#.Gesetz

Karlsruhe und die antastbare Menschenwürde

von , 19.7.12

Wie gut, dass es ihn doch gibt. Einen deutschen Verfassungsschutz, der unsere Verfassung nicht missbraucht, sondern vor Missbrauch schützt. Wenn auch sehr, sehr spät. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die seit 1993 nicht mehr erhöhten Sozialleistungen für Asylbewerber und Flüchtlingsfamilien menschenunwürdig sind.

In der Urteilsbegründung heißt es, dass

die Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar sind. Die Höhe dieser Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich.

Die ca. 130.000 Flüchtlinge in Deutschland müssen bisher jeden Monat mit 224 Euro klar kommen, das ist bis zu 47 Prozent weniger als der Hartz IV-Regelsatz.

Diese menschenunwürdige Praxis endlich zu beenden, war absolut richtig – dank der klaren Entscheidung aus Karlsruhe.

Aber warum hat es fast 20 Jahre gedauert, bis sich deutsche Politik wieder an deutsches Recht halten muss?

Wieso gibt es für jeden Blödsinn in Deutschland eine lautstarke Lobby, nur nicht für Flüchtlinge?

Warum müssen erst ein kurdischer Irak-Flüchtling und ein in Deutschland geborenes 11-jähriges Mädchen (ihre Mutter stammt aus Nigeria) klagen und es bis vor das höchste deutsche Gericht schaffen, damit sich Bundesregierung und Parlament wieder an Artikel 1 unseres Grundgesetzes erinnern?

Warum ist die Würde des Menschen fast 20 Jahre lang antastbar gewesen?

Und warum ist sie weiterhin antastbar?

Denn der unwürdige Umgang mit Menschen, die einst zu uns kamen, um Schutz zu suchen, geht weit über finanzielle Diskriminierung hinaus.

Foto: Christian Stahl

Flüchtlinge und Asylbewerber dürfen in Deutschland nicht arbeiten. Flüchtlinge und Asylbewerber dürfen in Deutschland nicht frei reisen und den ihnen „zugewiesenen Landkreis“ nicht verlassen. Wer es dennoch tut, um zum Beispiel zum Arzt oder zur Schule zu kommen, dem drohen Bußgelder oder Gefängnis. Das nennt man dann „Residenzpflicht“. Orwell lässt grüßen. Flüchtlinge und Asylbewerber dürfen in Deutschland auch keinen Führerschein machen. Abitur oder Studium müssen von der Ausländerbehörde genehmigt werden.

Der ebenso absurde wie verfassungswidrige Hintergedanke dieser Praxis ist, dass Flüchtlinge ja nur „geduldet“ seien und möglichst nach 6 Monaten Deutschland wieder verlassen sollen. Darum lohne sich keine „Investition“ in Bildung, Ausbildung oder Arbeit. Außerdem solle es ihnen hier bloß nicht zu gut gehen, sonst gefällt es ihnen womöglich noch, und sie wollen sich plötzlich nicht mehr in ihre völlig kriegszerstörten Herkunftsländer abschieben lassen.

Und mit dieser Begründung werden die sogenannten Duldungen dann alle sechs Monate verlängert. Wer nicht abgeschoben werden kann, bleibt im Verbotswahnsinn deutscher Asylpolitik hängen. Fünf, zehn, zwanzig Jahre. Ohne irgendeine Perspektive.

Die meisten der betroffenen Flüchtlinge sind übrigens Kurden und Palästinenser, die gar nicht abgeschoben werden können, da es keine Nationalstaaten Palästina bzw. Kurdistan gibt, und die Länder, aus denen sie geflohen sind, froh sind, die Flüchtlinge los zu sein.

In ihren „Heimatländern“ wurde ihnen alles genommen. In Deutschland dürfen sie nichts aufbauen. Sie dürfen sich nicht einmal frei bewegen. Und das in einem Land, in dem es die Mauer gab.

Ein Beispiel: Die palästinensische Flüchtlingsfamilie, die ich für einen Dokumentarfilm sechs Jahre mit der Kamera begleitet habe, ist wie die anderen 130.000 von der hier geschilderten staatlichen Diskriminierungen betroffen, seit sie 1990 mit drei Kindern und hohem Risiko aus dem völlig zerstörten Beirut flohen.

Statt eines Integrationskurses erhielt Rached E., der Vater, der in Kuwait eine eigene Baufirma leitete, 14 Jahre lang Arbeitsverbot. Einen Blumenladen, den er dennoch eröffnete, musste er wieder schließen. Und Strafe zahlen.

Yehya E., von dem der Film hauptsächlich erzählt, war vier Wochen alt, als er nach Berlin kam, heute ist er 21 und hat die Stadt noch nie verlassen dürfen. Nicht mal zum Schulausflug. Die anderen verreisten, er blieb beim Hausmeister, um den Schulboden zu schrubben. Geld gab es eh keines, von 224 Euro im Monat kann man nicht leben.

Yehya wurde früh kriminell, musste (völlig zu Recht) drei Jahre ins Jugendgefängnis – wo übrigens zu fast 70 Prozent Jungs aus kurdischen oder palästinensischen Flüchtlingsfamilien einsitzen – und gilt bei der Berliner Ausländerbehörde seitdem als ‚böser Ausländer’. Re-Sozialisierung? Unerwünscht.

In der Ablehnung der Erteilung einer Arbeitserlaubnis für Yehya vom 24.01.2011 heißt es wörtlich:

Ferner wiegt im Rahmen der Ermessensabwägung das öffentliche Interesse an Ihrer Aufenthaltsbeendigung stärker als Ihr privates Interesse an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder Teilnahme an einer Berufsausbildung und der damit verbundenen Aufenthaltsverfestigung. Zusätzlich wird berücksichtigt, dass in Ihrem Fall die Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung im Vordergrund steht. Mit dem Zweck der Ausweisung ist alles unvereinbar, was geeignet ist, die Dauer des tatsächlichen Aufenthaltes zu verlängern und bis zur Ausreise persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen im Bundesgebiet zu verfestigen oder gar neu zu knüpfen. Hochachtungsvoll, Z.”

Yehya E. lebt seit über 20 Jahren in Berlin und er wird nie abgeschoben werden können. Die Ausländerbehörde interessiert das nicht. Muss es auch nicht, solange niemand diese unwürdige Missachtung von Artikel 1 Abs. 1 GG stoppt.

Seit der Veröffentlichung des Films habe ich mit sehr vielen Menschen gesprochen, die entsetzt waren, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Ich habe auch mit vielen Politkern, Stadträtinnen, Senatoren, Ministerinnen oder Bürgermeistern über die menschenunwürdige Flüchtlingspolitik in Deutschland gesprochen. Der Tenor war immer derselbe: Da müsste man doch mal was tun. Meine Antwort war auch immer dieselbe. Nicht man. IHR müsst etwas tun. Und zwar jetzt.

Vielleicht stimmt aber auch das nicht. Ihr, das sind immer die anderen. Vielleicht müssen wir selbst, also ich auch, mehr tun. Das erst von einem 11-jährigen Mädchen zu lernen, ist schon etwas beschämend, aber umso richtiger.

Es geht um sehr viel. Um unsere Würde als Rechtsstaat.

Die Verfassungsrichter haben es in ihrem Urteil würdig formuliert:

Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.

Die Menschenwürde muss wieder unantastbar werden. Wer klagt mit mir mit?
 
Crosspost von sagwas.net
 

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