#Demografische Entwicklung

Die Symptome einer Gemächlichkeitsgesellschaft

von , 5.5.09


Was letzte Woche passierte: Die Bundesregierung kündigte an, das Kurzarbeitergeld auf 24 Monate zu verlängern sowie die Renten keinesfalls auch nur minimal zu senken — und Marcel Weiss schrieb eine “Generalabrechnung mit der deutschen Angst vorm Netz” (Perlentaucher).

Diese Dinge gehören zusammen: Auf der einen Seite eine Regierung, die mit allen Mitteln versucht, den Status Quo zu stabilisieren und drohende Veränderungen zu negieren. Auf der anderen Seite ein 30-Jähriger, der einfach mal einen Wutanfall bekommt, angesichts von Umbauaversion  und Selbstgefälligkeit des Establishments am Beispiel digitaler Medienwandel.

Das Bemerkenswerte am bisherigen Umgang der Regierung mit der Krise* ist nicht, dass sie mit eher groben Mitteln, wie der Abwrackprämie oder dem Kurzarbeitergeld, klassische Milieus bewässert und vor der Wahl Valium fürs Volk verteilt. Bemerkenswert ist, dass die Bundesregierung — gerade auch symbolisch — ohne irgendeine Form von Vision oder Zukunftsentwurf durch die Krise zu kommen hofft. Es mag auch ein Bildungsinvestitionsprogramm oder ein Innovationsprogramm für sauberere Energie oder Autos in den Konjunkturpaketen geben — nur politisch und symbolisch sichtbar sind sie nicht.

Die Krise wird vom politischen Establishment genutzt, um Anrechtsträger ihrer Anrechte zu versichern und auf die Dynamik der Marktwirtschaft zu schimpfen. Es wird ein wenig Einkommenssteuerpolitik-Folklore betrieben. Der Wille aber, die Krise als echten Katalysator für einen Wandel zu nutzen, ist im politischen Berlin kaum auszumachen. Im Gegenteil.

bevoelkerungsgrafik001

Anteil der unter 35-Jährigen: Diese demografische Konstellation schlägt diesen Land auch auf das Gemüt

Weiss hingegen fordert nichts anderes als eine Kultur von Wachheit, Neugier und Drang. Er fordert eine Haltung von Offenheit, Analyse und Selbstinfragestellung. Nur leider findet er all dies in dieser Gesellschaft kaum noch vor. Dabei ist ihm der digitale Medienwandel nur der Anlass und der Text damit politischer als man im ersten Moment annehmen könnte.

Weiss’ Unmut ist Symptom eines neuen Generationskonflikts. Die geburtenstarken Jahrgänge haben sich nach ihrem New-Economy-Abenteuer in das Alter jenseits der 40 verabschiedet. Wer heute unter 35 ist, der ist Teil einer Minderheit. 2008 waren nur noch 36,9 Prozent der Bevölkerung unter 35 Jahre alt. Vierzig Jahre vorher, 1968, waren es noch 51,3 Prozent. Und noch einmal vierzig Jahre zurück, 1928, waren es 60,5 Prozent. Von 1928 bis 2008 ist der Anteil der unter 35-Jährigen an der Bevölkerung um fast 40 Prozent zurückgegangen. Schon deshalb wird die Reaktion auf die Krise anders ausfallen als vor achtzig Jahren.

Das gesellschaftliche Machtzentrum lag wahrscheinlich immer schon bei den über 40-Jährigen. Sie hatten aber demografisch nicht die Mehrheit. Das aber ändert sich gerade. Und diese demografische Konstellation schlägt diesem Land durchaus auf das Gemüt. Dabei soll hier keinem demografischen Determinismus das Wort geredet werden. Die geistige Beweglichkeit einer Gesellschaft hängt nicht am Alter ihrer Mitglieder. Aber ihre Erfahrungen schon.

asdfasdf

Alterspyramide im Jahr 2010: Die geburtenstarken Jahrgänge haben sich in das Alter jenseits der 40 verabschiedet

Man muss sehr vorsichtig sein, aus dieser demografischen Situation irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Im Hinterkopf behalten sollte man sie. Sie bedeutet nicht nur, dass sich das gesellschaftliche Klima weiter in Richtung Gelassenheit, Nichtirritierbarkeit und Pragmatismus verschieben könnte. Auch die von Weiss skizzierten Tendenzen könnten an Einfluss eher noch gewinnen. Und sie sind nicht nur zu beklagen, wenn man jung ist.

* Bankenschutzschirm  mal ausgeklammert.

P. S. Dieser Text ist nicht ganz rund, zugegeben. Daher freue ich mich erst recht über Kommentare.

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.