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Der Wagenknecht-Lafontaine-Komplex oder: Das Leben der Anderen, Teil II

von , 25.11.09

In meinem Arbeitszimmer hängt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme der amerikanischen Fotografin Ruth Orkin: „American Girl in Italy 1951“. Orkin hat für dieses Bild 15 Männer jeden Alters kunstvoll arrangiert: Sie lehnen, sitzen, stehen an einer Straßenecke und betrachten, beäugen und begaffen eine junge Frau, die, sichtlich genervt, an den 15 Männern vorbei muss.

Man könnte Orkins Bild als Allegorie verstehen auf das Verhältnis der deutschen Journaille zur Politikerin Sahra Wagenknecht. Dieses Verhältnis ist so lust- wie angstbesetzt.

Vor einigen Tagen etwa schrieb Jakob Augstein in einem Blogkommentar, er sei Sahra Wagenknecht vor zehn Jahren einmal begegnet, und der Eindruck, der damals bei ihm hängen blieb, war: Diese Frau ist mir unheimlich.

Beim Reporter-Forum im Mai erzählte der erfahrene „Spiegel“-Reporter Cordt Schnibben, er habe anlässlich seiner Recherche zur Titelgeschichte „Lob der Gier“ Sahra Wagenknecht zufällig im Zug getroffen – und sei sehr beeindruckt gewesen von ihr. Es klang, als hätte die Begegnung ein Vorurteil revidiert.

Sahra Wagenknecht entzündet die Phantasie vieler Journalisten. Im Juli z.B. fragte eine BILD-Schlagzeile: „Warum ist Oskar Lafontaine so nervös, Frau Wagenknecht?“ Und im August ließ BILD für alle, die die Anspielung nicht verstanden hatten, noch einmal nachfragen: „Ist Lafontaine ein politischer Verführer, Frau Wagenknecht?“ Gestern fragte BILD: „Wer ist eigentlich diese schöne Kommunistin?“

Und da auch Oskar Lafontaine intensive Gefühle weckt (wenn auch ganz andere), war klar, dass Journalisten, die Billy Wilders Film „Extrablatt“ schätzen, DIESE STORY nicht ungeschrieben vorüberziehen lassen würden – egal, was die ungeschriebenen Gesetze des Hauptstadtjournalismus an Schweigegeboten verlangen mögen.

Freilich gibt es einen eklatanten Mangel an Beweisen. Und deshalb betrachtet man den Fall nun in bester „Tatort“-Manier. Wer hatte ein Motiv, die brisanten „Informationen“ zu streuen? Und warum kam die Veröffentlichung erst jetzt?

Im Fernseh-„Tatort“ ist am Ende meist die betrogene Ehefrau der Täter. Doch die Art und Weise, wie die Spitzeloperation gegen Lafontaine und Wagenknecht abgelaufen sein soll (vier Überwachungsteams!), deutet wohl eher auf Hintermänner als auf Hinterfrauen.

Ein politisches Motiv für das Streuen der „Information“ hatte angeblich der rechte Flügel der Linken. Denn Oskar Lafontaines politisches und persönliches Fernziel ist die Verschmelzung der Linken mit der SPD zu einer starken Sozialdemokratie. Diese Verschmelzung könnte er dem pragmatischen Funktionärs-Mittelbau der Links-Partei aber nur durch persönliche Erfolge aufzwingen. Das heißt: Wenn der charismatische Wahlkämpfer Lafontaine weiter erfolgreich ist (und sein Ergebnis im Saarland deutet ja darauf hin), dann sind die Karrieren einiger Realo-Linker, die mit der SPD nicht fusionieren, sondern bloß kooperieren wollen, gefährdet.

Doch bei aller Phantasie: Trauen wir den Realo-Linken ein derart kompliziertes Doppelspiel zu?

Ein gutes Motiv für die Indiskretion hat angeblich auch die SPD. Wie in der Linken, so fühlt sich in der SPD mancher Apparatschik von der Einheizts-Strategie des ehemaligen Vorsitzenden bedroht. Viele Funktionäre würden lieber mit einer oskar-freien Linken kooperieren als mit dem „Verräter“ nochmal gemeinsame Sache machen. Nach dieser Lesart käme es der SPD sehr zupass, wenn Lafontaine das politische Spielfeld verlassen müsste.

Aber Hand aufs Herz: Sind unsere Sozialdemokraten so gerissen?

Ein staatsschützerisches Motiv (d.h. ein reines Gewissen) hätten zumindest die deutschen Nachrichtendienste. Alarmiert von der Westausdehnung der Linken verschärften sie 2005 ihre Operationen zur Abwehr „politischer Extremisten“. Im März 2006 berichteten die Medien, der saarländische Verfassungsschutz habe Oskar Lafontaine im Visier. Auch andere Landesämter wurden aktiv. Lafontaine und Wagenknecht konnten also davon ausgehen, dass sie unter Dauerbeobachtung stehen. Und die Dienste, auch das sollte man wissen, nutzen für Observationen inzwischen auch Subunternehmer, die sich „Sicherheitsunternehmen“ nennen.

Doch der Verfassungsschutz hat offiziell dementiert, an der kombinierten Oskar-Sahra-Überwachung beteiligt gewesen zu sein. Bliebe der BND, wenn man sich denn unbedingt auf den Standpunkt stellen wollte, dass die Kommunistin Wagenknecht zu ihrem vermeintlichen Treffen mit dem Links-Politiker Lafontaine aus dem Ausland angereist ist.

An dieser Stelle müssen wir das Nachrichtenmagazin „Focus“ erwähnen – als entscheidenden Transmissionsriemen. Dieses Nachrichtenmagazin hat so gute Kontakte zu Geheimdiensten und anderen „Sicherheitskreisen“, dass manche Spötter es auch „Nachrichtendienstmagazin“ nennen.

Der „Focus“ hatte schon die Beobachtung Lafontaines durch den Verfassungsschutz im Jahr 2006 exklusiv gemeldet. Ich zitiere aus der damaligen Geschichte: „Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Oskar Lafontaine, 62, wird vom Verfassungsschutz beobachtet. … Das erfuhr FOCUS aus Staatsschutzkreisen. Die verbalen Amokläufe (sic!) Lafontaines, der Parlamentarier anderer Parteien und/oder Unternehmer jüngst als ‚Schweinebande’ verunglimpft hatte, waren für die Registrierung nicht entscheidend. Den Ausschlag gab vielmehr seine Mitgliedschaft in der als extremistisch eingestuften Linkspartei, der er seit 28. Dezember 2005 angehört.“

Auch die jüngste Enthüllung, Lafontaine und Wagenknecht seien im Dezember 2007 von mehreren Observationsteams wochenlang beschattet worden, meldete der „Focus“ exklusiv. Er berief sich allerdings diesmal nicht auf Staatsschutzkreise, sondern auf Aussagen eines beteiligten „Sicherheitsunternehmens“.

Nun sind Kontakte zwischen Nachrichtenmagazinen und Geheimdiensten völlig normal – so lange beide Seiten ihre Aufgaben klar voneinander abzugrenzen wissen und die Journalisten sich nicht zu nützlichen Idioten oder Helfershelfern der anderen Seite machen. Beim „Focus“ waren solche Kontakte bisweilen… paranormal.

Und so wird im Fall Lafontaine auch die Möglichkeit eines perfiden politischen Spiels über Bande vermutet – so wie schon Willy Brandt 1974 aufgrund von „kompromittierenden Frauengeschichten“ zum Rücktritt gedrängt wurde. Wieder andere sehen alte Stasi-Seilschaften am Werk, die in Lafontaines Okkupation der Partei vielleicht zersetzende trotzkistische Wühlarbeit erkennen.

Vor allem der Zeitpunkt der ominösen Wagenknecht-Lafontaine-„Enthüllung“ lässt viele Deutungen zu: Zufall, Panne, Konkurrenzdruck, gezieltes Timing?

Noch ist nicht einmal klar, ob die Überwachung in der beschriebenen Weise tatsächlich stattgefunden hat? Ob sie vielleicht ein Phantasieprodukt ist? Zumindest der allerorten als Hauptverdächtiger gehandelte Bundesgeschäftsführer der Linken, Dietmar Bartsch, lässt klarstellen, dass Lafontaine am fraglichen Abend gar nicht am Tatort gewesen sein könne, weil er zur gleichen Zeit bei einer Weihnachtsfeier der Linken war. Und Sahra Wagenknecht hätte am fraglichen Abend auch nicht aus Brüssel, sondern aus Straßburg kommen müssen. Der „Focus“ ist uns insofern noch eine Erklärung schuldig. Zu seinen Gunsten nehmen wir an, dass er eine weitere Trumpfkarte in der Hinterhand hält. Zu hoffen ist auch, dass die Rechercheteams des „Spiegel“ ihre verklemmte Geschichte vom 19. Oktober wieder gut machen können. Überhaupt sollten die Leitmedien allmählich beginnen, darüber nachzudenken, ob ihr Lafontaine-Bashing nicht an Lächerlichkeit grenzt.

Im Grunde schreit die Geschichte nach künstlerischer Verarbeitung. Ich könnte mir einen Mann mittleren Alters vorstellen, der auf dem Dachboden über Oskar Lafontaines Köpenicker Wohnung mit Kreide die Lage der Zimmer nachzeichnet und – mit überdimensionalen Kopfhörern ausgestattet – an einem kleinen Tischchen die Strategiedebatten zwischen Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine protokolliert. Ich könnte mir auch Franz Xaver Kroetz als Focus-Redakteur vorstellen, der zusammen mit Dieter Hildebrandt im abgedunkelten Ford Focus in Köpenicker Sicherheitskreisen sitzt. Wir sind gespannt, wie die Filmbranche reagieren wird.

Einerseits wäre die Geschichte die ideale Fortsetzung für Florian Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“. Andererseits fände ich eine Folge in Helmut Dietls geplanter „Kir Royal II“-Satire vielleicht noch passender. Doch ich fürchte, am Ende kauft wieder Bernd Eichinger die Geschichte und macht aus ihr den „Lafontaine-Wagenknecht-Komplex“.

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