#Anonymität

Das Dogma Anonymität

von , 25.10.10

Als Günter Wallraff seine beste Zeit hatte, also in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, mussten die Gerichte häufig darüber entscheiden, ob die Enthüllung der Identität eines Arbeitgebers im öffentlichen Interesse war oder nicht. Das heißt, sie mussten darüber entscheiden, ob der von einem Geouteten beanspruchte Persönlichkeitsschutz – nach Abwägung aller Umstände – hinter dem Recht der Öffentlichkeit auf Information zurückzustehen hatte oder nicht.

Am wichtigsten war (und ist) in allen diesen Prozessen aber der Einschub: „Nach Abwägung aller Umstände“. Er bedeutet, dass die Abwägung – je nach Schwere und Bedeutung des Falls – mal so und mal so ausgehen kann. Und selbstverständlich spielt auch der Zeitgeist eine Rolle. In den 1960er und 1970er Jahren neigte sich die Waagschale der Justiz oft auf die Seite des öffentlichen Interesses, seit den 1990er Jahren tendiert sie mehr in Richtung des Persönlichkeitsschutzes (übrigens unabhängig von der Etablierung des Internets!).

Alle, die öffentlich etwas enthüllen, stehen immer vor diesem Problem der Abwägung.

Nun wird – in der Diskussion des Falles Neven duMont/Niggemeier – von einigen im Netz so getan, als gäbe es die Notwendigkeit des Abwägens im Einzelfall nicht. Diese Leute postulieren ein neues (aus dem Hut gezaubertes) Dogma. Es lautet: Anonymität muss immer gewährleistet werden. Wer anonym schreibt, kritisiert, tadelt, angreift, beleidigt, verhöhnt, verleumdet, hetzt, hat ein absolutes Recht darauf, dass seine Anonymität gewahrt bleibt. Und diejenigen, die die Identität eines Anonymus lüften (anstatt ihn selbstherrlich zu löschen), diskreditieren sich als „Verräter“ – egal, um was es geht, egal, um wen es sich handelt, egal, was vorgefallen ist. Das ist eine sehr einfache Weltsicht, und ein Rückfall in vormoderne Zeiten.

In den meisten Fällen gibt es nämlich Gründe, die sowohl für ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit als auch für den besonderen Schutz der Persönlichkeit sprechen. Was jeweils schwerer wiegt, muss in einer Demokratie immer wieder neu verhandelt werden. Auch Anonymität darf in diesem Zusammenhang kein Heiligtum sein, das kritiklos hingenommen oder angebetet werden müsste. Das Netz ist ein Teil der wirklichen Welt und bedarf keiner Sondergesetze oder gar einer Spezialethik.

Vermutlich hätte ich mich – im konkreten Einzelfall und in Anbetracht der besonderen Umstände – in Sachen Neven DuMont anders verhalten als Stefan Niggemeier. Das spricht aber gerade nicht gegen die von ihm vorgenommene Abwägung.

.

Für alle, die sich ein Bild von der Debatte machen wollen, hier finden Sie:

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.