#4. Frankfurter StoryDrive-Konferenz

Aliens, Crossmedia und Cyberterroristen

von , 14.10.13

„Fiction is real“ – unter diesem Motto fand am vergangenen Samstag auf der Frankfurter Buchmesse 2013 zum vierten Mal die All-Media-Konferenz StoryDrive statt.

Wie verändert sich das Geschichtenerzählen im Zeitalter der Digitalisierung? Welche Auswirkungen hat die zunehmende Medienkonvergenz auf zeitgenössische Formen des Erzählens? Und wie wird man einem Publikum gerecht, das nicht mehr nur passiv unterhalten werden möchte, sondern zunehmend erwartet, sich aktiv in ein Narrativ einbringen zu können?

Die Frankfurter Buchmesse, traditionell fixiert auf das Buch und somit auf lineare, also formal eindimensionale Geschichten, versucht mit der StoryDrive-Konferenz, über den Tellerrand hinauszublicken. Es geht um eine Erzählform, die einst „multimedial“ hieß, dann „crossmedial“, und mittlerweile offenbar „transmedial“.

Theoretisch bedeutet das: Neue Medien sprengen die Grenzen des eindimensionalen Erzählens, brechen die starre Linearität auf und erweitern mit Hilfe neuer medialer Erzählformen die erzählerischen Möglichkeiten. Praktisch heißt es oft nur: Ein und derselbe Content wird nicht nur in einem, sondern gleich in fünf oder sechs Formaten kommerziell verwertet. Eine Geschichte kann also über mehrere Medienformen hinweg erzählt werden und sich dabei wie ein Puzzle zusammensetzen. Video, Game, Buch-Spin-off und interaktive Webseite. Je mehr Kanäle man bedient, desto besser.

Damit, so die Hoffnung der Macher, kommt man einer gewandelten Erwartungshaltung der Konsumenten entgegen. Diese wollen nicht mehr nur passiv unterhalten, sondern in die Geschichte einbezogen werden, mitmachen, Wahlmöglichkeiten wahrnehmen, interagieren können. Der Zuschauer will Mitspieler, wenn nicht Hauptakteur einer Geschichte sein, so die vorherrschende Überzeugung der meisten Produzenten multimedialer Projekte. Das stellt sie vor die schwierige Herausforderung, eine Geschichte zu kreieren, die weitgehend entwicklungsoffen ist, um solchen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, zugleich jedoch spannend genug, um die Konsumenten bei der Stange zu halten. Gelungene Unterhaltung ist kein Vorsetzen mehr, sondern die erfolgreiche Einbeziehung des Zuschauers als Mitakteur in die fiktionale Realität.

Drew Davidson vom Entertainment Technology Center an der Carnegie Mellon University schwärmt in diesem Zusammenhang von den Möglichkeiten der Augmented Reality, um Fiktion enger mit der Realität zu verschränken. Aus seiner Sicht zählt die Möglichkeit, fiktionale Layer in eine reale Umgebung einzubetten, zu den interessantesten, die die moderne Technologie für zeitgemäßes Geschichtenerzählen zu bieten hat. Wenn mit Hilfe von Augmented Reality die scharfe Trennung zwischen fiktionaler und nonfiktionaler Wirklichkeit überwunden werde, könne dies zu einer größeren Glaubwürdigkeit der fiktionalen Welt führen – obwohl, wie Davidson einräumt, Technologie auch nicht hilft, wenn eine Geschichte einfach schlecht erzählt ist.

Aber was heißt das überhaupt noch: eine Geschichte? Corey King, Gründer des kanadischen Unternehmens ZenFri Inc., stellt auf der StoryDrive sein Game-Projekt Clandestine Anomaly vor, das offensiv damit wirbt, hier werde der Spieler selbst in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. Es wäre etwas bösartig, dies darauf zu reduzieren, dass Clandestine Anomaly dabei auf die Einbeziehung von Geodaten in die Spielfiktion setzt. Das Besondere ist vielmehr, dass der Spieler selbst als reale Person zum Teil einer Handlungsfiktion werden soll, deren Verlauf er mit beeinflusst. Es geht darum, die Grenze von Spielhandlung und Wirklichkeit zu überwinden.

In der Geschichte landen Außerirdische auf der Erde und hacken das Smartphone des Spielers, der auf diese Weise in das Geschehen hineingezogen wird. Er erhält nun beispielsweise Text- und Videobotschaften der Spielfiguren. Ziel des Szenarios ist es, den Spieler dazu zu bewegen, das Haus zu verlassen und das Spiel, das auch als App uneingeschränkt funktionieren soll, mitzunehmen. Die Verschränkung mit der Wirklichkeit wird weiter vorangetrieben, indem etwa 3-D-Objekte mit den Bildern der Kamera eines Smartphones oder Tablets kombiniert werden. Das erinnert stark an Ingress, ein Google-Projekt, auf das Corey King gar nicht gut zu sprechen ist. Nur oberflächlich sei das ein ähnliches Projekt, tatsächlich aber habe Ingress gar keine richtige Geschichte zu bieten. Sein Projekt sei längst im Gang gewesen, als Ingress herauskam.

Einen anderen Ansatz präsentiert Dmitry Glukhovsky, ein russischer Journalist und Autor von Metro 2033, eines zunächst als Roman veröffentlichten und dann in ein Computerspiel umgewandelten Stoffes. Es geht um die Überlebenden eines post-nuklearen Katastrophenszenarios in der Moskauer U-Bahn. Glukhovsky kann mittlerweile auf über 40 Fan-Fiction-Romane zurückblicken, allesamt in dem von ihm geschaffenen Universum angesiedelt.

Die Autoren stammen überwiegend aus Russland, es gibt aber auch andere Versionen, etwa in Englisch oder Polnisch. Die Webseite listet einige davon auf. Leser entwickeln Nebenstränge weiter, ergänzen Hintergründe und erfinden neue Variationen. Glukhovskys Projekt ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein populärer Stoff verselbständigen kann, wenn sich eine ausreichend breite Fanbasis bildet. Glukhovskys optimistisches Fazit:
 

„In fünf Jahren werden Bücher natürlich elektronisch sein, von den Autoren zusammen mit Fans in den sozialen Netzwerken geschrieben werden. Das Papierbuch wird sterben, aber die Literatur wird einfach in eine neue Haut schlüpfen. Papier verrottet, aber Literatur ist unsterblich.“

 
Weniger trashig als Metro 2033 kommt Netwars daher, produziert von der Filmtank GmbH. Netwars ist ein crossmediales Projekt, das sich teils dokumentarisch, teils fiktional dem Thema Cyberwar nähert. Es besteht gleich aus sieben verschiedenen Formaten: einem Informationsportal, einer traditionellen 52-minütigen TV-Dokumentation für ARTE, einem Web-Format, bei dem ein digitaler Waffenhändler im Mittelpunkt steht, einer Graphic-Novel-App in 3D mit Gamification-Elementen, einem E-Book, einem Audio-Buch und einer fiktionalen TV-Serie.

Eine Besonderheit des Projekts, für das als Produzenten Michael Grotenhoff und Saskia Kress verantwortlich zeichnen, ist die Art und Weise, wie die Macher mit der Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit umgehen. Große Teile des Projekts sind zwar fiktiv, kommen jedoch als Umsetzung von Möglichkeitsszenarien daher: Man zeigt die Wirklichkeit, wie sie real sein könnte, heute schon, vielleicht auch erst morgen. Warum eine neue Waffe erfinden, wenn alles eine Waffe sein kann?

Aus dieser Frage, die auf die universelle Verwendbarkeit von Informationstechnologien abzielt, ergeben sich allerlei Bedrohungsszenarien, die von Netwars spielerisch verarbeitet werden. Glaubt man den Machern, so ist die Wirklichkeit längst zum Thriller geworden. Die Vergiftung unseres Trinkwassers und die Abschaltung unserer Stromversorgung scheinen plötzlich nur noch einen Klick entfernt. Ob das Panikmache ist oder Aufklärung, sei dahingestellt. Von der Form her ist es Dokufiction, vom Gehalt her aber pure Unterhaltung mit schmückendem Recherche-Beiwerk.

Zum Ende der StoryDrive 2013 geht dann Zak Kadison, Gründer der Produktionsfirma Blacklight, noch hart mit Hollywood ins Gericht. Das Studiosystem habe noch nicht verstanden, meint Kadison, dass es ein neues Geschäftsmodell benötigt. Die großen Studios scheuten das kreative Risiko und verließen sich lieber auf Altbekanntes und Erprobtes. Für kreative Autoren sei das frustrierend, da mit neuen Ideen kaum durchzukommen sei.

Nur etwa 10 Prozent aller Piloten würden am Ende tatsächlich in neue Produktionen umgesetzt – eine äußerst geringe Quote, die auf mangelnde Experimentier- und Risikobereitschaft der Studios hindeute. Kreative Köpfe, die nicht in der eingefahrenen Maschinerie zerrieben werden wollten, täten gut daran, so Kadison, sich die Technologiebranche anzusehen, um herauszufinden, in welche Richtung der Markt sich entwickeln werde. Gute Storyteller würden heute überall gesucht, aber Hollywood wisse ihr Potenzial nicht zu nutzen.

So macht sich zum Ende der StoryDrive 2013 doch noch einmal so etwas wie Aufbruchsstimmung breit. Das tut gut, weil es zum richtigen Zeitpunkt kommt: als man gerade anfängt, sich zu fragen, ob die Sache mit dem „Goldenen Zeitalter des Geschichtenerzählens“, das die Veranstalter in ihrer Pressemitteilung beschwören, nicht doch ein bisschen übertrieben ist, angesichts der vielen Aliens, Metromutanten und Cyberterroristen, von denen man auf dieser Konferenz gehört hat.

So interessant es sein könnte, die neuen technischen Möglichkeiten zu nutzen, um Geschichten neu und anders zu erzählen – die Dürftigkeit vieler auf der StoryDrive 2013 beispielhaft präsentierter Stoffe steht in einem bemerkenswerten Missverhältnis zu dem crossmedialen Aufwand, der dafür betrieben wird. Wenn sich das nicht ändert, werden solche transmedialen Erzählwelten am Ende noch viel langweiliger sein als alles Althergebrachte.
 

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