#digitaler Wandel

Begriffe helfen begreifen – auch den Journalismus?

von , 30.9.14

Menschen haben gepflanzt, geerntet und gejagt, Hütten gebaut, gekocht, gewaschen, Kinder erzogen, ohne für diese einzelnen Tätigkeiten eine abstrahierende Bezeichnung wie Arbeit zu kennen. Menschen flüstern und schreien, senden Rauchzeichen, pfeifen, singen, zeichnen, drucken, auch ohne dass sie den Begriff Kommunikation benutzen. Menschen machen Zeitungen und Zeitschriften, Bücher, Radio, Filme und Fernsehen, reden von Journalismus, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Unterhaltung, haben aber keine Bezeichnung, die diese Aktivitäten insgesamt kennzeichnen könnte. Manchmal sprechen wir von Veröffentlichungen.

Seit es die Digitalisierung mit Computern (noch nicht) für alle und dem globalen Internet gibt, entsteht ein Bedarf, neue Bezeichnungen zu finden. Mit dem Internet ist ein Medium entstanden, das eine so offene Kommunikationsform anbietet, dass alles gleichzeitig drin vorkommt. Ein Film kann ein Dokumentar-, Unterhaltungs-, Kurz-, Fernsehfilm sein, macht aber ziemlich enge Vorgaben, welche Formen er als Medium zulässt. Bücher und Zeitungen können als Bilder darin auftauchen, als Buch und als Zeitung nicht; im Internet im Prinzip schon.

Angela Merkel hatte nie mehr recht als mit dem Satz, dass das Internet Neuland sei. Die Digital Natives, die ihr lautstark widersprachen, haben keine Ahnung von Kommunikationsgeschichte. Welche Formate im Internet noch entstehen und sich etablieren werden, falls dieses Medium so etwas wie Establishment überhaupt zulassen wird, kann man noch nicht wissen; wenngleich ich einräume, dass hier viele weit mehr wissen als ich.

Jedenfalls lösen sich alte Kommunikationsformate auf und eine der Auswirkungen dieser digital verursachten Auflösungserscheinungen ist die Debatte, was denn eigentlich Journalismus, oder in der Edelversion: was denn Qualitätsjournalismus sei. Was guter oder schlechter ist, darüber wurde immer gestritten. Heute bezweifeln wir zu wissen, was überhaupt Journalismus ist.

Zwei klassische Antworten bekommt man in der Regel, auf englisch, angeboten. Zum einen die der Aufklärung verpflichtete: „News is what someone somewhere wants to supress – the rest is advertising.“ Zum anderen die dem Kommerz dienende: „All the news that’s fit to print“. Im Cyberspace ist genug Platz für die freie Entfaltung beider Varianten.

Das Internet öffnet die Augen für etwas, das der Konstruktivismus schon früher gesehen hat: Mit Wesensbestimmungen, mit dem Ding an sich, der Sache als solcher kommt man nicht besonders weit. Eine Handlung, ein Ereignis, ein Ding kann vieles gleichzeitig sein, je nach dem welcher Sinn ihr und ihm gerade zugewiesen wird. Die Welt schert es nicht, welche Vorstellung wir uns von ihr machen, aber für uns ist es wichtig, weil wir unser Denken, Entscheiden und Handeln, also zum Beispiel auch den Umgang mit anderen, an diesen Vorstellungen orientieren.

Es ist hilfreich sich vorzustellen, dass die moderne Gesellschaft ein Öffentlichkeitssystem hat, dessen Funktionserfolg daran hängt, ob einer Mitteilung, einer Veröffentlichung Aufmerksamkeit geschenkt wird oder nicht; daran wird alles gemessen: Auflage, Quote, Klickrate. Von der Aufmerksamkeit hängt im Öffentlichkeitssystem alles ab (schlage ich vor, sich vorzustellen) – wie im Wirtschaftssystem vom Geld und in der Familie von der Liebe.

Für den Bestand des Öffentlichkeitssystems ist es egal, welche Mitteilungen Aufmerksamkeit ernten, ob es sich um Unterhaltung, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus handelt. Dem Internet ist das ebenfalls egal. Der guten alten Zeitung nicht, die hat aufgepasst oder wurde zumindest laufend ermahnt aufzupassen , dass sie viel Platz für Journalismus hat, der Öffentlichkeitsarbeit wenig Raum gibt, Unterhaltung sorgfältig dosiert, Werbung kenntlich macht und nur nach Maßgabe ihres Finanzierungsbedarfs zulässt. Hollywood übernahm die Unterhaltung, das Privatfernsehen die Werbung, die Öffentlichkeitsarbeit hat Journalismus gelernt. Die schönen neuen Zeitungen sind da viel großzügiger,  am großzügigsten ist die „Bild“. Ihr Erscheinen hat eigentlich nur noch einen Zweck, Aufmerksamkeit für sich selbst zu produzieren und damit Geld zu machen. Sie hat schon offline praktiziert, was Online-Portale zur Perfektion treiben.

Was damit gesagt werden soll: Überhaupt nichts gegen das Internet, es hat, wie gesagt, Raum für alles, was man für gut oder für schlecht halten mag. Dank des Internets ist klar geworden, dass wir ein Öffentlichkeitssystem haben mit einer beachtlichen Programmvielfalt für öffentliche Kommunikation (Journalismus, Unterhaltung, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit). Vielleicht könnte man Publizismus nennen, was da passiert, denn dem einzelnen Beitrag ist oft nicht mehr anzusehen, welchem dieser Programme er angehören mag. Jetzt könnten auch Altachtundsechziger, also solche wie ich, die Vorstellung aufgeben, dass Journalismus der gute ist, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Unterhaltung die schlechten sind. Es könnte  für möglich gehalten werden, dass es auch gute Werbung, gute Öffentlichkeitsarbeit und gute Unterhaltung gibt, schlechten Journalismus sowieso. Eine neue Vorstellung von Journalismus zu gewinnen als einen Unterfall von Publizismus, daran zu arbeiten macht Sinn.

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