von Juliana Goschler, 4.12.12
Martin Voigt ist Doktorand an der LMU München in den Fachbereichen Soziologie und germanistische Linguistik. Sein Forschungsprojekt: Mädchenfreundschaften unter dem Einfluss von Social Media. Als teilnehmender Beobachter treibt er sich auf sozialen Netzwerken herum und untersucht Gästebucheinträge auf wiederkehrende sprachliche Muster. Das ist interessant, denn wenn man als ältere Person über zwanzig nicht selbst mit Teenagern im Netz interagiert, bekommt man solche Texte eher selten zu sehen – sie sind nämlich vor allem dazu da, damit andere Mitglieder der Peer Group, zum Beispiel der Schulklasse, und zwar ausschließlich diese, sie sehen.
Die Forschung Voigts (wie etwa in diesem Forschungsaufsatz dargelegt) beschreibt zum Beispiel zum Teil verfestigte Formeln, die für die Kommunikation zwischen Freundinnen im Netz fast schon obligatorisch sind, etwa so:
ich liebe dich <3 ich liebe dich!! x3 ichliebedich!! beste <3
(S. 24)
Außerdem zeigt sich eine sprachliche Varietät, die sich an gesprochener Sprache orientiert und gleichzeitig durch kreativen, aber systematischen Umgang mit Schreibweisen charakterisiert ist, zum Beispiel so:
ich will das du weist das ich immer für dich da bin eqal was is und eqal wo.!! denn du bist mir säär wichtiq und ich will dich nie mehr verlieren..!
(S. 26)
In dem entsprechenden Aufsatz spekuliert Voigt auch über die Gründe für diese Form der halb-öffentlichen Freundschaftsinszenierung:
Das Ziel ist es, innerhalb der Community zusammen mit der/den besten Freundin/nen vor allem durch zahlreiche Einträge in die Gästebücher einen Bereich ihrer Freundschaft sichtbar abzugrenzen. Damit folgen sie unmittelbar ihrem Bedürfnis nach Anerkennung und Zuneigung, welches in einer altershomogenen Schülergruppe nicht immer bedingungslos gewährleistet werden kann, da soziale Reife und respektvolles Verständnis füreinander in den ersten Jahren der Adoleszenz noch nicht voll ausgeprägt sind.
(S. 9-10)
Spannend nicht nur für Kultur- und Sozialwissenschaftler, sondern auch für Eltern. Wer will nicht einen kleinen Einblick in das Sozialleben der Tochter haben? In dieses Interesse mischt sich bei Eltern natürlich auch immer ein bisschen Sorge um den Umgang und die Entwicklung der pubertierenden Kinder. Wer selber solche Sorgen hat, dem sei von der Lektüre des Artikels über Voigts Forschung im Münchner Regionalteil der Süddeutschen Zeitung vom 30.11.2012 abgeraten. Denn dort wird aus den vorläufigen Ergebnissen Voigts ein Sumpf von Schlüpfrigkeiten, in dem sich unsere Teenagermädchen bewegen.
In der SZ wird etwa aus nicht der Orthographienorm entsprechenden Schreibweisen ein “Niedlichkeitstrick”, deshalb schrieben Mädchen zum Beispiel “sehaaa” statt “sehr”. “Pubertierende Mädchen stilisieren ihre Freundschaft auf Plattformen wie Facebook zur Liebesbeziehung”, wird Voigt weiter zitiert. Aber auch das ist natürlich noch nicht skandalös genug. Sex, Sex muss her! Und so wird aus Schwärmerei und Intimität zwischen Freundinnen ein Spiel mit Homoerotik: “Die Schulmädchen spielen absichtlich mit homoerotischen Klischees”, sagt Voigt dort, und schränkt immerhin selber ein, dass es sich nicht zwangsläufig um lesbische Neigungen handeln müsse. Aber ein gutes Argument dafür, dass es sich hierbei tatsächlich um ein Spiel mit Klischees handelt, bleibt er auch schuldig. Und die nachfolgende Erklärung, das alles sei eine kalkulierte Anmache für die Männerwelt – “Ein bisschen auf lesbische Freundinnen tun und man macht sich für Jungs gleich interessanter” – klingt endgültig so, als müsste Voigt das Verhalten der Mädchen um jeden Preis in sein eigenes Wertesystem und ihm verständliche Verhaltensmuster pressen, wo alles Tun und Lassen von Mädchen und Frauen sich eigentlich nur um Jungen und Männer dreht. Und so etwas sollte einem Sozialforscher eigentlich nicht unterlaufen. Die SZ macht mit dem Schlusssatz des Artikels das Bild komplett:
Die symbiotische Schulmädchenfreundschaft endet in der Regel, wenn sich eines der Mädchen in einen Jungen verliebt. Kommt das andere Geschlecht ins Spiel, hat die allerbeste Freundin ausgedient.
Falls die verängstigten Eltern dadurch noch nicht endgültig in Panik versetzt worden sind, wird das Ganze mit dem Titel “Wenn Schulmädchen zu Lolitas werden” versehen. Und: “Eltern und Lehrer bestätigen den […] Kulturwandel”, ergänzt die SZ. “Kulturwandel!”, schreit das Feuilleton also mal wieder. “Kulturverfall!”, ergänzen einige der Kommentatoren. Noch ordentlich Anrüchigkeit in Form lesbischer Neckerei dazu – fertig ist die Gesellschaftsanalyse zum Wochenende.
Aber hat das irgendetwas mit dem zu tun, was da wirklich im Netz passiert? Müssen sich Eltern, Lehrer und die Gesellschaft Sorgen machen um Teenager-Mädchen? Sind dort völlig unbekannte, vielleicht bedenkliche oder sogar gefährliche soziale Dynamiken zu beobachten?
Sicher ist das Internet eine der größten gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte. Neue Kommunikationsformen sind entstanden, neue Textsorten, neue personelle Vernetzungen. Damit einher gehen natürlicherweise neue Arten von persönlichen Beziehungen, neue Möglichkeiten und Chancen, neue Gefahren. Die Frage ist, wieso hinter den neuen sprachlichen und medialen Formen der Freundschaftsinszenierung eigentlich ein grundlegender kultureller Wandel stecken sollte. Immerhin sind Mädchen- und Frauenfreundschaften nichts Neues, auch nicht romantische Schwärmerei für die Freundin, ebenso nicht der überschwängliche schriftliche Austausch und auch nicht das Öffentlichmachen der Freundschaftsbeziehungen zum Zwecke der Identitätsbildung und Inszenierung nach Außen. Das Genre der “Mädchenliteratur” sowie eine Reihe von Briefromanen zeigen genau dies seit Jahrhunderten. Selbst im Wikipedia-Eintrag zum Thema Freundschaft ist folgendes zu lesen:
So ist der Freundschaftsbegriff in Deutschland und Frankreich z.B. vom literarischen Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts geprägt, der den Übergang von der Zwangsbindung ans Geburtsmilieu zur freien Wahl des sozialen Umfelds (Freunde, Sexualpartner) nach dem Prinzip der „Seelenverwandtschaft“ markiert. Bei Personen, die räumlich voneinander getrennt leben mussten, war hier das wechselseitige Schreiben von Briefen ein wichtiges Mittel zur Pflege von Freundschaft.
Natürlich haben soziale Netzwerke einige Eigenschaften, die neu sind: Die Möglichkeit, eine selbst gewählte Öffentlichkeit für den Austausch zwischen den Freundinnen zu schaffen, die Unmittelbarkeit und die Permanenz der schriftlichen Äußerungen. Um aber tatsächlich einen “Kulturwandel” im Bereich des Konzepts von Freundschaft konstatieren zu können, müsste deutlich mehr gezeigt werden, als ein paar originelle sprachliche Formeln und ein neues Medium, in dem diese ausgetauscht werden. Aber diese Form des Misstrauens und der existenziellen Angst gegenüber neuen Medien ist gerade bei Zeitungen ja fast schon Pflicht.
Und damit hat sich nicht nur bei Mädchenfreundschaften, sondern auch in der Rezeption solcher Phänomene nichts Wesentliches geändert:
1. Ältere Menschen finden das, was Jugendliche machen, sagen oder schreiben, albern, oberflächlich oder dumm. Und trotz aller Verächtlichkeit, mit der man das Treiben der manchmal nur unwesentlich Jüngeren betrachtet, sieht man in deren Handeln schon die Vorboten des drohenden Kultur- und Sprachverfalls. Nicht neu.
2. Freundschaften zwischen Mädchen und Frauen werden abgewertet als Klatsch, Tratsch und Intrigengespinst, unwesentlich und vergänglich. Auch dieses Motiv ist seit Jahrhunderten bekannt. Ebenso wie die Idee, dass liebevoller Umgang zwischen Mädchen und Frauen vor allem den Zweck hätte, die männliche Phantasie anzuregen – und wenn dieser Zweck erreicht sei, wenn also eine der beiden Freundinnnen einen männlichen Partner gefunden hätte, würde die “Freundschaft” – die natürlich keine “echte” sei – sofort aufgekündigt. Auch altbekannt.
Daher bleibt nur das Fazit für Eltern, Lehrer und Kulturpessimisten: Wieder abregen. Sexskandal und Kulturwandel fällt bis auf weiteres aus.
Crosspost von Dr. Mutti