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Für eine neue Poesie der Neugier: Das Web verändert den Journalismus – nicht nur online

von , 3.11.08

Der Ruf des Online-Journalismus ist ein Desaster. Bei gestandenen Print-Journalisten hat er kein Renommee: Online-Journalismus wird angeblich nur von schlecht bezahlten und unerfahrenen Jungjournalisten betrieben, die hauptsächlich Agenturmaterial verwursten, wenig an ihren Texten hängen und kaum recherchieren würden. Eine Boulevardisierung des Journalismus, verursacht durch „Klicks, Quoten und Reizwörter“, stehe bevor. Im Netz sei der Qualitätsjournalismus durch die hungrige Logik des Mediums nach schnellen, immer neuen Nachrichten bedroht (Schirrmacher 2007) und Blogger mit ihrem „loser generated content“ gäben dem Genre als „Idiotae“ im „Web 0.0“ (Graff 2007) den Rest.

Auf eine skeptische Einschätzung trifft man vom ehemaligen Chefredakteur des Stern, Hans-Ulrich Joerges, über den Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, bis hin zum stellvertretenden Chefredakteur der Süddeutschen Online, Bernd Graff. Doch es lohnt sich genauer hinzuschauen. Denn tatsächlich muss man sich fragen, ob das Web wirklich eine Gefahr für den Journalismus darstellt oder ob man hier nicht dem Online-Journalismus Probleme in die digitalen Schuhe schiebt, die der Journalismus ganz allgemein hat. Denn die neuen Bedingungen des Journalismus treffen nicht nur auf das Schreiben im Web zu, sondern häufig auf den Journalismus im Allgemeinen.

Hoppla: Autor trifft Leser

Die meisten Journalisten bevorzugen den Leser besser wissend zu informieren und sind wenig erfreut darüber, wenn dieser Leser auf die Idee kommt, das ihm Zugesendete zu berichtigen, zu verbessern, den Journalisten auf einen Fehler hinzuweisen und ihn somit schlichtweg ebenso: zu informieren. Obwohl es diesen Rückkanal in Form von Leserbriefen oder Gegendarstellungen offline schon seit langem gibt, hat sich mit der Möglichkeit des Kommentierens von Artikeln im Internet eine unmittelbarere Nähe zwischen Sender und Empfänger ergeben – eine Nähe, die auffällig gerne ignoriert wird. Während man den Leser als konkreten Empfänger entdeckt hat und nicht mehr in einen diffus abstrakten Raum namens „Öffentlichkeit“ sendet, tut man sich mit den Antworten dieses Empfängers allerdings noch schwer.

Redakteure und Autoren sind zwar interessiert daran, wie häufig ihr Artikel gelesen wird; mit den Kommentaren unter ihren Artikeln setzen sie sich jedoch ungern auseinander. Fast könnte man meinen, die Trennung von Leserbeiträgen und redaktionellen Inhalten sei im Journalismus genauso wichtig wie die Trennung von redaktionellen Inhalten und Anzeigen, so schlecht ist der Ruf des partizipatorischen Journalismus bzw. des User-Generated-Content. An ihm können sich die Ängste des Faches vor einem Journalismus ohne Journalisten hervorragend aufbauschen, auch wenn man ehrlich sagen muss: Nicht einmal mehr die Verleger träumen den Traum von unbezahlten Inhalten ihrer User. Mittlerweile hat man begriffen, dass eine gut funktionierende Community jemanden braucht, der diese Community pflegt (Niles 2008). Inhalte, die vom Leser kommen und veröffentlicht werden sollen, schaffen also Arbeit und damit Arbeitsplätze (Rusbridger 2007). Sie müssen gegengelesen, beantwortet und betreut werden.

Der Journalismus transformiert sich damit vom Produkt zum Prozess: Der Journalist initiiert im Netz eine Debatte, die er auch weiterhin beeinflusst, er produziert nicht mehr einfach nur ein Stück, das er abliefert. Das schafft ein neues Problem: Woher soll ein Autor oder Redakteur die Zeit für diese Betreuung nehmen (Niles 2008)? Eine Lösung wäre eventuell, Community-Manager journalistisch ernster zu nehmen, sie im Namen des Organs Beiträge und Antworten verfassen zu lassen und Artikel, die größere Debatten auslösen, in Zusammenarbeit mit dem Autor zu betreuen. An einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem im Kommentarfeld einsam zurück gelassenen Leser wird man jedenfalls nicht vorbeikommen, auch wenn diese Zusammenarbeit zurzeit noch selten der Fall ist. Online, kritisiert der amerikanische Online-Journalismus-Experte Robert Niles sorgenvoll, ist eine „führungslose Debatte“ zu beobachten (Niles 2008). Er befürchtet, dass der Leser diesen Eindruck auf das Nachrichtenportal überträgt und sich vom Journalismus abwendet. Und er mahnt an, den alleinigen Fokus der Journalisten auf die Zeitung zu überdenken: „Es ist Zeit, dass die Nachrichtenzeitung stirbt, damit die Nachrichtenindustrie überleben kann.“ (Niles 2008)

Crossmedial – ein Zauberwort?

Doch nicht nur die Rolle des Journalisten und sein Verhältnis zum Leser ändern sich durch das Web, sondern auch der journalistische Inhalt selbst. Während eine publizistische Marke bislang vor allem mit einem Medium verbunden wurde, wird in Zukunft gelten, dass eine Marke für einen bestimmten Inhalt steht, der über verschiedene Plattformen wie Zeitung, Internet, Mobiltelefon oder Internet-TV verteilt wird – „Crossmedialität“ von Inhalten lautet derzeit das neue verlegerische Zauberwort, dessen Umsetzung gar nicht so einfach ist: Um den Leser im jeweiligen Medium anzusprechen, müssen die Inhalte der Logik des jeweiligen Mediums angepasst werden, denn man kann diese Inhalte nicht medienblind produzieren und verteilen. Ein Beispiel: Online-Beiträge funktionieren selten mit Überschriften, die für die gedruckte Zeitung getextet werden, denn das Zusammenspiel aus Überschrift und Bebilderung fällt weg, ebenso wie sichtbare Zwischenüberschriften oder Zitate, die Orientierung bieten. Im Netz muss Inhalt eigen und anders zugeschnitten werden.

Zugleich erwarten User online auch variierende mediale Formate. Das Mit-Bloggen eines Ereignisses, Bilderstrecken, Audio-Slide-Shows oder kurze Videobeiträge behandeln ein Thema mitunter angemessener als ein Artikel. Diese Logik setzt sich im Online-Journalismus erst langsam durch, denn das „Muttermedium“ – und die meisten Nachrichtenportale sind Töchter von gedruckten Marken – prägt bislang noch stark die Online-Berichterstattung, auch wenn welt.de und spiegel.de ihre Textlastigkeit im ersten Quartal 2008 deutlich verringert haben und das Unternehmen Holtzbrinck mit zoomer.de den expliziten Versuch startet, ein Nachrichtenportal mit einem multimedialen Angebot aufzubauen, weil ein jüngeres Publikum in einem spielerisch medienkonvergenten Umfeld aufgewachsen ist und eine solche Aufarbeitung auch von ihrem Portal erwartet.

Multimedialität im Internet wird damit erwachsen. Waren online-spezifische Formate wie Live-Bloggen oder Live-Tickern, Bildergalerien oder Umfragen zunächst vor allem der Jagd nach Seitenaufrufen verdächtigt worden (Range und Schweins 2007: 51ff.), hat sich mittlerweile die Einsicht verbreitet, dass diese Formate auch mit Qualität gefüllt werden können. Zudem ist klar, dass die Reichweitenstärke online nicht nur durch Beiträge zu holen ist, die kurzfristig hohe Zugriffe haben, wie spektakuläre Boulevardmeldungen. Gerade im Netz ist das Prinzip wichtig, mit einer großen Anzahl an Nischenprodukten zu arbeiten, dem Long Tail, wie ihn Wired-Chefredakteur Chris Anderson beschrieb (Anderson 2007). Nicht umsonst haben publizistische Angebote ihre Archive mittlerweile für Suchmaschinen geöffnet und Search-Engine-Optimizer engagiert, um bei Google News zu landen. Das Aufrufen der Homepage ist heutzutage nur noch ein Zugang zu angebotenen Inhalten unter vielen. Newsaggregatoren, welche unter bestimmten Topoi verschiedene Medien scannen – turi-2.blog.de etwa für die Medienbranche – sorgen für weitere Zugriffe.

Das führt dazu, dass journalistische Angebote ein Interesse haben, sich breit aufzustellen, indem sie Inhalte, die andere produziert haben, in ihr Angebot integrieren: Kuratieren, nicht selbst produzieren. Dieses Einpflegen qualitativ hochwertiger fremder Inhalte verbreitert das eigene Angebot und wertet es auf, da gute, interessante Information im Internet schnell im Überangebot untergeht. Do what you can do best and link to the rest: Das Auffinden und Präsentieren interessanten Materials ist ein Mehrwert, mit dem man mitunter erstaunliche Ergebnisse erzielen kann – der amerikanische Unternehmer Samir Arora hat das für die Frauenplattform glam.com in den Staaten erfolgreich etabliert (vgl. Jarvis 2007). In Deutschland folgt man dieser Strategie eher zaghaft: Spiegel Online präsentiert beispielsweise Inhalte von 11 Freunde, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Wikipedia, dem manager magazin, Last.fm etc.

Fasst man diese Entwicklungen zusammen, dem dynamischen Medium entsprechend zwangsläufig nur in einem Zwischenstand, kann man sagen: Ja, das Web hat den Journalismus verändert. Folgende Verschiebungen stechen dabei vor allem ins Auge:

1. Marke statt Medium: Publizistische Marken sind in Zukunft weniger als bisher von einer spezifischen medialen Logik geprägt, sondern verteilen ihre spezifische inhaltliche Ausrichtung, ihr Markenprofil, auf verschiedene Medien.

2. Veröffentlichung heute heißt Kommunikation: Journalisten produzieren für Medien keine Beiträge, sie kommunizieren mit ihren Lesern – mitunter auch im direkten Dialog.

3. Plattform statt Sender: Eine Marke besticht in Zeiten des Überangebots an Information nicht nur durch selbst hergestellte Inhalte, sondern versteht sich als Plattform und wählt gemäß der ihr eigenen Logik die relevanten Beiträge für ihre Leser aus.

All dies wird den Journalismus herausfordern – und es kann ihn spannender, interessanter, unterhaltsamer und informativer machen. Eventuell. Denn man steht vor einem Problem:

Wer soll das bezahlen?

In der Tat steht man aktuell in Bezug auf Online-Journalismus vor einem Desaster, allerdings findet sich dieses Desaster nicht dort, wo es vermutet wird. Denn nicht die Qualität des Journalismus steht auf dem Prüfstand, sondern seine Finanzierung. Kurz gesagt: Zeitungen haben über die Jahre bedenklich an Auflagenstärke und Anzeigenumsatz verloren (Meyer-Lucht 2006: 4), der Journalismus im Web spielt jedoch bislang nur einen Bruchteil des Umsatzes ein. Der Spiegel Verlag erwirtschaftete 2006 einen Umsatz von 332 Millionen Euro, Spiegel Online 15 Millionen Euro. Durchschnittlich erreichen die Online-Werbeeinnahmen nur 10 Prozent des Anzeigenumsatzes von Print – viel zu wenig, um die aufwendige Maschine Journalismus zu erhalten. Zwar kann der Online-Werbemarkt rasante Zuwächse vermelden – laut Nielsen legte er im ersten Quartal 2008 um 41 Prozent zu – aber der Abstand bleibt gewaltig. Auch wenn Printmarken sich in Zukunft crossmedial entwerfen müssen, sie sind auf den Umsatz des Printmediums angewiesen. Und das ist angeschlagen.

Die Nutzung einer Zeitung als aktuelles Informationsmedium steht auf dem Prüfstand (Kolo und Meyer-Lucht 2007). Die Auflagen von Tageszeitungen sinken kontinuierlich und beängstigend. Junge Leser wachsen nicht nach, sie holen sich ihre Nachrichten im Internet. Technische Entwicklungen werden außerdem dazu führen, die Funktion der Zeitung zu ersetzen: Während zunächst das Büromedium Web das Bedürfnis nach aktueller Information mehr als einmal am Tag erfüllte, bedroht als nächstes auch das Mobiltelefon die Zeitung. Die neue Generation an Smartphones wird das Lesen von aktuellen Nachrichten unterwegs und überall möglich machen und die mobile Informationsquelle Zeitung, die man auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause konsumierte, ablösen – eines Tages wird man sagen, die Zeitung war auch einer der Vorläufer des Mobiltelefons.

Es steht nicht gut um das Medium und all das heißt: Die Zeitung muss sich entweder neu erfinden oder der Online-Journalismus muss finanziell erwachsen werden – was bedeutet, seine Anzeigenpreise müssen steigen. Tatsächlich deutet sich an, dass ein Teil des Werbegeldes ins Netz wandert. So wird BMW – und die Autoindustrie gehört zu den werbestärksten Branchen – für die Einführung seiner neuen Serie 1 erstmalig die Hälfte des auf 15-25 Millionen Dollar geschätzten Budgets zielgruppengerecht in Onlinemedien investieren (Elliott 2008). Diese Investition fließt jedoch nicht nur in klassische Medien, sondern auch in soziale Netzwerke. Der Kuchen wird also nicht einfach von gedruckten Zeitungen zu ihren Online-Angeboten wandern.

Nur eventuell kann der Journalismus also bleiben, was er ist, denn mehr noch als das Web wird seine ökonomische Situation ihn verändern. Und er wird nur Journalismus bleiben können, wenn er die ihm eigenen Prinzipien ernst nehmen kann. Gleich ob er kuratiert oder selbst herstellt, gleich ob er online, offline oder auf dem Mobiltelefon landet. Journalismus ist nur Journalismus, wenn er verliebt in seine Ideale bleiben darf: Unabhängig, in kritischer Distanz zu seinem Gegenstand, in Konflikten beide Seiten schildernd und einer akkuraten Berichterstattung verpflichtet. Ja, tatsächlich, das Gejammere über einen möglichen Qualitätsverlust im Journalismus wird man ernst nehmen müssen. Und nein, es ist kein Problem, das auf den Online-Journalismus begrenzt ist.

Deshalb: Das ängstliche Klammern an lieb gewonnene Strukturen, das den Journalismus derzeit prägt, kann angesichts der ernsten Probleme keine Antwort sein. Es braucht eine neue „Poesie der Neugier“ (Kisch 1980); Offenheit, Kreativität und Dynamik sind schleunigst gefragt. Das könnte klappen: Neugier hat den Journalismus schon immer ausgezeichnet.

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung eines Textes, den Mercedes Bunz für das Buch Webwissenschaft – Eine Einführung geschrieben hat. Die Langfassung mit den dazugehörigen Literaturangaben gibt es hier.

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