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Christus auf Facebook

von , 11.12.09

Die Geschichte der modernen Christenheit beginnt gemäß des Neuen Testament (Lukas 2) mit Datenerfassung: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war.“ Sinn einer jeden Volkszählung ist die Überführung von Menschen in Zahlen. Das Individuum wird eine Nummer. Diese Nummern dienen dann der Kontrolle und Planung. Die Römer hatten damals wohl nur Wehrerfassung und Steuern im Blick.

Für die monotheistischen Juden war es dennoch ein Alptraum. Sie dürfen gemäß der Tora nur einem Gott anbeten, Augustus bezeichnete sich aber als „Gottkaiser“. Ihm galten die Steuern und ihm diente man im Heer – ein Sakrileg.

Orthodoxe Juden weigerten sich deshalb im großen Rahmen eine Zahl in der römischen Statistik zu werden. Angeführt von Judas von Galiäa kam es zu zahlreichen, lokalen Aufständen von Volkszählungsgegnern. Die Römer fassten und kreuzigten die Söhne des Anführers. Aber auch diese Form der skrupellosen Abschreckung schuf keine Ruhe. Der Terror der jüdischen Fundamentalisten gegen die Besatzer begleitet Christus durch das gesamte Neue Testament. Nach seinem Tod gipfelt er in den Jüdischen Kriegen, die schließlich zur Zerstörung des Tempels von Jerusalem und der Flucht vieler Juden vor allen Dingen in den nördlichen Mittelmeer Raum führten. Unter ihnen waren auch Jünger Jesu und einige, spätere Apostel. Sie verbreiteten von nun an die neue Religion in Europa flächendeckend.

Absurderweise führt das, was durch Transparenz zur Kontrolle beitragen soll, meist zum glatten Gegenteil, entpuppt sich Datenerfassung oft als Auftakt wahrer Anarchie. Auch ohne religiösen Hintergrund möchte niemand auf reine Zahlen reduziert werden. In Deutschland wurde die letzte Volkszählung 1987 deshalb von einer ungeheuren Protestwelle begleitet. Sie war so heftig, dass man sich seit 22 Jahren um eine Wiederholung herum gedrückt hat. Damit liegen wir, was die Aktualität unserer Daten angeht, ungefähr gleichauf mit Ländern wie Angola und Afghanistan. Ob die Daten, die damals gesammelt wurden, überhaupt stimmen, ist noch eine ganz andere Frage. Ich habe behauptet, zwanzig Jahre älter und eine Frau zu sein, einen Universitätsabschluss zu haben, täglich 210 Kilometer zu meinem Arbeitsplatz zurückzulegen und dort 560 Mark im Monat zu verdienen. Ziviler Ungehorsam nannte man das damals und man glaubte so den „gläsernen Bürger“ zu verhindern.

Die Kinder der Volkszählungsgegner stellen heutzutage ihre Daten hingegen ganz freiwillig ins Netz. Bei StudiVZ und Facebook lassen sich Lebenslauf, Bildung, Religion, politisches Bekenntnis und selbst sexuelle Vorlieben ohne Problem ablesen. Wer wahrgenommen werden will, kann seine Persönlichkeit halt nicht verstecken. Individualität und eine gewisse Form von persönlicher Relevanz sind längst gesellschaftlicher Mainstream im Internet-Zeitalter.  Mittlerweile machen deshalb auch wir Väter und Mütter mit. Man trägt mit seinen Daten zu einer Gemeinschaft bei und funktioniert im popkulturellen Sinne. Ein jeder ist nun Star, sei es für fünfzehn Minuten, sei es für einen Klick, sei es nur im eigenen Freundeskreis.

Der aus schlechten Erfahrungen mit totalitären Systemen entstandene Irrtum ist, dass dadurch für den Einzelnen eine große Gefahr ausgeht. Je konkreter öffentliches Wissen über ihn besteht, desto verwundbarer durch einen nicht wohlmeinenden Staat wird er, so die weit verbreitete Meinung. In den USA gibt es deshalb nicht einmal ein Meldewesen. Wir Deutschen sollten es besser wissen. Es sind nicht die konkreten Daten, die man zudem auch ganz analog mit willfähigen Helfern wie Stasi und Gestapo heben kann, sondern die abstrakten, von denen die wahre Gefahr ausgeht. Im Kleinen sind es die 10% die bei Opel entlassen werden sollen, die besser klingen als eine Liste mit 3100 Namen und den dazugehörigen Schicksalen, im Großen ist es das Lager, indem den Insassen die Identität abgenommen und eine Nummer unter die Haut tätowiert oder um den Hals gehängt wurde. Grausamkeiten, egal welchen Grades, werden umso leichter in Kauf genommen desto anonymisierter und somit abstrakter die von ihnen Betroffenen bleiben.

Es ist traurig, aber Individualschicksale berühren uns Menschen mehr. Wir können uns mit einzelnen und ihrem Lebensweg abgleichen, was bei anonymen Massen schlichtweg unmöglich ist. Es ist ein langer Weg von der Weihnachtsgeschichte bis zu dieser Feststellung. Doch es besteht ein Zusammenhang. Foren können heute den Stummen eine Stimme geben und Communities Schicksalen ein Gesicht. Die technischen Mittel sind in den letzten 2000 Jahren bedeutend besser geworden, die Moral bleibt die gleiche: Wer verstanden werden will, muss erklären wer er ist. Egal ob in der Bibel oder im Netz. Man muss sich ja nicht immer gleich als Heiland oder Gottes Sohn bezeichnen, um zu versuchen, der Welt ein bisschen mehr Inhalt und Sinn  zu geben.

Tim Renner hat diesen Text für sein Blog auf Motor.de und Carta geschrieben.

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