von , 8.5.17

Der Blick in meine Social Media Timelines sagt: Alles ist gut. Die Nation, die uns Baguette, Steak Frites, Sancerre, La Mer, Daft Punk, Albert Camus, Edith Piaf und Simone de Beauvoir gebracht hat, kann weiter unser Sehnsuchtsort für alles Kluge, Leckere und Schöne bleiben. La France a choisi L’Europe. „Boff“ – dieses beschallte Ausatmen á la Française das immer dann hilft wenn geeignete Worte nicht aufzutreiben sind. Herrlich. Mit dem Ausatmen unserer Boff-Erleichterung schütteln wir die Dämomen der vergangenen Wochen weg. Statt einem großen Le Peng geht es beschwingt mit dem Austern schlürfenden Jüngling in die Zukunft. Voilà! Vive la France! Vive L’Europe! Abhaken. Weiter geht’s.

Natürlich ist das Ergebnis dieser Wahl ein Segen. Die Abwendung einer Katastrophe. Dennoch wäre es falsch zu glauben, dass jetzt alles gut wird. Statt erleichtert wieder wegzugucken, sollten wir besorgt hinsehen.

10 Millionen für Le Pen – total normal

Am Sonntag haben etwa 10,6 Millionen Franzosen für eine populistische Partei der extremen Rechten gestimmt – jeder vierte Wahlberechtigte. 2002 erhielt der Front National in der Stichwahl genau halb so viele Stimmen. Damals demonstrierten in Paris 1,5 Millionen Menschen gegen Le Pen. In diesem Jahr waren es keine Hunderttausend. Vor 15 Jahren boykottierten die Medien Le Pen. Diesmal war seine Tochter eine Kandidatin auf medialer Augenhöhe. 2017 gab es anders als bei der Wahl 2002 keinen Aufschrei der Nation. Der Front National in der Stichwahl – das war kein Ausnahmezustand mehr, sondern gelernte Realität im Jahr 2017. Und täglich grüßt der Populist. Ärgerlich aber normal. So abgestumpft sind wir. Allein das ist ein Alarmzeichen.

Und jetzt? Wenn Macron anfängt das Land nach seinen bisher vage bekannten Plänen zu reformieren, wird das vor allem die verunsichern, die jetzt schon für Le Pen gestimmt haben. Wer mit der Geschwindigkeit und den globalen Abhängigkeiten unserer Welt (oft aus nachvollziehbaren Gründen) nicht klarkommt, der wird neuen Veränderungen mit weiterer Abkehr und Rückzug begegnen. Dem werden einfache Antworten auf noch kompliziertere Argumente für den Wandel nur noch willkommener sein.

Le Pen kann Frankreich nun sturmreif schießen

Der Front National hat die Wahl genutzt, um sich auf extrem hohen Niveau endgültig zu etablieren. Betrachtet man Le Pen’s Agieren in den vergangenen Tagen so kommt einem der Verdacht, dass diese Wahl nur eine fest eingeplante Zwischenstation einer langfristigen Strategie war. Sie kann die kommenden fünf Jahre nutzen, um das liberale, progressive Frankreich endgültig sturmreif zu schießen und es 2022 dann mit kleiner Geste übernehmen. Sie hat ab heute alles, was sie dafür braucht: Eine hochmobilisierte Anhängerschaft, die sich um den Wahlsieg betrogen fühlt. Es gibt tiefe Gräben zwischen ihrem Lager und den anderen. Die etablierten Parteien ringen um ihr Leben. Hunderte gewaltbereite Islamisten leben im Inland. Und nun gibt es einen Präsidenten, der gegen alles steht, was Le Pen und ihren Wählern wichtig ist. Ich will nicht zynisch klingen, aber die Lage stellt sich als sehr gefährlich dar.

Diesen Mechanismus kennen wir. In den USA haben acht Jahre Obama das Land stärker gespalten, als es eh schon war. Ohne Obama hätte es Trump nicht geben können. Frankreich könnte das gleiche passieren. Eine gespaltene Nation wird von einem jungen Pragmatiker endlich in die Moderne getrieben und viele werden sich dem nicht nur nicht anschließen wollen, sondern diesen Weg aktiv verweigern, angefeuert von billigen politischen Parolen.

Ein Präsident als Spielball des Parlaments

Und mit wem regiert Macron jetzt? Ein Präsident ohne Partei, ohne parlamentarische Basis. Läuft es gut, erleben wir sachorientierte wechselnde Mehrheiten. Läuft es schlecht, wird Macron von allen Seiten in einen ständigen Kuhhandel gezwungen. Jede Fraktion kann ihre Positionen gegen den Präsidenten ausspielen, um ihr Profil zu schärfen. Die pulverisierten Sozialdemokraten und die gebeutelten Konservativen können Macron nicht blind folgen, wenn sie nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken wollen. Es kann wild werden.

Und Europa? Europa als technisches Konstrukt ist too big to fail. Das merken langsam selbst die Brexit-Insulaner, die der EU in bester Hooligan Manier den Mittelfinger und den blanken Arsch gezeigt haben und jetzt lernen, dass aus dem erhofften großen Knall eher ein stiller Abgang werden wird. Der Wirtschafts- und Währungsraum Europa wird bleiben. Aber: Europa als Idee, als Lebensgefühl, als progressive Wertegemeinschaft des Miteinanders ist nicht mehr oder weniger lebendig als vergangene Woche. Es ist bei allem zunehmenden Enthusiasmus in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ein intellektuelles Eliten-Projekt, ein wundervolles Lebensgefühl für wenige. Die Wahl Macrons als gegenteiliges Statement zu deuten, halte ich für falsch.

Alles fließt: Evolutionsschub unsere Demokratie

Die Wahl in Frankreich war auch ein weiterer Beleg dafür, dass unsere westliche Nachkriegs-Demokratie gerade einen gewaltigen Evolutionsschub durchmacht. Traditionelle Parteien wurden weggefegt, gelernte links-rechts Schemen und Milieu-Analysen taugen nicht mehr um zu verstehen, was den Einzelnen umtreibt. Unser bisheriges soziologisches Vokabular und Denken ist nicht mehr geeignet um zu verstehen, was Menschen bewegt und warum. Es gibt kein jung vs. alt, kein arm vs. reich, kein gebildet vs. weniger gebildet, kein Stammwähler vs. Wechselwähler mehr. Alles fließt.

Und deshalb sollen wir besorgt hingucken. Sollten versuchen zu analysieren, zu lernen und zu verstehen. Die Wahl in Frankreich lässt viele Alarmglocken schrillen. Wir sollten sie erhören anstatt uns nur darüber zu freuen, dass im letzten Moment die Katastrophe verhindert wurde.


 

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