#Finanzkrise

Das süße Gift des billigen Geldes

von , 12.12.08

Es brennt. An den Finanzmärkten ist weltweit Anlegergeld in ungeahnter Höhe zu Asche geworden. Der Staat muss nun löschen. Finanz- und Geldpolitiker rufen seither weltweit: „Unsere Wache hat begonnen“ – wie am Ende des Prologs von Frischs „Biedermann und die Brandstifter“. Da darf man auch fragen: Wo kam das ganze Geld her, das so massiv und scheinbar unbeobachtet erst glimmend, dann lodernd hat brennen können? Und: Wo war die Wache?

Die populärste und oberflächlichste Antwort ist: „neoliberale Ideen, unverantwortliche Laisser-faire-Prinzipien und wahnsinniges Renditestreben“ (Finanzminister Peer Steinbrück vor dem Bundestag am 25. September 2008) hätten den Flächenbrand ausgelöst.

Die unfreiwillige (eben: staatliche) Feuerwehr muss sich aber Fragen gefallen lassen wie: Welche Brandherde wurden politisch gelegt oder geduldet, welche Rauchmelder wurden staatlich entfernt, und welche politischen Rettungsmanöver könnten neue gefährliche Strohfeuer und Schwelbrände entstehen lassen? Die grundsätzliche Notwendigkeit der derzeitigen Löschaktionen mit Kreditgarantien und vorübergehenden Eigenkapitalspritzen und der unermüdliche Einsatz der staatlichen Feuerwehren verdienen Anerkennung und Respekt. Wenn es brennt, sind zuerst Opfer zu retten; Gedanken über Verursacher und Wasserschäden bleiben zunächst zweitrangig. Wenn der Rauch aber einmal verzogen ist und bevor sich ein neuer Brand entfacht, sollten sich die Politiker ernsthafte Fragen zur künftigen Prävention stellen. Das fängt mit einer Aufklärung bisheriger Flächenbrände an.

Der Brandherd der Finanzmarktkrise lag vor allem in den USA. Gerade die amerikanische Immobilien- und Kreditkrise aber hat ihre Ursachen nicht in einem Laisser-faire, sondern in interventionspolitischem, marktwidrigem Aktionismus. Konkret sind zu nennen: geldpolitischer Expansionismus, sozialpolitischer Dirigismus und rechtspolitische Einladungen zu betriebswirtschaftlicher Verantwortungslosigkeit. Tatsächlich war das Aufblähen und ist das Platzen der Immobilien- und Kreditblase, ähnlich wie bei der „New Economy Bubble“, geradezu ein Musterbeispiel für die gute alte österreichische Konjunkturtheorie von Ludwig von Mises und Friedrich A. von Hayek aus den dreißiger Jahren. Kurz gesagt: Übertriebene Geldschöpfung und verzerrte Zins- und Preissignale führen zu Überinvestitionen, die nur in schmerzhaften Krisen bereinigt werden können. Die Politik hat jeweils verheerende Anreize gegeben, auf welche „kapitalistische Gier“ mit allzu dynamischer Wucht reagierte; aber letztlich eben nur reagierte: Mithilfe finanztechnischer Innovationen wurden Kredite in Wertpapiere verwandelt, „verbrieft“ und gebündelt, um sie weltweit zu verkaufen. Die komplexe und wohl erst in Jahren empirisch im Detail analysierbare Geschichte lässt sich grob drei politischen Auslösern zurechnen: überbordende Liquidität, politisch gesteuert in bestimmte allokative Verwendungen, mit erleichterten oder ungeklärten Haftungsbedingungen.

Besonders Alan Greenspans staatliche Notenbank hat, stets zur kurzfristigen Erleichterung hochverschuldeter Regierungen und Bürger, die Märkte immer wieder mit überreicher Liquidität versorgt. Mit realen Zinssätzen oft um die null Prozent versuchte die Federal Reserve regelmäßig auf Krisen wie etwa die in Asien, die der New Economy oder des 11. September mit billigem Geld zu reagieren, um die günstige Refinanzierung einer immer mehr in staatliche wie private Überschuldung geratenen Volkswirtschaft zu erleichtern. Das reale Produktionspotenzial der amerikanischen Volkswirtschaft gab das zwar nicht her; die Verbraucherpreise schienen dennoch unter Kontrolle, weil billige Importe den Konsum preiswert hielten. Das übermäßig billige Geld, durch Kapitalimporte ungemein verstärkt, musste gemäß der Theorie der „Österreicher“ in Überinvestition fließen; aber nicht mehr so sehr in realkapitalintensive „Produktionsumwege“, sondern in die Blase einer Vermögenspreisinflation. Geldpolitische Fehler standen am Anfang; industrie- und sozialpolitische Fehler entschieden „lediglich“ darüber, wo die Krise ihre Opfer finden sollte.

Wenn billiges Geld bei künstlich nahezu abgeschafften Risikoprämien und Zinskosten nach überdurchschnittlicher Vermehrung sucht, ist sicher auch Gier im Spiel. Warum aber zeigten sich Gier und Profitstreben plötzlich so gigantisch und verhängnisvoll gerade in einem spezifischen Bereich wie Immobilien und Hypotheken? Und weshalb anfangs nur in einigen Ländern, vor allem den USA, Spanien und Großbritannien? Es ist populär zu sagen: Weil „Wall Street“ (die Banken) den Hals nicht voll genug bekommen konnte und „Main Street“ (den Bürgern und Steuerzahlern) nun die Rechnung stellt. Es ist wohl akkurater zu sagen: Weil „Capitol Hill“ (die Politik) zu sehr wollte und „Nassau Street“ (die Notenbank) zu sehr erlaubte, dass „Wall Street“ Sozialwohnungen auf „Main Street“ finanziert. Hier wurden politische Anreize und Belohnungen gesetzt, unprofitable oder besonders unsichere Segmente (Hypotheken ohne übliche Sicherheiten an Hausbesitzer ohne übliche Bonität) günstig zu bedienen.

Gefährliche politische Interventionen

Es war der vordergründig „soziale“ Wunsch der Clinton-Regierung und ihres Nachfolgers Bush, der ärmeren Bevölkerung Wohneigentum zu ermöglichen. Die größten Hypothekarinstitute, Fannie Mae und Freddie Mac, wurden genau für diesen Zweck staatlich gefördert, mit auf ein Viertel reduzierten Anforderungen an Kreditsicherheiten ausgestattet, mit lukrativen staatlichen Aufträgen und Steuerprivilegien bestückt, vom US-Kongress politisch korrekt und wohlwollend überwacht. Als staatlich gesponserte Erfüllungsgehilfen wurden sie mit einer unzweideutigen „Bail-out“-Garantie versehen. Denn Fannie und Freddie waren schließlich für beide große Parteien wesentliche Quellen für Spenden und Vorstandsposten. Das Hypothekenvolumen von Krediten ohne die üblichen Sicherheiten stieg so innerhalb von drei Jahren von acht auf 20 Prozent. Auf einem normalen Markt mit Wettbewerb und Haftung wären diese Geschäfte unterblieben.

Das (sozial-)politische Anliegen, Angebot und Nachfrage auf den Immobilienmärkten zu manipulieren, wurde durch weitere Interventionen bekräftigt: Der von Präsident Carter eingeführte und von Clinton verschärfte „Community Reinvestment Act“ (CRA) verlangt von Banken, dass sie vergünstigte Kredite bevorzugt in ihren Regionen und zugunsten der wirtschaftlich Schwachen einsetzen. Gleichzeitig sorgte die Politik dafür, dass das Angebot an Immobilien durch strenge Bebauungsvorschriften in vielen Gebieten knapp blieb. Bei politisch subventionierter Nachfrage und politisch beschränktem Angebot kann sich jeder Student im Erstsemester die Marktreaktion ausdenken.

Steigende Immobilienpreise bei geld- und sozialpolitisch verbilligten Refinanzierungskosten und gleichzeitig politisch gedecktem Risiko der Kreditgeber wurden vom Markt als Ersatz für übliche Kreditsicherheiten natürlich mit überbordender Begeisterung aufgenommen. Man stelle sich eine doppelt staatlich geförderte Lotterie vor, die sich vornähme, besonders den ärmeren Schichten günstigere Lose zu verschaffen, deshalb Unmengen subventionierter Lose drucken ließe, noch dazu den Losverkäufern versicherte, dass der Staat als Veranstalter sowohl für mögliche Verluste der Kunden als auch der Losverkäufer aufkomme. Wer würde da nicht mitspielen wollen? Erst aufgrund dieser von den Politikern verfälschten Preis- und Risikorelationen konnte, kurz und grob gesagt, eine Art Kettenbrief-Geschäftsmodell in Gang gesetzt werden, das es erlaubte, unbekannte Risiken immer weiter zu verbriefen, zu bündeln und zu verkaufen – besonders an deutsche Landesbanken, die Gier nicht als Teil ihrer hoheitlichen Aufgabe plakatieren.

Die meisten politischen Brandstifter der Vergangenheit treten heute als Brandschützer auf, ohne sich auch nur einen Teil des verbrannten Geldes als Asche auf ihr eigenes Haupt zu streuen. Stattdessen löscht man mit Feuer. Wieder soll politisch verbilligtes Geld in die noch weitgehend unbekannte nächste Blase gepustet werden. Wieder wollen Politiker mit Schulden, also den Steuergeldern künftiger Generationen, Investitionen lenken. Schon schielen einige Politiker nach protektionistischen Auswegen – um so auch noch einen schlimmen Brandbeschleuniger der Krise von 1929 zu reaktivieren.

Am selben Tag, dem 15. Oktober 2008, an dem zumindest den Medien bekannt wurde, dass sich das amerikanische Haushaltsdefizit im Vergleich zum schon alles andere als sparsamen Vorjahr beinahe verdreifachen dürfte, wurde in denselben Medien und an den Börsen gehofft und zutreffend spekuliert, die amerikanische Notenbank würde deshalb (!) die Zinsen weiter senken, auf 1,0 Prozent. Hier wird deutlich, dass elementare ökonomische Gesetzmäßigkeiten – explodierende Kreditnachfrage führt zu höheren Kapitalmarktzinsen – außer Kraft gesetzt wurden und weiter werden. Und zwar nicht vom Markt, der diese Gesetze jedem normalen Akteur blind zur Befolgung aufnötigt, sondern seitens der Verantwortlichen einer Geld- und Fiskalpolitik, die sich anmaßt, diese Gesetze der unsichtbaren Hand durch eine sichtbare Hand des politischen Willens in fast jeder Legislaturperiode aufs Neue umgehen zu können. Anders formuliert: Das Nachfragegesetz wurde und wird von einem Kartell kurzfristig denkender Angebotstheoretiker in der Notenbank, vor allem der amerikanischen, und kurzfristig denkender Nachfragetheoretiker in den Administrationen, nicht nur den amerikanischen, hoheitlich außer Kraft gesetzt – mit langfristig fatalen Folgen.

Ein funktionierender Markt, der auf unverfälschtem Ausgleich von Angebot und Nachfrage beruht, kam so doppelt unter die Räder. Und nun müssen die gleichen Politiker das selbstverschuldete Problem lösen. Ihre Aufgabe ist eine doppelte: rasch die am Rande des Kollaps stehenden Finanzmärkte (vor allem: für kurzfristige Kredite zwischen Banken) wieder aufzurichten, und dann eine unvermeidliche Marktbereinigung im Finanzsektor, aber auch im realen Sektor so zu gestalten, dass von der „kreativen Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) nicht nur Zerstörung bleibt, sondern eine langfristig wettbewerbsfähige Volkswirtschaft.

Neue Infektionsherde bilden sich bereits

Bei der ersten Aufgabe scheint die Politik, vor allem in Europa, eher richtig gehandelt zu haben. Als Maßnahme gegen die drohende Kreditklemme sind Kreditangebote der Notenbanken und Eigenkapitaleinlagen der Kämmerer zwar ordnungspolitisches „Gift“, aber als Notfallmedizin wohl notwendig, auch wenn die Frage nach der richtigen Dosierung und langfristigen Nebenwirkungen noch nicht beantwortet werden kann. Wird das süße Gift des billigen Geldes und der auf Steuerzahler abgewälzten Haftung zu lange verabreicht, dürfte dies die Krankheit eher verschleppen und es bilden sich neue Infektionsherde. Mit anderen Worten: Die Notenbanken, auch die Europäische Zentralbank, müssen auf mittlere Frist die Geldmenge wieder in den Griff bekommen; das Inflationsziel allein gibt keine Gewähr gegen die nächste Vermögenspreisblase. Die Einlagen des Staates bei privaten Banken sollten, sobald sich der Bankensektor wieder stabilisiert hat, schnell veräußert werden – ob mit Gewinn oder nicht. Politiker sollten sich jetzt um klare und allgemeine Spielregeln für den Bankensektor insgesamt kümmern, etwa um Transparenz, Eigenkapitalquoten, Produkthaftung und Insolvenzrecht, statt in den Banken unter ihrem „Rettungsschirm“ die Geschäftspolitik an sich zu reißen. Ein politisiertes Finanzsystem nach dem Modell der Kreditanstalt für Wiederaufbau oder Bayerischer wie Sächsischer Landesbank ist sicher kein Erfolgsmodell.

Deutlich mehr Brandstiftung als Rettung herrscht jedoch in der Diskussion um die zweite, konjunkturpolitische Aufgabe. Hier will die Politik wieder Investitionen lenken und den Märkten zeigen, wofür es sich zu verschulden lohnt. Solange dies nur grüne Kühlschränke oder erneuerbare Energieträger sind, dürfte der Schaden geringer ausfallen als auf den US-Immobilienmärkten. Schädlicher dürften die immer wiederkehrenden staatsmonopolkapitalistischen Pläne sein, wie sie zurzeit der französische Staatspräsident und EU-Ratsvorsitzende Nicolas Sarkozy den Europäern empfiehlt: Die staatliche Beteiligung an Schlüsselindustrien zum Schutz vor ausländischen Kapitalanlegern solle als „mächtiger Hebel der Industriepolitik“ genutzt werden. Ob sein staatlicher Investitionsfonds im internationalen Subventionswettbewerb einen so mächtigen Hebel haben wird wie bis vor kurzem noch die Derivate von Immobilienkrediten, muss sich zeigen.

Sarkozy und andere Industriepolitiker, die jetzt erneut genau diese Maßnahmen fordern, scheinen nicht verstanden zu haben, dass staatliche Investitionslenkung und billiges Geld die Auslöser der aktuellen Krise waren. Das Modell Freddie und Fanny soll nun auf alle Schlüsselindustrien erweitert werden. Was Schlüsselindustrien oder betriebe sind, wo der Fonds wie viel Geld der unfreiwillig zu Aktionären mutierten Steuerzahler investiert, bestimmt dann die Regierung. Sie ist damit Schiedsrichter, der den Wettbewerb zwischen Unternehmen überwachen soll und gleichzeitig Spieler, der Anteile am Gewinn bestimmter Unternehmen hält – und soll nebenbei noch ihre originäre Funktion des Regelgebers unparteiisch erfüllen. Wenn das der „neue Kapitalismus“ à la Sarkozy sein soll, wird man bald sehen, dass die Staats- und Regierungschefs, die als Feuerwehr ausrücken, wieder einmal als Brandstifter kamen.

Eine ordnungspolitisch vernünftige Problemlösung sollte sich langfristig orientieren an – Steinbrück leicht modifiziert – „neoliberalen Ideen“, wozu ein durch stabiles Geld, offenen Leistungswettbewerb und persönliche Haftung diszipliniertes Renditestreben gehört. Laisser-faire ohne diese Ordnungsregeln ist eine Einladung zur Ausbeutung ungefragter Dritter wie Sparer, Konsumenten und künftige Generationen. Das gilt auch und gerade für politisches Handeln.

Der Text erschien ursprünglich in der Zeitschrift “Internationale Politik”. Er wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autors und IP veröffentlicht.

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