In all den Jahren und durch die leidigen Diskussionen hat man fast den eigentlichen Wortsinn des Solis vergessen: Es geht um Solidarität – also um einen der wichtigsten Faktoren für das gute Gelingen einer Gesellschaft.
von Ron Kellermann, 18.9.19
Jetzt ist er weg, der »Soli«. Zumindest für die meisten. Wissen Sie, wie hoch der »Soli« ist, den sie monatlich oder jährlich bezahlen? Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage in meinem Umfeld hat ergeben, dass niemand eine Ahnung hat. Die meisten Menschen interessieren sich nicht dafür, sie leiden keinen Verzicht und denken nicht darüber nach, was sie sich alles Schönes kaufen könnten. Sie haben den »Soli« als feste Abzugsgröße in ihrem Budget quasi »eingepreist«.
Seine Abschaffung bedeutet also, dass sie etwas bekommen, was sie gar nicht vermisst haben und das sie nicht brauchen. Und diejenigen, die ein Plus im Portemonnaie gut brauchen könnten, haben ohnehin keinen bezahlt. Das heißt also, dass die einen die Abschaffung nicht brauchen, andere nichts davon haben und den Dritten es nicht weh tut, dass sie ihn weiterbezahlen müssen. Für niemanden, für absolut niemanden verbessert sich also das Leben in irgendeiner Weise.
Die Abschaffung des »Soli« kann deshalb als die Linderung eines Phantomschmerzes betrachtet werden, in den sich die große Koalition hineingesteigert hat. In dieser blinden Fixiertheit auf Geld drückt sich ihre schwindende Gestaltungskompetenz aus. Und jetzt steht sie auf der Bühne und wundert sich, dass sie keinen Applaus bekommt, nicht verstehend, dass die Menschen wissen, dass es wichtigere und dringendere Probleme zu lösen gibt als den »Soli« abzuschaffen.
Wie viele Monate hat es gedauert, bis die große Koalition ihren willkürlichen Kompromiss gefunden hat? Wie viele Menschen haben wie viel Zeit damit verbracht? Wie viele Minuten wurden in Radio und TV darüber berichtet? Wie viele Zeilen und Seiten wurden in Print und digital damit gefüllt? Und was hat das alles gekostet?
In all den Jahren und durch die leidigen Diskussionen hat man fast den eigentlichen Wortsinn des »Solis« vergessen: Es geht um Solidarität – also um einen der wichtigsten Faktoren für das gute Gelingen einer Gesellschaft. Der Solidaritätszuschlag und seine Abschaffung haben also auch eine symbolische Bedeutung. Erinnern wir uns daran, dass er eingeführt wurde, um die neuen Bundesländer finanziell zu unterstützen. Ob es kurz vor drei wichtigen Landtagswahlen dort wahlkampfstrategisch clever war, die Solidarität mit ihnen aufzukündigen, darf bezweifelt werden. Viele Prozentpunkte verloren hätten CDU und SPD sicher auch so.
Dass CDU und CSU das solidarische Konzept der Nächstenliebe nur noch anwenden, wenn sie in den Spiegel schauen, ist bekannt. Solidarität war noch nie ihr handlungsleitendes Prinzip. Für die SPD sieht das anders aus. Für sie ist Solidarität der Wesenskern, letztlich sogar ihre Existenzberechtigung. Deswegen gibt es die SPD: damit die Gesellschaft solidarisch bleibt und nicht im neoliberalen Individualisierungs- und »Selbst-schuld«-Eigenverantwortlichkeitswahn atomisiert wird. Und jetzt ist es ausgerechnet ein SPD-Minister, der ohnehin die in Null-Zins-Zeiten nicht nachvollziehbare »Schwarze-Null«-Finanzpolitik seines CDU-Vorgängers weiterführt, der das Gesetz zur Abschaffung des »Solis« einbringt.
Statt dass die SPD für Solidarität eintritt und ein Konzept vorlegt, wie das Geld zweckgebunden solidarisch ausgegeben werden könnte. Statt dass sie sich von den anderen Parteien abgrenzt, ihre ureigene Identität herausstellt und als Partei der Solidarität wieder erkennbar wird.
Denn es ist ja nicht so, dass wir in einer Zeit leben, in der viele Regionen und Kommunen nicht am Stock gehen und ausbluten, weil sie so unterfinanziert sind. Es ist ja nicht so, dass es keine Menschen gibt, die der Solidarität der Gesellschaft bedürfen. Es ist ja nicht so, dass die Milliarden des »Soli« nicht gebraucht werden und sinnvoll eingesetzt werden könnten – für schnelles Internet und flächendeckende Mobilfunknetze in strukturschwachen Regionen, für den Ausbau des ÖPNV in ländlichen Gebieten, für den Erhalt von Stadtbibliotheken und Schwimmbädern in verarmten Kommunen, für mehr als nur 54 Cent Bildungsausgaben für Kinder in Hartz-IV-Familien, für mehr sozialen Wohnungsbau in Ballungsgebieten, für ein Dach über dem Kopf und warme Mahlzeiten für Obdachlose im Winter.
Stattdessen bläst die SPD in das gleiche Horn wie CDU und CSU und hält es für solidarisch, wenn von den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung ein Großteil weniger entlastet und der Rest gar nicht entlastet wird. Was für eine vertane Chance.