von Klaus Vater, 20.2.17
„Die Einwanderungsfrage“… so der repetitorische Ex-Vorsitzende mehrerer Parteien Oskar Lafontaine am 6. Februar in der Tageszeitung Die Welt, sei „eine nicht geklärte Frage innerhalb der Programmatik der Linken“. Diesen Satz bekräftigte Lafontaine mit einem Hinweis auf Colin Crouch, der, so der Politiker, erklärt habe, der Ruf nach offenen Grenzen sei eine zentrale Position des Neoliberalismus. Unausgesprochen bleibt: Die „Linke“ habe mit den offenen Grenzen weniger am Hut als „die Unternehmer“, die einen freizügigen Personenverkehr befürworteten, um „in den Entwicklungsländern qualifizierte Arbeitskräfte abzuwerben und durch verstärkte Zuwanderung die Lohnkonkurrenz zu verschärfen.“ (eine gute, kritische Zusammenfassung von Jürgen Klute hier).
Wie Lafontaine die verschärfte Lohnkonkurrenz zwischen qualifizierten Menschen aus „den Entwicklungsländern“ und den bereits ansässigen Menschen in der Bundesrepublik belegen will, bleibt offen. Darum ging es ihm auch nicht und solange kein Welt– Interviewer nachfragt, darf er sich dabei die …schaukeln. Ihm geht es darum, eine Position aufzubauen, die seiner Partei hilft, den Zustimmungsstrom von links nach rechts, zur AFD zu beseitigen, beziehungsweise in ein Rinnsal zu verwandeln.
Am selben Tag hieß es in einem Debattenbeitrag zum Thema im Freitag, „das stimmt, aber … das ist ja das Problem mit den Populismen: Sie stimmen immer nur teilweise. Der Umkehrschluss wäre dann auch wohl: Wer links ist, der wendet sich gegen offene Grenzen. Was soll das werden?“
Ja, was soll daraus werden? Eine Antwort wurde am 17. Februar in der Süddeutschen Zeitung gegeben. Da lautete die Überschrift eines Kommentars des leitenden SZ-Redakteurs Nikolaus Piper zum Thema: „Das Märchen von der linken Weltoffenheit.“
In der Unterzeile ist zu lesen: „Die Forderung nach offenen Grenzen steht nicht in der linken Tradition, sondern in der liberalen. Nur wissen es die wenigsten Linken heute noch.“ Piper setzt erläuternd hinzu: Historisch sei die Forderung nach offenen Grenzen nicht nur neoliberal, „sie ist einfach liberal. Der Linken war sie sehr lange sehr fremd.“
Der schlimme Feind der Wahrheit ist nicht die Unwahrheit, sondern das ist die Scheinplausibilität. Sie ist ein spontanes Gefühl: Stimmt ja! Hab ich immer geahnt. Dieses Gefühl sitzt in Kopf und Ohr, widersetzt sich einer Klärung – wie ein Räuber der Festnahme. Der Mensch traut dem Gefühl nicht ganz, nur halb. Es wurmt freilich und windet sich. Zu packen kriegt man´s nicht. Das ist Wirkung von Scheinplausibilität, wie sie sowohl bei Lafontaine als auch bei Piper zu finden ist. Sie löscht Wahrheit nicht, sondern setzt sich dreist auf deren Platz, sie verdrängt, sie ist eine Art „Mutter“ der alternativen Fakten.
Fangen wir mit einfachen Dingen an.
Alle, buchstäblich alle Jugendorganisationen der Linken waren über Generationen hinweg anti- national. In ihren Träumen und Wünschen lebten die jungen Linken jenseits aller staatlichen Grenzen, international, brüderlich/schwesterlich und weltoffen. Die Weltoffenheit war geradezu Gründungsbedingung. Sie als „wirtschaftsliberal“ einzuordnen wäre abseitig. Ob sie diese Haltungen heute noch haben, die Jugendorganisationen, das weiß ich nicht. Die große Mehrheit wird noch so sein.
Viele Jüngere fahren durch Europa und darüber hinaus, um mal hier mal da zu arbeiten, sich anschauen, wie man jenseits der Grenzen und der Berge lebe und um festzustellen, dass dort wie daheim die Verhältnisse ähnlich waren. Das ist nicht nur gegenwärtig so, das war bereits vor Generationen so. In manchen Familien wird’s noch die Gewerkschaftsbücher der Großväter und Urgroßväter geben, irgendwo werden die in Hinterlassenschaften stecken. Nachschlagen! Nachschauen, wo die gewandert, gefahren sind, gearbeitet haben.
In vielen Familien würden sich Spuren finden lassen wie in meiner Familie. Eine Schwester meiner Großmutter hatte sich in einen jungen Kerl aus Daun in der Eifel verguckt und umgekehrt, einen großgewachsenen Burschen namens Dederichs, der als Koch auf einem Schiff um die Welt fuhr. Gezogen erlebte er in Afrika den Massenmord an Hereros, er kam als Pazifist zurück, um 1914 – kurz vor Kriegsausbruch – mit seiner Anna in die USA auszuwandern. Auf Ellis Island habe ich deren Passage gefunden. Wahrscheinlich würde dieser Bär von einem Mann Lafontaines Gerede gar nicht verstehen, sondern nur sagen: Der hat ja keine Ahnung.
Jedenfalls können die Herren Lafontaine und Piper einen beträchtlichen Teil der Sozialgeschichte aus ihren „Gedankentürmen“ streichen.
Miserabel für die beiden wird´s, wenn man sich überlegt, wer denn nach der Jahrhundertwende ab 1900 Beiträge zur Flüchtlingsfrage geleistet hat. Die gab es damals unter dem Wort Flüchtlingsfrage nicht. Man redete über Nation und Rasse und Herrschaft und darüber, dass die einen das Sagen und gegebenenfalls das Knüppeln wie das Erschießen hätten, die anderen zu gehorchen hätten und sich gegebenenfalls Löcher ins Fell brennen lassen müssten. So war die damalige Staatsräson. Wer das nicht wollte, musste sich wehren, nicht im Soldatenrock und durch Schlagbäume, sondern über die internationale Zusammenarbeit der Lohnabhängigen. Da lag der Kern der linken Programmantik.
Die spannende Frage lautet: Was ist davon übrig?
Entwickelt hatte diesen Kern linker Programmatik vor allem Rosa Luxemburg in ihren Schriften über die Nationalitätenfrage (erst 2012 vollständig in deutscher Übersetzung). Es ist die Rosa Luxemburg, die von völkischen Nationalisten, von Verbrechern, zusammen mit Karl Liebknecht ermordet worden ist und zu deren Grabmal Jahr für Jahr führende Repräsentanten der Partei die Linke gehen, um ihrer zu gedenken; darunter auch Lafontaine.
Bei Gelegenheit der Erinnerung an diese tapfere Frau sollten wir einen Blick auf den Sammelbegriff „Liberale“ werfen, die Lafontaine und Piper dabei beobachten haben wollen, wie sie Schlagbäume umwarfen. Bildlich gesprochen.
Tatsächlich war der Kreis der Liberalen, die an die Überwindung von Grenzen dachten, in der Vergangenheit relativ klein. Die meisten waren, jedenfalls zeitweise, kriegsbesoffen und national komplett zugedröhnt. In milder Form kann man das bei Herrn Bernd Höcke beobachten, wenn und nachdem der zu lange auf den Magdeburger Dom gestarrt hat. Diese Liberalen waren großenteils Antisemiten, waren für völkische Überlegenheit und für Tschingderassabumm. Ohne einen „Erbfeind“ hatten sie keinen Spaß an der Freud.
Freilich hätten die damals, vor gut 90 Jahren, einen fabelhaften Anknüpfungspunkt haben können. Aber der Anknüpfungspunkt stammte ja, leider, leider von der SPD.
Ich spreche vom 1925er Heidelberger Programm der SPD, das bis 1959 gegolten hat. Darin steht, die SPD „tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um – damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen“. Das erste Programm dieser Art überhaupt.
Nun kann man lange darüber spekulieren, ob dies Abbau der Grenzen bedeutet hätte. Wahrscheinlich ja und zwar im Laufe eines längeren Prozesses. Jedenfalls liegt auch Crouch daneben.
Wir sollten, bevor wir diesen Abschnitt der Geschichte zuklappen, noch einen Blick auf den norwegischen Hochkommissar für Flüchtlingsfragen, den Nobelpreisträger Fridjoff Nansen werfen. Der hat nach dem 1. Weltkrieg Hunderttausenden Kriegsflüchtlingen mal ohne mal mit Hilfspässen („Nansenpässe“) eine Heimkehr über Grenzen hinweg möglich gemacht. Und zwar nicht aus wirtschaftsliberalen Gründen, sondern weil das unendliche Leid der damals umher Vagabundierenden ihm keine Wahl ließ. Dafür hassten ihn manche „Liberale“, die später in Uniformen der Nazis halfen, auf ihre Weise Grenzen zu beseitigen.
Nach Ende des 2. Weltkriegs waren es Humanisten wie Tom Mutters, der spätere Gründer der Lebenshilfe, die Grenzen überwanden, Menschen Nahrung und ein Dach über dem Kopf sowie medizinische Betreuung verschafften. Wie heißt der Mann? Mutters? Nie gehört, sagen die einen. Schade. Dieser Menschenfischer war UN-Beauftrager für displaced Persons in Deutschland. Als er das Leid der geistig behinderten Kinder sah, hat er deren Besserstellung sein Leben gewidmet. Ein Neoliberaler? Ich glaube nicht.
So lässt sich ein Beleg an den anderen reihen, setzt sich ein Beispiel an das andere: Der Verzicht auf Grenzen mag viele Prä-, Neo- und meinetwegen auch Postliberale in Verzückung versetzen (versetzt haben), weil sie die ökonomischen Vorteile sahen (während für andere die ökonomischen Vorteile beim Transport der Produktionsmittel in billigere Gegenden überwogen), aber deswegen von einem Verzicht der Linken auf Weltoffenheit zu sprechen, das ist nun mal Blödsinn: Gerührt wie geschüttelt.
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