#Altavista

Tomorrow Internet AG – kaufen! Oder was man im Sommer 2000 über das Internet dachte

von , 1.1.11

Manchmal fallen einem ja beim Aufräumen der Bücherregale alte Schätze in die Hand, längst vergessene Bücher oder vom Börsengeschehen schon ewig überholte Analysten-Studien. Dann hält man inne, vergisst die planvolle Absicht Ordnung zu schaffen und beginnt, ungeplant zu lesen.

In einer Studie der Berenberg Bank vom August 2000 (Sektor-Analyse Content Commerce Community) wird in fast prophetischer Weitsicht von der „anhaltend dynamischen Entwicklung des Internets“ gesprochen. Und weiter heißt es: „In der Vergangenheit konnten Unternehmen wie Yahoo, Altavista etc. eine große Nutzerzahl erreichen, in dem sie lediglich den Zugang zu einer großen Menge an unstrukturierten Informationen lieferten. Zukünftig wird es für die Internet-Portale aber darauf ankommen, die Wandlung von der Startseite zum Mehrwertprovider zu schaffen. Nur durch hochwertigen Content und / oder eigene Tools wird es gelingen, die „Stickiness“ also die Verweildauer der Kunden auf der eigenen Seite zu erhöhen und gleichzeitig die Community zu vergrößern. Eine breite Community ist in diesem Segment die Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen“.

Und wer ist nach Meinung der Autoren nun am besten „aufgestellt“, diesen Wettbewerb um die Gunst der Nutzer zu gewinnen? Nicht etwa Google, dieses Unternehmen wird im Jahre 2000 noch nicht einmal erwähnt, nein in der „Berenberg Erfolgsmatrix“ steht Tomorrow Internet mit an erster Stelle: „Wir halten die Unternehmen T-Online (sic!) und Tomorrow Internet für am besten positioniert. … Tomorrow profitiert erheblich von der Kooperation mit der Verlagsgruppe Milchstrasse. Das Unternehmen ist somit in der Lage, hochwertigen Content zu liefern bzw. an der bestehenden Community der Printtitel zu partizipieren“.

Und dann folgt unter der Überschrift „Content goes Online!“ das Kursziel: 37 Euro. Leicht benommen muss ich mich an mein Bücherregal lehnen und lese dann folgenden Satz: „Neben Größe ist unseres Erachtens das Angebot an hochwertigem Content maßgeblich, um im sich abzeichnenden Konsolidierungsprozess der Internet-Portale in Europa eine aktive Rolle übernehmen zu können. Für die daraus resultierende hohe Nachfrage nach Content sehen wir Tomorrow Internet aussichtsreich positioniert. Wir empfehlen die Aktien der Tomorrow Internet zum Kauf.

Habe ich etwa die Chance auf Reichtum verpasst? Nun, heute ist der letzte Tag des Jahres 2010. Viele der in der Studie positiv erwähnten Unternehmen gibt es mittlerweile gar nicht mehr oder nur noch als Pennystock – oder wer erinnert sich noch an die Endemann AG, an Lycos oder Fortunecity? Auch die Tomorrow Internet AG hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Sie fusionierte schon 2001 mit der damals ebenfalls verlustreichen Focus Digital AG und steht heute bei einem Kurs von 3,61 Euro. Meine Blässe ist gewichen – diese Aktien hatte ich zum Glück nie im Portfolio.

Offenbar wurde von den Analysten und den Gründern der beiden Firmen nicht nur der Begriff “Community” als passive Leserschaft falsch gedeutet, auch die Bedeutung – oder besser gesagt – Werthaltigkeit von verlegerischen Inhalten hatten sie gründlich falsch eingeschätzt – oder die Möglichkeit, diese auch im Web zu Geld zu machen. Die Studie sieht das Internet als ein großes digitales Kaufhaus, dessen Waren und Dienstleistungen hauptsächlich über Portale erreichbar sind: “Ein Portal ist ein Eingangstor in die virtuelle Welt und besteht aus einer Portal-Seite, die beim Internet-User oft als Startseite seines Browsers voreingestellt ist. Diese Portale bieten dem Anwender Übersicht und Orientierung.” Wie wir heute wissen, wurden die Aktionäre mit Aktien von Unternehmen reich, die dem Nutzer auf andere Art Übersicht und Orientierung bieten (die ich dann aber leider auch nicht im Depot hatte) und die Hoffnungsträger von damals fordern heute ein gesetzlich garantiertes Leistungsschutzrecht – so ändern sich die Zeiten. Frohes Neues!

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