#Angela Merkel

Nach der Wahl: Die Kohl-Situation

von , 29.9.09

Gespenstisch am aktuellen Zurück in die Achtziger – ein Zurück noch in die Zeit vor dem ‘Zuvor’ – ist nicht zuletzt, dass auch in den tausend Wahlanalysen und -prognosen am Tag nach der Wahl dies noch niemand im nötigen Maß heraus gestellt hat. Wie lange dauert es heute eigentlich, bis eine so offensichtliche Parallele auffällt? Und wie lange wird es dauern, bis man sie endlich als strategische Interpretationshilfe ernst nehmen wird?

Ganz offenkundig haben wir es jetzt doch wieder mit dem zu tun, womit unsereins mindestens gefühlte dreißig Jahre lang aufgewachsen ist, von den 1970ern bis in die Neunziger: Es gibt eine “bürgerliche Regierung” und mehr oder weniger der Rest der Republik ist – zumindest potentiell – die “linke Opposition”, erst gegen Schmidt plus FDP, was die Friedensbewegung und die Grünen hervorbrachte – und dann gegen Kohl plus FDP.

Und eigentlich leben doch auch alle noch, die das alles miterlebt haben. Noch aber scheint sich einfach keiner eingestehen zu wollen, dass wir nun tatsächlich wieder in genau derselben Lage sind. Es wird nun alles einfach wieder genau so sein: Es wird bei jedem Vorhaben der Regierung – Lastensenkung oben, Lastenerhöhung unten, AKWs, Deregulierung, Sicherheitsgesetze – darauf ankommen, wie viel Widerstand sich im und außerhalb des Parlaments dagegen mobilisieren lässt. Und das hat – ganz genau so wie ‘damals’ – natürlich sein Gutes und sein Schlechtes.

Dass der Widerstand punktuell groß genug ist, wird nun wieder wahrscheinlicher. Ebenso wird aber auch wieder um vieles wahrscheinlicher, dass nun jede Woche ein neues entsprechendes Vorhaben auf dem Tisch liegen, und man mit dem ganzen Aufregen, Mobilisieren und Protestieren gar nicht mehr nachkommen wird. Und am Ende wird die Opposition (SPD, Grüne, Linke, Piraten, außerparlamentarische Bewegungen, Bündnisse und Netzwerke) dann womöglich auch wieder genau so erschöpft, zerstritten und zermürbt sein wie am Ende der Ära Kohl. Beziehungsweise: Am Ende werden die Oppositionsparteien wie Rot-Grün 1998 wieder nur noch um jeden Preis an die Macht kommen wollen, obwohl sie längst kein vernünftiges Projekt und keine gemeinsamen Ziele und Visionen mehr haben.

Was am Wahlabend und seither in den Medien, von der Presse und den Protagonisten angeführt wird, um diese Prognose zu entkräften, ist äußerst dürftig. Zum Einen: dass es doch nun in zahllosen Bundesländern schon Schwarz-Gelb gäbe, und dort ja schließlich auch keine thatcher-artigen Zustände herrschten. Und zum Zweiten: Angela Merkel.

Punkt 1 besagt natürlich nichts, weil Länderparlamente nun einmal gar nicht die Macht und die Gesetzesbefugnisse besitzen, um entsprechende Zustände herbei zu führen. Punkt 2 dagegen bedarf immerhin einer etwas ausgiebigeren Betrachtung.

Sehr aufschlussreich war hier die Elefantenrunde am Wahlabend. Zum ersten Mal seit Monaten schaute man sich das vertraute Personal ja plötzlich wieder einmal genauer an. Programmatisch waren sie alle zwar im Grunde nochmals profilloser als im Wahlkampf und den Jahren zuvor – obwohl das ja eigentlich gar nicht mehr zu gehen schien. Die Wahlergebnisse aber hatten den Personen nun endlich mal wieder recht klar unterscheidbare, antagonistische Funktionen und Rollen zugewiesen. Und so waren dann wenigstens temperament-technisch sozusagen endlich auch mal wieder ein paar Konturen zu erkennen. Außerdem lässt sich vor dieser Runde (nicht zuletzt aus Zeitgründen) hinsichtlich Sprachregelungen und Auftreten parteiintern so wenig abstimmen wie wohl niemals sonst im ganzen Politikgeschäft – was schon zu vielen denkwürdig authentischen Auftritten in diesem Format geführt hat – wie zuletzt dem Schröders 2005.

Dennoch gibt es natürlich auch für diesen Abend immer einen gewissen Fahrplan. So war diesmal zum Beispiel klar, dass Merkel und Westerwelle die Gelegenheit nutzen würden, um beruhigend auf die Ängste und Abwehrreflexe einzuwirken, die Schwarz-Gelb bei Grünen-, Linken- und SPD-Wählern auslöst. Merkel hatte in diesem Sinne zudem ja auch schon früher am Abend an medienwirksamer Stelle betont, dass sie eine Kanzlerin “für alle Deutschen” sein wolle. Und Westerwelle ließ ja schon seit Monaten keine Gelegenheit mehr aus, sich verbal, mimisch, gestisch, rhetorisch und kleidungstechnisch als künftiger Vize-Kanzler mit Gespür für staatstragende Gesamtverantwortung zu präsentieren.

In diesem Zusammenhang zeigte sich im Verlauf der Elefantenrunde nun aber noch etwas Bemerkenswertes. Man meinte wahrzunehmen, dass der Sozialkahlschlag-Verdacht ernsthaft am Gemüt des neuen Kanzler-Duos kratzt. Ja plötzlich konnte man sogar glauben, dass Westerwelles Verwandlung weg vom Spaßmobil-Guido ihn so viel Mühe gekostet und ihm so viel Wertschätzung eingetragen hat; dass der neue Respekt von Partei-Altvorderen wie Genscher ihm so viel bedeutet, dass er fest entschlossen ist, sich nun auch in seiner künftigen Regierungsrolle an der Statur solcher ehrwürdigen FDP-Eminenzen messen zu lassen, und insofern dann auch an deren moderatem Wirtschaftsliberalismus und ihren Verdiensten um Bürgerrechte. – Obwohl er in seiner Ansprache zuvor noch Leutheusser-Schnarrenberger auffällig ungenannt gelassen hatte und sie ihn dabei ansah, als ahne sie schon, dass ihr Fehlen im künftigen Kabinett damit wohl beschlossene Sache sei.

Beruhigend allerdings ist das alles natürlich schon deshalb nicht, weil man es auch aus der Kohl-Situation und -Zeit sehr wohl kennt: Kohl selbst sowie auch Norbert Blüm etwa zeigten sich ebenfalls stets persönlich beleidigt, wenn man ihnen das ‘soziale Gewissen’ bestritt, und der Politik ihrer Partei die Orientierung an sozialem Ausgleich.

Vor allem aber gehören der Verweis und die Hoffnung auf die persönlichen Dispositionen einzelner Politiker natürlich generell zu den denkbar merkwürdigsten Anachronismen im modernen politischen Diskurs. Auf den ‘guten Willen’ eines Politikers zu setzen – und sei er oder sie auch KanzlerIn – ist im besten Fall naiv. Eigentlich aber ist es schlicht von gestern, einfach vormodern. Es erinnert aber auch an die siebziger und achtziger Jahre, als es mit Rau, Kohl, Albrecht, Strauß usw. noch die unangefochtenen guten Landesväter gab.

Vielleicht ist die ganze Sache außerdem jetzt auch noch schlimmer. Wenn Merkel, wie es scheint, selbst an das Gewicht ihres guten Willens glaubt – und zudem daran, dass sie diesem weiter einfach dadurch wird Geltung verschaffen können, dass sie moderierend für einen Ausgleich zwischen den kontroversen Positionen anderer sorgt – dann ist das heute noch einmal ungleich naiver, als es zu Kohls Zeiten schon gewesen wäre. Spätestens als Klaus Bednarz am Montagabend bei “Hart aber fair” verlas, wie viele Wirtschaftsvertreter und -verbände sich bereits am ersten Tag nach der Wahl mit welchen unmissverständlichen Forderungen gemeldet hatten, wurde klar, dass der Republik nach der schwersten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte nun die schwersten Verteilungskämpfe in dieser Geschichte ins Haus stehen.

Und da könnte die Kanzlerin rasch feststellen, dass es für ihr Moderieren und Ausgleichschaffen bei vielen Entscheidungen gar keine Verwendung gibt – weil sie sich selbst gar nicht mehr zwischen verschiedenen Positionen befindet: weil es links von ihr in ihrer Regierung dazu gar keine Positionen gibt, weil sie sich selbst plötzlich als einsamer ‘Linksaußen’ ihrer Partei wieder findet.

Mit anderen Worten: Man fragt sich, ob das ganze Personal eigentlich einen Begriff hat von dem, was da gerade auf sie zurollt. Eingeschlossen übrigens nicht zuletzt die verbliebenen intellektuell-theoretischen Kräfte – wenn man etwa daran denkt, dass Sloterdijk der Linken rät, über einen ausschließlich aus freiwilligen Spenden finanzierten Staat nachzudenken; und dass er diesen Vorschlag dann in der FAZ auch noch einmal bekräftigte. Und dass der Angriff durch Axel Honneth, auf den Sloterdijk damit reagierte, intellektuell noch dürftiger war, und völlig am eigentlichen Punkt vorbei ging – dass nämlich Sloterdijks Begriffsberg kreißte, um eine Maus zu gebären.

Vor allem aber fragt man sich eben, wie es mit diesen nett-gemütlichen Kohl/Genscher-Wiedergängern weiter gehen soll. Robin Meyer-Lucht schrieb: “Offenbar sind sich Union und FDP noch nicht sicher, was sie mit der gewonnenen Macht überhaupt anfangen können oder wollen.” Das stimmt, ist aber vor allem tragisch, weil es ihnen dann eben andere sagen werden: die Wirtschaftsverbände und die sich gerade international wieder neu aufstellenden Ideologen und mächtigen Interessenvertreter von Deregulierung und Wohlfahrts-Abbau vor allem. Wissen die Schwarz-Gelben überhaupt, dass sie die Wunschkonstellation mächtiger Lobbies sind, die die argumentativen Versatzstücke für einen neoliberalen Backlash schon in der Schublade haben – und sie ihnen nun täglich vorbuchstabieren werden? Ist Merkel und Westerwelle klar, dass man in den USA und Großbritannien fest damit rechnet, dass ein Deutschland mit liberalem Wirtschafts-, Außen- und Finanzministerium all seine bisherigen Positionen bezüglich Regulierungen des Finanzmarktes nun umgehend wieder räumen wird?

Da war es schon fast beglückend, dass Steinmeier in der ‘Elefantenrunde’ gelegentlich irgendwie den Eindruck machte, als könne er sich zu einem mal süffisanten, mal ironischen, mal sarkastisch-polemischen Oppositionsführer nach Art Joschka Fischers entwickeln.

Ansonsten aber ist dunkle, dunkle Nacht. So antwortete Herr Brüderle um 23.19 Uhr am Montag dann bei Beckmann, auf dessen Frage, was die Regierung denn nun als erstes tun werde, sie werde “Wachstum loslösen”. Das Wachstum also war zuletzt bloß irgendwo angewachsen, irgendwie festgeklebt. Und der Herr Brüderle wird jetzt einfach mal kräftig daran ziehen, und dann geht es wieder los. Dann wird alles wieder gut.

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