von Frank Lübberding, 13.3.13
In der Debatte über die Folgen der Agenda 2010 wird offenkundig viel Unsinn erzählt. So argumentierte gestern Jürgen Trittin, dass die Grünen damals die Einführung von Mindestlöhnen verlangt hätten, sich aber nicht durchsetzen konnten. Nun spielten die Grünen in der Debatte kaum eine Rolle, weil die Hartz-Gesetzgebung ohne die Zustimmung der damaligen schwarz-gelben Bundesratsmehrheit gar nicht verabschiedet werden konnte. Die konnten also viel erzählen – und wenn, argumentierte etwa eine Frau Göring-Eckardt wie eine Neoliberale reinsten Wassers. Sie hatte zwar keine Ahnung, meinte aber mitreden zu müssen. Ihr Interview mit Heiner Flassbeck bei “Maischberger” auf n-tv im Jahr 2004 ist wirklich legendär geworden. Nur kann man deshalb auch die Grünen nicht für die Folgen der Agenda 2010 verantwortlich machen. Die Auseinandersetzung verlief innerhalb der SPD – und mit den Gewerkschaften.
Dabei spielten die Machtverhältnisse im Bundesrat eine zentrale Rolle. Dem wirtschaftsliberalen Flügel der SPD war es so möglich gewesen, über Bande zu spielen. Jeder innerparteiliche Kompromiss konnte spätestens im Vermittlungsausschuss geschreddert werden. Das wusste auch jeder. Dabei war eines klar gewesen: Deren Protagonisten (und das war neben Gerhard Schröder, Frank Steinmeier und Wolfgang Clement eben auch Peer Steinbrück) lehnten gesetzliche Mindestlöhne ab, und zwar mit den gleichen Argumenten wie die Arbeitgeber und die damalige Opposition. Die neoklassische Arbeitsmarkttheorie war hegemonial geworden, inklusive ihrer Irrtümer. Wer dagegen argumentierte, machte sich nur wenige Freunde, soviel kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Da konnte schon eine Buchrezension Beunruhigung auslösen.
Nun hat Franz Müntefering gestern Morgen darauf aufmerksam gemacht, dass “große Gewerkschaften” damals gegen die Einführung von Mindestlöhnen gewesen wären. Das stimmt. Er meint die IG Metall und die IG BCE. Beide fürchteten die Einführung von Mindestlöhnen: Dass gesetzlich festgelegte Lohnuntergrenzen von den Arbeitgebern genutzt werden, um die wesentlich höheren Lohnuntergrenzen in ihren eigenen Tarifverträgen nach unten zu drücken. Das ist der größte Irrtum der Gewerkschaften in der damaligen Debatte gewesen. Einerseits unterschätzten sie die Verwüstungen, die vor allem die Leiharbeit im eigenen Tarifbereich anrichten sollte. IG Metall und IG BCE brauchten noch Jahre, um die Initiative von Verdi zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns als sinnvoll zu akzeptieren. Andererseits hätten sie 2003 mit dieser Forderung einen Hebel gehabt, ihren Kampf gegen die Agenda 2010 in realen politischen Einfluss umzusetzen – und damit den Umbauprozess des deutschen Sozialstaats effektiv zu beeinflussen.
In Wirklichkeit waren die Gewerkschaften nämlich trotz der Proteste gegen die Agenda 2010 politisch irrelevant geworden – und in dem Konzert aus Medien und Politik völlig isoliert. Eine der Folgen war die Erfindung der WASG mit der späteren Gründung der “Linke” durch Oskar Lafontaine. Es ist ja kein Geheimnis, dass das Projekt in einigen Verwaltungsstellen der IG Metall und von Verdi effektiv unterstützt worden ist. Nun hat Sigmar Gabriel in einem Interview die Motivation der damaligen Agenda-Politik geschildert, die übrigens in der IG Metall durchaus erkannt worden war:
“Ich habe schon immer darauf hingewiesen, dass die Agenda 2010 eine große historische Leistung ist, von der wir heute profitieren: Gerhard Schröder hat mit seiner Politik dafür gesorgt, dass Deutschland Industriestandort geblieben ist. Während andere Länder dem Unsinn der New Economy hinterhergelaufen sind, hat er das produzierende Gewerbe verteidigt. Vor allem das ist der Grund, warum es uns heute so gut geht. Das hat wenig mit Frau Merkel und sehr viel mit Gerd Schröder zu tun. Deswegen können wir stolz auf unseren Kanzler sein.”
Das begann keineswegs mit der Agenda 2010, aber das nur als Randbemerkung. Sie war vor allem der Versuch, mit den Folgen einer Politik auf den Binnenmarkt umzugehen, die die Rettung der deutschen industriellen Substanz zum Ziel hatte. Darüber konnte man streiten, wie es in diesem Disput zum Ausdruck kommt. Eine kritische Bestandsaufnahme macht auch Wolfgang Lieb auf den Nachdenkseiten.
Das muss man nicht alles wiederholen. Aber jenseits der Details: Der politische Schaden für die SPD war auf der ideologischen Ebene zu finden gewesen. Im Zuge der Debatte hatte die Partei ihre ideologischen Koordinaten verschoben. Plötzlich waren zentrale Grundsätze sozialdemokratischen Denkens obsolet geworden: Aktive Arbeitsmarktpolitik galt nur noch als Geldverschwendung. Die Gesetzliche Sozialversicherung als überholt – und die Privatisierung der Alterssicherung als Lösung für demographische Veränderungen. Der Keynesianismus mit der aktiven Rolle des Staats war für “moderne Sozialdemokraten” eine Ideologie von vorgestern. Sie argumentierten nur noch wie die Ökonomen des “Instituts der deutschen Wirtschaft” in Köln. Selbst der ideologische Kern der Sozialdemokratie, nämlich, Verteilungsgerechtigkeit des in einer Volkswirtschaft gemeinsam erwirtschafteten Einkommens durchzusetzen, sollte im neuen Grundsatzprogramm durch den neoliberalen Micky-Maus-Begriff “Chancengerechtigkeit” ersetzt werden. Das konnte bekanntlich verhindert werden.
In der SPD machte man in ihrer Geschichte immer Kompromisse. Gute und schlechte. Aber mit der Agenda 2010 wurden teilweise die Grundsätze sozialdemokratischen Denkens über Bord geworfen, und keineswegs nur Kompromisse mit einem wild gewordenen Finanzkapitalismus gemacht. Das ist zwar mittlerweile programmatisch weitgehend korrigiert worden. Nur hinterließ die ideologische Desorientierung in der Mitgliedschaft und bei den Wählern einen Zustand der Verwirrung – oder eben auch Verbitterung. Mit dieser Hinterlassenschaft hat die SPD bis heute zu kämpfen. Und deshalb erzeugt die Debatte über die Agenda 2010 immer noch jene Emotionen, die wir in diesen Tagen wieder erleben.
Crosspost von Wiesaussieht