#Besitzstandswahrung

Deutschlands gestörtes Verhältnis zum Netz: Was der Web Index mit dem Leistungsschutzrecht zu tun hat

von , 6.9.12

Web Index 2012, World MapIm von WWW-Gründer Tim Berners-Lee und dessen World Wide Web Foundation veröffentlichten Web Index 2012 belegt Deutschland den 16. Platz von 61 untersuchten Länder. Die Schweiz landet auf einem guten sechsten Platz, Österreich ist nicht dabei. Das Ranking vermittelt einen Eindruck davon, welchen Stellenwert das Internet in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft besitzt, und wie es diese Faktoren beeinflusst. Markus kommentierte das Ergebnis auf Linkwertig heute früh mit “Deutschland schlägt sich tapfer”. Doch eigentlich ist es eine große Enttäuschung.

Nicht, weil man ein deutlich besseres Abschneiden Deutschlands hätte erwarten können – wer sich mit der Digitalisierung intensiver beschäftigt, weiß, dass die Bundesrepublik in vielen Teilbereichen dieser Entwicklung massiven Nachholbedarf hat. Nein, die Enttäuschung liegt darin, dass sich eine allgemein sehr erfolgreiche Nation, die sich sonst gerne als Vorreiter und Innovator präsentiert, in diesem so wichtigen Segment derart hinterherhinkt – und dass sich Entscheider daran nicht einmal groß zu stören scheinen. Zumindest finden sich in den Medien oder im Social Web keine offiziellen Reaktionen von Politikern zu dem Index. Und überhaupt hält sich die Berichterstattung über die Untersuchung in Grenzen – dabei wird doch sonst jede andere, noch so unseriöse Studie groß aufgeblasen und bei den führenden Nachrichtenmedien herumgereicht.

Deutsche streben nach Exzellenz – außer beim Netz

Egal, ob es um erneuerbare Energien und Umweltschutz, Errungenschaften in Hochtechnologie und Ingenieurskunst, Forschung und Wissenschaft, Arbeitnehmerrechte oder internationale Politik und Wirtschaftsgestaltung geht – überall strebt Deutschland führende Rollen an oder nimmt diese bereits seit langem ein. Und stets herrscht weitestgehend Konsens über diese Selbstverständlichkeit des Strebens nach Exzellenz. Dem Klischee nach sind Deutsche Perfektionisten, die sich ungern mit dem Mittelmaß zufrieden geben. Nicht selten agieren sie tatsächlich dementsprechend. Doch sobald es um die künftige Rolle des Landes in der globalen digitalen Welt geht, verschwindet das sonst so hohe Ambitionsniveau – abgesehen von der Intention einer flächendeckenden Breitbandvernetzung. Bei dieser handelt es sich jedoch um Pflicht, nicht um Kür – im Gegensatz zu den Plänen Großbritanniens, bis 2015 Europas schnellstes Breitbandnetz errichten zu wollen.

Was den Status und Einfluss des Netzes angeht, muss sich Deutschland vielen anderen westlichen Ländern geschlagen geben, darunter selbst solchen, die wie Frankreich für ihre aggressiven Versuche der Bändigung des Internets bekannt sind. Deutschland liegt 25 Punkte hinter dem Erstplatzierten Schweden, der als Benchmark 100 Punkte erhält, und nur wenige Punkte vor Portugal, Spanien und Chile.

Mit Antworten auf die Frage, wieso Deutschland als selbstdeklariertes Hochtechnologieland ausgerechnet beim Internet entscheidende Impulse vermissen lässt, kann man Bücher füllen. Oder die zahlreichen Artikel bei netzwertig.com lesen, in denen wir im Laufe der vergangenen Jahre auf die mannigfaltigen Missstände aufmerksam gemacht haben, die den Web- und IT-Standort Deutschland abseits der Enterprise-Software von SAP bremsen. Ein Klassiker dazu ist unsere Artikelreihe aus dem Jahr 2009 “Deutschland degeneriert in ein Entwicklungsland“.

Das Leistungsschutzrecht als Ausdruck, was falsch läuft

Doch will man versuchen, die Ursache in so kompakter und zeitsparender Form wie möglich zusammenzufassen, dann bietet sich im Sommer 2012 dafür eine ideale Gelegenheit: das Leistungsschutzrecht. Deutschland ist ein Land, in dem ein fortschrittsfeindliches, den Interessen einiger weniger etablierter Medienakteure dienendes, von allen anderen Organisationen und Experten mit Rang und Namen abgelehntes Gesetz auf Basis von Scheinargumenten zur Einschränkung und Regulierung harmloser, weltweit praktizierter Netzverfahren von der Regierung verabschiedet wird.

Ein Land, in dem eine derart widersinnige, zigfach als problematisch erwiesene und einen weitflächigen Kollateralschaden in Kauf nehmende Initiative von den politischen Entscheidern durchgesetzt wird, offenbart grundlegende Defizite, was die Kompatibilität vorherrschender Werte und Denkweisen mit den neuen Dynamiken des Netzes angeht. Das Leistungsschutzrecht ist dabei ein in Gesetzform gegossener Ausdruck dieser Inkompatibilität. Er zeigt, wie der Deutsche tickt, wenn es darum geht, auf einen ungewohnten Kontrollverlust zu reagieren. Sicherlich existieren Ausnahmen. Wären diese aber die Mehrheit, wären ineffektive und die Grundprinzipien des Internets mit Füßen tretende Vorstöße wie das Leistungsschutzrecht oder das “Zugangserschwerungsgesetz” über ihren Status als absurde Vorschläge einzelner Wirrköpfe nie hinaus gekommen.

Jeder Politiker im Bundestag und Bundesrat, der wider Erwarten doch die Motivation verspürt, auf ein positiveres Abschneiden Deutschlands im Web Index der nächsten Jahre einzuwirken, hat keine andere Wahl, als das Leistungsschutzrecht abzulehnen. Das Internet ist die Voraussetzung für Wohlstand, Freiheit und Demokratie in den nächsten Jahrzehnten, nicht der Axel-Springer-Verlag oder die anderen Befürworter des Leistungsschutzrechts. Solange wir der weit verbreiteten Bewahrer- und Kontrollmentalität nachgeben, untergraben wir das Fundament, das zur erfolgreichen Meisterung des Wandels zur digitalen Wissensgesellschaft erforderlich ist.

Die deutsche Politik steht in der moralischen Pflicht, Deutschland zur Speerspitze und zu einem Vorbild beim Umgang mit der sich durch das Internet wandelnden Wirtschafts-, Gesellschafts- und Sozialordnung zu machen. Dies erfordert einen radikalen Gesinnungswandel, weg von Kontrollwahn und Besitzstandswahrung, hin zu mutiger Experimentierfreude und dem verinnerlichten Motto, alte Strukturen aufgeben zu können, sofern sich daraus ein verbesserter Zustand für viele ergibt. Das Leistungschutzrecht ist genau das Gegenteil.

Crosspost von netzwertig

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