#Digitalisierung

Copy.Right.Now! Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht

von , 13.4.10

von Jan Engelmann und Matthias Spielkamp.

Die Heinrich-Böll-Stiftung und iRights.info präsentieren einen Reader zum Thema, mit Texten von Lawrence Lessig, Cory Doctorow, Till Kreutzer, Ilja Braun und anderen. Der Reader steht ab sofort als PDF zur Verfügung (1,3 MB), ab dem 15. April liegt er auch gedruckt vor und kann kostenlos bestellt werden (Informationen am Ende). Der folgende Text ist die Einleitung von Jan Engelmann (Heinrch-Böll-Stiftung) und Matthias Spielkamp (iRights.info).

Das geltende Urheberrechtsregime reibt sich zunehmend an der digitalen Alltagswirklichkeit. Während es ursprünglich als ein auf den „genialen” Schöpfer zugeschnittenes Schutzrecht gegen Missbrauch konzipiert war, verstoßen wir, ob gewollt oder unbeabsichtigt, täglich gegen bestehendes Recht. Verlustfreies Kopieren gilt den einen als Zugewinn an Freiheit, den anderen als Einschränkung von künstlerischer Verfügungsgewalt und drohender Einnahmenverlust. Ein Ende der „Copyright Wars“ erfordert ein politisches und rechtstheoretisches Neudenken.

Lost in La Mancha

Knapp 400 Jahre, bevor ein mexikanischer Schwanzlurch den deutschen Literaturbetrieb in Wallung brachte, ritt ein verarmter Landadliger durch die kastilische Hochebene. Sein Schöpfer, der gerichtsnotorische Miguel de Cervantes, präsentiert ihn als verirrte Seele, dem die exzessive Lektüre von Ritterromanen den Verstand vernebelt hat. Mit unseren heutigen Begriffen würden wir Don Quijote wohl als Opfer des hohen Datenaufkommens oder einen Geschädigten von virtuellen Rollenspielen ansehen.

Nicht nur seine literarische Figur, auch Cervantes selbst hatte die Konsequenzen seiner Einbildungskraft zu tragen: Kurz nach Erscheinen des ersten Teils des Romans El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605) folgten etliche Raubdrucke. Das war damals nichts Ungewöhnliches, da Verlage noch nicht als Rechteinhaber im heutigen Sinne in die Verwertungskette eingriffen und die Drucker ihr technologisches Monopol weidlich auszunutzen verstanden. Der kommerzielle Erfolg des Don Quijote rief allerdings auch andere Trittbrettfahrer auf den Plan: Eine apokryphe Fortsetzung durch einen gewissen Alonso Fernández de Avellaneda, die 1614 in Umlauf kam, beschleunigte die Fertigstellung des zweiten Bandes (1615) durch Cervantes selbst. Wie der Plagiierte darin auf seinen Plagiator reagiert, sagt viel darüber aus, wie das System der literarischen Öffentlichkeit vor der Epoche des Urheberrechts funktionierte.

In seinem Prolog an den Leser versichert Cervantes, keinerlei „Scheltworte, Zank und Schmähen” gegen den Verfasser der ungenehmigten Fortsetzung gebrauchen zu wollen. Im Übrigen wisse er recht gut, „was die Versuchungen des Teufels sind, und dass eine der größten die ist, es einem Menschen in den Kopf zu setzen, er könne ein Buch schreiben und drucken lassen, mit welchem er ebensoviel Ruhm als Geld und ebensoviel Geld als Ruhm gewönne”. Zugleich versieht er seinen Text mit einer Art Echtheitszertifikat und bekräftigt, „dass dieser zweite Teil des Don Quixote, den ich dir jetzt übergebe, von dem nämlichen Künstler und aus dem nämlichen Zeuge wie der erste gearbeitet sei und ich dir hiermit den Don Quixote übergebe, vermehrt und endlich tot und begraben, damit keiner es über sich nehme, neue Zeugnisse seinetwegen herbeizubringen”.

Im Verlaufe der Romanhandlung begegnet Don Quijote zahlreichen Figuren, die von sich behaupten, sowohl Cervantes’ ersten Teil als auch Avellanedas Rip-off schon gelesen zu haben, und nun dem Protagonisten der „legitimen” Fortsetzung seine Authentizität attestieren. Nicht selten geschieht dies unter hämischen Querverweisen auf das Plagiat, und Cervantes nutzt jede Gelegenheit, dem Nachahmer dessen vermeintlich schlechtere Lösungen bei der Entfaltung des Plots unter die Nase zu reiben. Dadurch verlängert sich das in der Romanhandlung angelegte Vexierspiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion bis ins Unendliche. Im 62. Kapitel wird der Ritter von der traurigen Gestalt in einer Druckerei in Barcelona sogar Zeuge, wie das Buch Avellanedas korrigiert wird. Ein in der Literaturgeschichte wohl einmaliges Hase-und-Igel-Rennen gerät zum ironischen Kommentar über Autorschaft im Manuskript-Zeitalter.

Cervantes führt mit seinem Don Quijote vor, wie im 17. Jahrhundert das einstmals lockere Verhältnis zu Varianten und Umarbeitungen von Stoffen allmählich einem robusteren Verständnis von Autorschaft und damit einhergehenden Ansprüchen (auf finanzielles und symbolisches Kapital) zu weichen beginnt. Und gerade weil dem Urheber Cervantes für die Absicherung seiner Werkherrschaft keine anderen Sanktionen zur Verfügung stehen, wertet er den literarischen Diebstahl zum auktorialen Spiel mit intertextuellen Verweisen um. Aus der vermeintlichen Schwäche des Systems wird so eine Stärke der Kunst: Cervantes verfasst in souveräner Manier eine Art literarische Unterlassungsklage, und die selbstreferenzielle Verhandlung seines eigenen Falls macht den Don Quijote zum ersten Gründungstext der literarischen Moderne.

Lost Souls

Die Vorstellung von geistigem Eigentum, die untrennbar an die Genieästhetik der Goethe-Zeit geknüpft ist, hat Konkurrenzen wie jene zwischen Cervantes und Avellaneda zur Regel gemacht. Heute sind Urheberrechtsverletzungen schlicht justiziabel. Literarischer Diebstahl ist kein Kavaliersdelikt mehr, das von der literarischen Öffentlichkeit als Gesellschaftsspiel goutiert würde, sondern beschäftigt Autoren, Erbengemeinschaften und Anwaltskanzleien. Dabei hat die jedem Internetbenutzer gegebene Möglichkeit zum „Cut & Paste” die Hemmschwellen zum Verbreiten und Umarbeiten fremder Werke enorm gesenkt. Den Kulturwissenschaftler Philipp Theisohn „verwundert es nicht, dass das Netz aus Sicht der buchgestützten Literaturproduktion vorwiegend als ein plagiarischer Raum wahrgenommen wird, als eine Sphäre, in welcher der Autor als die Person, zu welcher er sich seit der Erfindung des Buchdrucks allmählich entwickelt hatte, systematisch entrechtet, enteignet, aufgelöst wird”.

Wie Jeannette Hofmann in ihrem Beitrag hervorhebt, ist die Logik des urheberrechtlichen Weltbildes eng an einen dogmatischen Diskurs geknüpft. Dies mache es schwierig, die technologischen Möglichkeiten der digitalen Ära mit der engen Schöpfer-Werk-Beziehung aus dem 18. Jahrhundert zur Deckung zu bringen. Dieser unaufgelöste Widerspruch von tradierten Denk- und Rechtsfiguren und der x-fachen Verstöße gegen ebendiese, erfordere die Abkehr von klassischen Kategorien und die Hinwendung zu neuen.

Für die (zumeist jüngeren) Protagonisten einer offenen Netzkultur hat sich mit dem Web 2.0 eine Utopie realisiert – der schnelle Austausch von Daten und Informationen weitgehend ohne Teilnahmebarrieren und mit selbst definierten Freiheiten. In dieser Perspektive ist das Beharren auf eine singuläre Urheberschaft, aus der sich bestimmte Verfügungsrechte ableiten, tendenziell unzeitgemäß, weil es an den Realitäten sozialer Austauschprozesse im Internet vorbeigeht. Selbst ein Bestsellerautor wie Jonathan Lethem kritisiert die Haltung vieler Schriftstellerkollegen, die das Copyright „als ihr Geburtsrecht und Bollwerk, als den Nährboden für ihre unendlich fragilen Praktiken in einer raubgierigen Welt ansehen”.

Verschiedentlich ist schon als Kulturkampf bezeichnet worden, was sich gegenwärtig zwischen den Verfechtern des geltenden Urheberrechtsregimes sowie den Befürwortern von dessen Abschaffung, zumindest Reformierung, abspielt. Wie unsicher die Bewertungsmaßstäbe innerhalb der medienhistorischen Übergangsphase des 21. Jahrhunderts immer noch sind, zeigte nicht zuletzt die Meta-Debatte um Helene Hegemanns Axolotl Roadkill. Zwar konnte Hegemann, zum Zeitpunkt der Abfassung bzw. Kompilation des Textes erst 17 Jahre alt, einen gewissen Welpenschutz für sich beanspruchen, weil sie als digital native „geistiges Eigentum” im Grunde als kontrafaktische Bestimmung jenseits ihrer Lebenswirklichkeit ansah. Aber die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der sie dem Plagiatsvorwurf zunächst begegnete, wirkte wie Schmieröl für die Mechanik der eingespielten Skandal-Ökonomie.

Als ihre nicht ausgewiesene Einlagerung von fremden Textpartikeln in Axolotl Roadkill aufflog, kam es zu einer bemerkenswerten Arbeitsteilung zwischen Verlag und Autorin. Während Ullstein sich sofort um die nachträgliche Einholung von Abdruckgenehmigungen bemühte, beharrte Hegemann in einem inzwischen schon legendären Statement auf der „Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess”. Zwar gestand sie ein, sich aus fremden Quellen (u. a. Blogs) bedient zu haben, rechtfertigte das Text-Sampling aber als adäquate ästhetische Verfahrensweise: „Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit.” Wo kein Original, da kein Plagiat – auf der Basis dieser Gleichung stritt das gesamte deutsche Feuilleton im Frühjahr 2010 über die Legitimität klassisch moderner Verfahren (Pastiche, Collage, Montage) im Kontext digitaler Medien – ohne sich auf ein abschließendes Urteil verständigen zu können. Als gar eine Ehrung Hegemanns mit dem Leipziger Buchpreis möglich erschien, sah sich der Verband Deutscher Schriftsteller zur „Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums” genötigt, in der er unmissverständlich klar stellte: „Missachtung, Aushöhlung und sträfliche Verletzung des Urheberrechts führt zur Entwertung, Aufgabe und schließlich zum Verlust jedweder eigenständigen intellektuellen und künstlerischen Leistung.”

Dass eine solche Bekräftigung des rechtlichen Status quo überhaupt nötigt ist, verstärkt den Eindruck, dass knapp vier Jahrzehnte nach Roland Barthes’ philosophischem Todesstoß für den Autor auch das Urheberpersönlichkeitsrecht („Droit d’Auteur”) nur noch eine Art untotes Dasein fristet. Zentrale urheberrechtliche Begriffe wie „Schöpfungshöhe” bedürfen der ständigen juristischen Neuauslegung, Plagiatsverdachtsmomente bei besonders gut laufenden Buchtiteln sind schon fast die Regel. Doch zu sagen, dass der Kaiser nackt ist, bleibt allein einem Teenager vorbehalten, dessen mangelndes Rechtsbewusstsein mit zum Teil sehr originellen Metaphern kompensiert wird. So wirkt die pikareske Helene Hegemann, die sich laut eigener Aussage als „Untermieter im eigenen Kopf” fühlt, fast wie eine postheroische Wiedergängerin des Don Quijote.

Lost in Music

Der Kaiser besaß einstmals einen Thron. Von dort ordnete er die Verhältnisse, nach denen Künstler ihre Werke in die Öffentlichkeit trugen. Tonfolgen, akustisch gespeichert und auf physische Trägermedien gepresst, bilden das jahrzehntelang gültige Geschäftsmodell der Musikindustrie. Ein eigenes Schutzrecht für Studioaufnahmen verbietet deren unerlaubte Verwertung durch Dritte, erfolgreiche Chartbreaker sorgen für die Quersubventionierung hoffnungsvoller Nachwuchskünstler, Einnahmeausfälle durch Privatkopien werden durch zusätzliche Abgaben auf Leermedien und Geräte ausgeglichen.

Heute ist es der König Kunde, der eine neue Sitzverteilung fordert. Das Kompressionsformat MP3, in den achtziger Jahren durch das Fraunhofer Institut entwickelt, hat einen Siegeszug trägerloser Musik begründet, der das eingespielte System von kanalisiertem Angebot und Nachfrage komplett ins Wanken gebracht hat. Seitdem Musikdateien über Peer-to-Peer-Filesharing (und oft ohne Genehmigung der Rechteinhaber) getauscht werden können, verzeichnen Plattenfirmen herbe Umsatzrückgänge. Die rapide Verbreitung von Musik via Tauschbörsen und Upload-Plattformen zeigt in aller Unerbittlichkeit auf, dass technologischer Wandel immer auch die „kreative Zerstörung” existenter Märkte nach sich zieht. Mit restriktiven Maßnahmen wie Digital Rights Management, wodurch gekaufte CDs auf den heimischen Computern nicht mehr liefen, verprellte die Musikindustrie noch die letzten gutwilligen Kunden. Eine ganze Branche leidet seitdem unter Liebesentzug und wartet auf den weißen Ritter.

Der Musikmanager Tim Renner vergleicht die gegenwärtige Situation mit jener zwischen den Weltkriegen, als das aufkommende Radio von den großen Medienkonzernen als gefährliche Konkurrenz angesehen wurde. Angesichts der Digitalisierung musikalischer Inhalte, so Renner in seinem Beitrag, stellen sich heute eigentlich ganz ähnliche Herausforderungen: Nur ein politisch forcierter Kontrahierungszwang zwischen Urheber- und Leistungsschutzrechtinhabern auf der einen Seite sowie Technologieunternehmen und Anbietern von Internetanschlüssen auf der anderen könne beim Marktversagen in der Musikbranche Abhilfe schaffen.

Die Zeichen der Zeit weisen gegenwärtig jedoch nicht in die Richtung einer Entwicklung innovativer Marktmodelle. Schon eher ist eine Erhöhung des strafrechtlichen Drucks gegenüber illegalen Nutzungsformen zu beobachten. Das französische Modell der „Three-Strikes-Out”, das nach zweimaliger Abmahnung eine Kappung des Internetanschlusses vorsieht, wird auch anderen Ländern zur Nachahmung empfohlen. In Deutschland, wo das Bundesverfassungsgericht im März 2010 die bisherige Praxis der Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärte, zeichnet sich noch keine konsistente Linie bei der Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen ab. Unklar bleibt insbesondere die europäische Haltung beim internationalen Anti-Piraterie-Abkommen ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement), das das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Einkommen (TRIPS) ergänzen und bis Ende des Jahres beschlussfähig sein soll. Beobachter kritisieren seit langem die Intransparenz der laufenden Verhandlungsrunden, nur wenig Konkretes sickert an die Öffentlichkeit. Für den vorliegenden Reader hat Monika Emert sich die Mühe gemacht, den wohl richtungweisenden Netzregulierungs-Pakt der führenden Industrienationen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Während es den Content-Industrien in den letzten Jahren vor allem um die Wahrung ihrer abgeleiteten Rechte an Werken ging, taten sich viele Künstler immer stärker durch einen experimentellen Umgang mit dem Urheberrecht hervor. Angelehnt an die Zitatkultur im Hip-Hop, stellten musikalische Hybridbildungen von z. B. DJ Danger Mouse (Grey Album) oder Girl Talk (Night Ripper) sowie unzählige illegale Mashups auf den lokalen Dancefloors und globalen Plattformen wie YouTube eindrucksvoll die Formenvielfalt der Popkultur heraus. Über den ästhetischen Ansatz, das musikalische Archiv für kreative Neuschöpfungen zu gebrauchen, wurde seitdem immer wieder, auch vor Gericht, gestritten. Schnell rückte die Frage, inwieweit die juristischen „Copyright Wars” nicht auch die künstlerische Evolution behindern, in den Fokus der Debatten.

Der Dirigent und Konzeptmusiker Christian von Borries hält die Unterscheidung zwischen Original und Bearbeitung in der Musik für obsolet. Er bedient sich einer speziellen Software, die fremde Kompositionen in Partituren rückübersetzt und als Weiterbearbeitung aufführbar macht. So wurden in der documenta-Arbeit Auf einmal & gleichzeitig. Eine Machbarkeitsstudie unter anderem Versatzstücke von Prokofjew, Schostakowitsch, Pierre Boulez, John Adams und Kanye West verwurstet. Dieses musikalische Gangstertum, so Borries, sei als legitime Form der Aneignung tief in der Musikgeschichte verankert. Auch die Künstlerin Cornelia Sollfrank plädiert in ihrem Beitrag für einen „Diskurs der künstlerischen Störung von Originalitäts- und Autorschaftskonzepten”. Was das konkret bedeutet, stellte Sollfrank in dem Ausstellungsprojekt „Legal Perspectives” unter Beweis. Dort münzte sie den juristischen Eiertanz um eine digitale Warhol-Appropriation einfach in einen Kommentar zur Urheberrechtsdebatte um.

Lost in translation

Jeff Bezos, der mit seinem Amazon-Buchladen nicht nur den klassischen Buchhandel an die Wand drückt und selbst großen Verlagen seine Bedingungen diktieren kann, gibt sich abgezockt und vorausschauend. Auf lange Sicht, sagte er dem Wall Street Journal, werden Bücher auf elektronischen Geräten gelesen werden. Physische Bücher verschwänden nicht, so wie Pferde nicht verschwunden seien nach der Erfindung des Automobils. Aber es gebe keinen Bestandsschutz für Technologien. Auf den Einwand, dass viele Leser aber doch an den taktilen, den fassbaren Eigenschaften ihrer Bücher hingen, entgegnete Bezos: „Ich bin mir sicher, Menschen lieben auch ihre Pferde. Aber sie werden nicht auf ihrem Pferd zur Arbeit reiten, nur weil sie ihr Pferd lieben. Es ist unsere Aufgabe, etwas Besseres zu entwickeln als ein physisches Buch.”

Doch über eine Eigenschaft dieses „Besseren” spricht Bezos ungern, und mit ihm viele Unternehmer, die mit digitalen Inhalten Geld verdienen: den Wandel vom Eigentum zur Lizenzierung. Wer sich ein elektronisches Buch auf den Kindle lädt, der „kauft” nur noch in Anführungszeichen. Denn an einem „unkörperlichen Werkstück”, wie so ein E-Book, ein MP3, ein Film aus der Online-Videothek in schillernder Juristenprosa heißt, erwirbt der Nutzer kein Eigentum. Sondern er erwirbt den Zugang zu einem Werkstück durch eine Lizenz, die ihm die Nutzung des Werks ermöglicht. Das mussten einige Besitzer des Kindle-Lesegeräts im Juli 2009 schmerzlich erfahren, als von einer Sekunde zur nächsten ausgerechnet George Orwells 1984 von ihren Kindles verschwand. Amazon hatte sie gelöscht, wozu die Firma in der Lage war, weil sie niemals die Kontrolle über die Geräte aufgibt, für die Kunden 250 Euro und mehr auf den Tisch legen.

Amazon ist kein Einzelfall, worauf auch Cory Doctorow, erfolgreicher Science-Fiction-Autor und Kämpfer gegen jede Art von Nutzer-Knebelung, in diesem Reader hinweist. Apples iTunes Music Store, inzwischen nicht mehr nur von der Musikbranche, sondern auch von der Filmwirtschaft und nun sogar von den Presseverlagen geradezu als Heilsbringer verehrte Online-One-Stop-Shop, in dem alles gekauft werden kann, was sich nicht anfassen lässt, ist vom gleichen Schlag. Dass seine Geschäftsbedingungen gegen deutsches Recht verstoßen, ist so gut wie sicher, doch der Prozess, den die Verbraucherzentralen in Deutschland gegen Apple führen, dauert Jahre, kostet einen Haufen Geld und Ressourcen. Wenn er abgeschlossen sein wird, warten die Bedingungen einiger Tausend anderer Angebote, von Social Networks bis zu E-Mail-Providern. Den Augiasstall auszumisten, muss im Vergleich dazu ein Traumjob sein.

Lost and found

Die Politik hält mit diesen Veränderungen des Marktes und der Geschäftsmodelle nicht Schritt. Doch ist der Grund dafür nicht die natürliche Verlangsamung im demokratischen Prozedere, bei der der Gesetzgeber der technischen Entwicklung hinterherhinkt. Die sogenannte „kooperative Gesetzgebung”, mit der das Bundesjustizministerium versprochen hatte, die Interessenvertreter der Urheber, der Verbraucher und der Wirtschaft direkt in den Gesetzesvorbereitungsprozess einzubinden, stellt sich nach beinahe zehn Jahren dar als die Möglichkeit, den Wünschen der Verwertungsindustrie noch mehr Gewicht zu geben. Die Interessen der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und der Urheber selbst wurden diesen wiederholt untergeordnet.

Ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage, das nach dem Willen der schwarz- gelben Koalition in dieser Legislaturperiode kommen soll, ohne dass vorher auch nur evaluiert worden wäre, (a) welches Problem es lösen soll, (b) ob es dieses Problem lösen kann und (c) zu welchen Kosten für die Allgemeinheit es das tun würde, ist nur das jüngste in einer Reihe von Beispielen. Ilja Braun wundert sich in seinem Beitrag zum Leistungsschutzrecht über die Chuzpe, mit welcher der „Content-Klau” von Web-Portalen und News-Aggregatoren angeprangert wird.

Robin Meyer-Lucht verortet die Diskussion um das Leistungsschutzrecht im Kontext einer Rollenkrise des klassischen Journalismus. Dieser habe den Paradigmenwechsel durch die neuen Player im Web 2.0 im Grunde immer noch nicht richtig verstanden.

Wenn die gemeinsame Wertschöpfung im Internet (etwa auf Wikipedia, in Social Networks oder auf Blogs) ein wichtiger Indikator dafür ist, dass wir uns mit Hilfe der Technik dem Ideal einer offeneren Kultur anzunähern beginnen, dann ist es zweifelsohne notwendig, für die Zukunft rechtliche Vereinbarungen und zentrale Regularien zu entwickeln. Die Lösung, da ist sich der amerikanische Verfassungsrechtler und Harvard-Professor Lawrence Lessig in seinem Beitrag sicher, könne jedoch nicht darin bestehen, die juristische Komplexität bei den geistigen Eigentumsrechten zu erhöhen. Anhand der Lizenzierungsproblematik bei Dokumentarfilmen und der Google-Buchsuche zeigt er anschaulich, wie etwa die Verlängerung von Schutzfristen und die Erschwernis von öffentlicher Nutzung in letzter Konsequenz zu einer Verarmung unseres kulturellen Erbes führen können. Zumindest eine Antwort auf die verwerterzentrierte Haltung der Politik kann sein, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, wie es beispielsweise Urheber mit den von Lessig mitentwickelten Creative-Commons-Lizenzen tun können. Die attraktiven Wahlmöglichkeiten für die Urheber im Umgang mit ihren eigenen Werken durch den Lizenzbaukasten Creative Commons beschreibt John Hendrik Weitzmann.

Doch so wichtig diese Ansätze einer Selbstorganisation sind, so wenig werden sie tiefer liegende Probleme lösen, wie die fundamentalen Veränderungen im Verhältnis von Verwertern auf der einen, Urhebern und Verbrauchern auf der anderen Seite. Dass man darum beim Urheberrecht einen viel stärkeren Fokus auf den Nutzerschutz legen müsste, begründet der Rechtswissenschaftler Gerd Hansen in seinem Beitrag.

Und Till Kreutzer, Mitbegründer von iRights.info, schlägt weitreichende Regelungsalternativen vor, mit denen sich der gordische Knoten durchschlagen ließe, in dem vor allem die gegensätzlichen Interessen der Urheber und Verwerter verwickelt sind.

Ilja Braun blickt demgegenüber auf die Empirie der bisherigen Reformbemühungen und problematisiert angesichts der herrschenden Vergütungsregeln die mangelnde Verhandlungsmacht der Urheber.

Nicht zuletzt wird die Idee einer Kulturflatrate – eine Pauschalvergütung digitaler Nutzungsformen – derzeit intensiv wie nie diskutiert. Wie die grüne Europaabgeordnete Helga Trüpel und (gemeinsam mit Simon Edwin Dittrich) Malte Spitz, Mitglied im grünen Bundesvorstand, in ihren jeweiligen Beiträgen darlegen, wäre ihr womöglich zuzutrauen, einen Ausweg aus dem Dilemma zu bieten, das unweigerlich entsteht, wenn künstlerische Werke und kulturindustrielle Produkte verlust- und nahezu kostenfrei vervielfältigt werden können. Bei allen noch offenen Fragen der Ausgestaltung einer solchen Kulturflatrate: Eine zusätzliche Abgabe auf Breitbandabschlüsse hätte zumindest den Charme, Internetnutzer zu entkriminalisieren, die Justiz von Tausenden Bagatelldelikten zu entlasten sowie eine kompensatorische Vergütung der Urheber zu ermöglichen.

Wem diese Vorschläge zu radikal erscheinen, sei daran erinnert, dass eine Rechtsordnung immer auf der Anerkennung durch jene beruhen muss, deren Leben sie regulieren will. Schon jetzt verweigern Millionen von Menschen – Tauschbörsennutzer, Software-Kopierer, Mashup-Artisten – der geltenden Rechtsordnung ihre Zustimmung. Zehntausende haben das bei der letzten Wahl zum Ausdruck gebracht, indem sie ihr Kreuz bei einer Partei machten, die auf das Orange des revolutionären Aufbruchs setzte. Ob die Lösungen, die die Piratenpartei vorschlägt, den Interessen der beteiligten Stakeholder gerecht werden, ist mindestens umstritten. Der „Pirat” Jens Seipenbusch und der grüne Netzpolitiker Jan Philipp Albrecht erörtern in diesem Band ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen.

Alles auf Anfang: Der mexikanische Schwanzlurch Axolotl verfügt, so erklärt es die Online-Enzyklopädie Wikipedia, über eine erstaunliche Fähigkeit: Er kann Gliedmaßen, Organe und sogar Teile des Gehirns und Herzens vollständig regenerieren. Vielleicht sollten sich die Theoretiker und Praktiker des Urheberrechts gerade an ihm ein Beispiel nehmen.

Der Reader Copy.Right.Now! – Plädoyers für ein zukunftstaugliches Urheberrecht, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit iRights.info, liegt als PDF (1,3 MB) vor und kann in der gedruckten Fassung kostenlos bestellt werden bei der

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