaftsordnung war die Entwicklung des (bürgerlichen) Individuums und der Schutz seiner Rechte. Das aktuelle Betriebssystem, Democracy 2.0, wurde für die Hardware Industriegesellschaft geschrieben. Das Individuum wurde im industriellen Produktionsprozess auf ein austauschbares Rädchen im großen Getriebe reduziert. Folglich wurden die Konflikte der Zeit in der Masse ausgefochten: tausende auf den Straßen, Hunderttausende im Streik, Millionen auf den Schlachtfeldern. Democracy 2.0 organisierte diese Massen in Massenorganisationen: Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine und Verbände. Die Politik verteilt Ressourcen zwischen standardisierten Bevölkerungsgruppen. Bürokratien disziplinieren den Rest, der nicht ins System passt. Alle vier Jahre wird pauschal über die Grundrichtung abgestimmt.
Unsere Gesellschaften sind aber im Vergleich zu ihren standardisierten Vorläufern ungleich viel komplexer geworden. Wir sind eine lose Gemeinschaft von kleinen und kleinsten Subkulturen geworden, die nur eines vereint: dass sie grundverschieden sind. Das Fundament gemeinsamer Visionen und Werte, mit denen sich alle identifizieren können, wird im Nebeneinander unterschiedlicher Lebensweisen immer dünner. Mit der postindustriellen Wissenswirtschaft kehrt das eigenständige und kreative Individuum zurück. Zum Leistungsträger stilisiert, muss es immer mehr Lebensrisiken tragen. Umgekehrt pocht dieses Individuum selbstbewusst auf die Berücksichtigung seiner Besonderheit und fordert mehr Mitsprache bei der Regelung seiner Angelegenheiten. Um im permanenten Konflikt der Interessen zu vermitteln, braucht eine pluralistische Gesellschaft ein leistungsfähiges Betriebssystem, das passgenaue Lösungen aushandeln kann. Kein Wunder, dass das Standardmodell Democracy 2.0 in diesem Gewusel nicht mehr rund läuft.
Jede Gesellschaft braucht ein leistungsfähiges Betriebssystem, um rund zu laufen. Allerdings haben wir schon lange kein Update mehr durchgeführt. Höchste Zeit also für Democracy 3.0!
Womit wir beim Problem wären: Bisher gibt es diese Democracy 3.0 noch gar nicht. Und inmitten der größten Krise des Westens in der Nachkriegszeit scheinen andere Fragen zunächst einmal dringender zu sein. Es geht aber nicht einfach um die Antworten auf die großen Fragen. Es geht auch darum, auf welche Weise wir als Gesellschaft über diese Fragen befinden. Sprich: Wer stellt die Fragen, wie debattieren wir den richtigen Weg, und wer entscheidet am Ende? Krise der Demokratie bedeutet, dass Democracy 2.0 diese Systemfunktionen nicht mehr effektiv erfüllt.
Was muss Democracy 3.0 leisten können?
Immerhin, inmitten der Krise laufen bereits die ersten Experimente mit neuen Formen und Mechanismen der Demokratie. Eine genauere Betrachtung dieser Experimente kann uns bereits einen Hinweis darauf geben, was ein neues Betriebssystem leisten können muss – und wie diese Democracy 3.0 aussehen könnte.
Ein spannendes Experiment konnte man ausgerechnet im wertkonservativen Südwesten beobachten, bei den Protesten gegen den Ausbau des Stuttgarter Bahnhofs. Was war geschehen? Der Ausbau des Bahnhofs war formell korrekt durch die gewählte Regierung und das Parlament beschlossen worden. Die Gegner des Ausbaus bestritten jedoch sowohl die Legitimität der Mehrheit der Repräsentanten als auch die höchstrichterlich festgestellte Legalität dieses Beschlusses. Mehr noch – Befürworter von Referenden aufgepasst! – der harte Kern der S21 Gegner erkannte nicht einmal das Ergebnis des Volksentscheides an, bei dem die Mehrheit für den Ausbau gestimmt hatte. Hier zeigt sich ein neues Demokratieverständnis: Die Bürger fordern in die Gestaltung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes umfassend, von Anfang an, und auf Augenhöhe eingebunden zu sein. Und stellen dabei die Qualität der Beteiligung am Entscheidungsprozess noch über die Qualität der Entscheidung. In dieser Radikalität richtet sich die Forderung nach Mitbestimmung gegen die Grundidee der Repräsentation, also die Delegation der Gestaltung der Lebensbedingungen an gewählte Vertreter. Mehr noch, einige Streiter für „mehr Demokratie“ stellen sogar das Grundprinzip der Demokratie in Frage: die Bereitschaft der Minderheit, den Willen der Mehrheit anzuerkennen. Aufschlussreich war aber ebenso die Bereitschaft der meisten Ausbaugegner, die Autorität eines ungewählten, aber unparteiischen Schlichters anzuerkennen. Ein Unparteiischer, der eine passgenaue Lösung vorschlägt, fand also mehr Akzeptanz als das pauschale „Ja zum Ausbau“ der Mehrheit.
Die Piraten machen es sich nicht einfach mit der Positionsbestimmung, und tun sich noch schwerer mit rechten oder sexistischen Äußerungen in den eigenen Reihen. Erste Versuche der Etablierten, das Gespenst inhaltlich zu stellen, zielen meist auf die Substanzlosigkeit dieses luftigen Gebildes, das ohne Vision und mit ständig wechselnden, oft obskuren Positionen vor sich hin wabert. Eine Gespenster-Partei hat aber keine feste Gestalt, folglich mussten diese Schüsse ins Leere gehen. Der chaotische Haufen von Netzaktivisten, Protestlern und rheinischen Hausfrauen unter dem Banner der Piraten ist eben keine Programmpartei. Sie sind auch nicht die Erben des Liberalismus, zu denen sie vorschnell erklärt wurden: den Netizens reichen passive Bürgerrechte zur Abwehr von Übergriffen des Staates nicht mehr aus. Vielmehr wollen sie aktiv bei der Gestaltung ihres unmittelbaren (virtuellen oder realen) Lebensumfeldes mitwirken. Mit diesem universellen Anspruch auf Mitbestimmung kontrastiert allerdings das selektive Interesse ihrer Wähler (Wenn Biedermeier wählen): Zu den meisten politischen Fragen möchte der Pirat am liebsten gar keine Meinung haben. Wo Positionen bezogen wurden, wie im Bereich des Urheberrechts, taugen diese kaum als allgemeines Prinzip für die Gesellschaft als Ganzes. Dieser seltsame Kontrast zwischen „überall mitbestimmen wollen“ und „sich lieber nicht festlegen wollen“ ist einer der Widersprüche der Piraten.
Warum aber sind die Piraten im Moment so erfolgreich? Die Ursachen für ihren kometenhaften Aufstieg liegen tiefer als der Medienhype, der sie derzeit von Umfragehoch zu Wahlsieg treibt. Die Piraten haben auch mehr zu bieten als die „neue Form der Ansprache“, die ihnen von den Etablierten gönnerhaft zugestanden wird. Vielmehr ist es der Versuch, den Wunsch nach radikaler Teilhabe in Form einer Partei zu institutionalisieren. Das Piraten Betriebssystem Liquid Democracy ist der bisher ausgetüftelste Versuch, Partizipation und Transparenz auf ein neues Niveau zu heben.
Die Piraten bieten allen Bürgern an, gleichberechtigt und umfassend über die Gestaltung des unmittelbaren Lebensumfeldes mitzubestimmen. Die Scheinpartizipation innerhalb der etablierten Parteien, die sich meist in den internen Hierarchien verfängt, sieht dagegen alt aus. Im Vergleich zu den Pauschalangeboten der etablierten Parteien, die die Wähler nur alle vier Jahre annehmen oder ablehnen können, hat diese Mitbestimmung eine neue Qualität. „Dazu habe ich keine Position, ich bin ja nur der Parteivorsitzende“, mit diesem Satz brachte der ehemalige Piratenchef diese Grundhaltung auf den Punkt.
Gleichberechtigte Partizipation an der Entscheidungsfindung ist auch das Credo der Occupy-Bewegung. In der Tradition radikaler Demokratieexperimente verzichten die antikapitalistischen Aktivisten und ihre globalisierungskritischen Cousins lieber auf eine gemeinsame Position, als diese autoritär oder exklusiv zu bestimmen. Die gesellschaftlichen Kämpfe der letzten Jahre drehen sich aber um mehr als einen neuen Modus der Mitbestimmung. Das gemeinsame Anliegen der Okkupanten ist die gleichberechtigte Teilnahme am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben für alle. Die spätkapitalistischen Systeme schließen jedoch die Mehrheit der Gesellschaft von dieser Teilhabe aus. Und die demokratischen Staaten haben nicht den Willen oder die Kraft, diese Teilhabe gegen die Kräfte der Märkte zu ermöglichen.
Es geht also nicht nur um neue Formen, es geht auch um neue Inhalte. Ob durch die Revolution der politischen Ökonomie oder die reformistische Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen: Gerechtigkeit und Gleichheit sind zurück. Was aber bedeutet das unter den Bedingungen des Spätkapitalismus? Diese Frage spaltet seit Jahren insbesondere das linke Spektrum. Worum geht es? In einer Gesellschaft der Vielheit fordern die Individuen die Anerkennung ihrer Besonderheit. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung verlangen sie die Anerkennung ihrer ethnischen, religiösen und sexuellen Identität. Nach Jahrzehnten der Gleichschaltung fordern sie die Berücksichtigung ihrer besonderen familiären, körperlichen oder lokalen Bedingungen. Wer um die Anerkennung der eigenen Besonderheit ringt, fordert: „Um meinen besonderen Bedingungen gerecht zu werden, muss ich besonders behandelt werden. Für mich sollen daher andere Regeln gelten als für die Allgemeinheit.“ Wie unterscheidet sich die Forderung nach Sonderbehandlung von den Lobbyisten, die noch nicht einmal versuchen, das eigene Sonderinteresse zum Gemeinwohl zu verklären? Die Sonderbehandlung der Anerkennungsgerechtigkeit ist den Verfechtern der Gleichheitsgerechtigkeit unerträglich.
Für die Democracy 3.0 bedeutet dies, dass sie passgenaue Lösungen für Minderheiten anbieten muss, ohne das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit zu verletzen. Identität und Zusammenhalt werden zukünftig weniger über ein gemeinsames Wertefundament gestiftet, sondern über die gleichberechtigte Teilhabe aller am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben. Eine Identität durch die allgemeine Anerkennung der vielen Identitäten. Zusammenhalt durch gemeinsames Streiten. E pluribus unum – nicht von ungefähr das Gründungsmotto der ersten Vielvölkernation.
Democracy 3.0 Beta steht zum Download bereit
S21-Gegner, Occupy und Piraten – so unterschiedlich diese Phänomene auch sind, ihre Forderungen, aber auch die Formen ihrer politischen Kommunikation, geben Hinweise darauf, was ein neues Betriebssystem leisten können muss. Unparteiischer und näher dran muss es sein, weniger pauschal und passgenauer, nicht verpflichtend aber offen für alle, die mitmachen wollen. Wen wundert es da, dass die Betaversionen für Democracy 3.0 zunächst im Netz entwickelt werden? Das Internet mit seinen dezentralen Strukturen, flachen Hierarchien, seiner hohen Dynamik, dem Nebeneinander konträrer Lebenswelten und dem Miteinander freiwilliger Zweckgemeinschaften ist der ideale Spiegel der postindustriellen Gesellschaft. Daher sind die neuen Formen der Deliberation und Entscheidungsfindung, mit denen die Netizens experimentieren, so spannend. Die vorgestellten Bewegungen sind die ersten Versuche, diese Experimente in die offline Welt zu übersetzen. Wie bei jeder open source Entwicklung wird es Irrwege geben, werden Fehler berichtigt werden müssen, erweist sich manche Vision als Kopfgeburt. Doch die Leidenschaft, mit der an einem neuen Betriebssystem gebastelt wird, zeigt, dass es ein echtes Bedürfnis danach gibt – online wie offline.