#Corona-Krise

»Zero Covid«: Eine rasche und umfassende Öffnung ist möglich

Wenn es möglich ist, von 1000 auf 100 Fälle pro Tag zu kommen, und von 100 auf 10 Fälle pro Tag, warum ist es dann nicht möglich, von 10 auf 1 und dann von 1 auf 0 Fälle pro Tag zu kommen?

von , 22.12.20

Europa ächzt unter der zweiten Welle, der Schlingerkurs der Politik hat uns einen zweiten Lockdown von ungeahnter Dauer beschert. Dass es auch anders geht, zeigt die »Zero Covid«-Strategie, die im asiatisch-pazifischen Raum erfolgreich zur Anwendung kam. Beraten wurden sie dabei unter anderem von Yaneer Bar-Yam. 

English version

Die Corona-Pandemie dauert nun schon mehr als ein Jahr an, und es könnte nicht deutlicher sein, welche Strategien gegen das Virus erfolgreich waren und welche versagt haben. Umso mehr jetzt, da wir es mit einem mutierten, sich schneller ausbreitenden Stamm des Coronavirus zu tun haben, ist es noch wichtiger, dass die Länder, die versagen, von denen lernen, die erfolgreich sind.

Mein Land, die Vereinigten Staaten, gehört eindeutig zu den Ländern, die versagen: Wir leiden unter einer Rekordzahl von COVID-19-Infektionen und werden wahrscheinlich mit einer Vielzah Todesfällen und Krankheiten konfrontiert sein, während wir mehrere Monate auf die vollständige Einführung von Impfstoffen warten, und das Leiden könnte durch den neuen Coronavirus-Stamm, der in Großbritannien identifiziert wurde, noch verschlimmert werden. Auch Deutschland, das innerhalb Europas einst als Vorbild für seinen Umgang mit COVID-19 galt, hat sich im Vergleich zu vielen asiatisch-pazifischen Ländern, die sich für eine »Null-Covid«-Strategie entschieden haben, nicht gerade gut geschlagen.

Demgegenüber steht etwa Thailand mit einer Bevölkerung von 69 Millionen, aber nur etwa 60 Todesfälle durch COVID-19 seit Beginn der Pandemie. In Deutschland hingegen – mit 83 Millionen Einwohnern – gab es mehr als 26.000 Todesfälle. Hinzu kommt, dass Deutschland derzeit im Lockdown ist, während das Leben in Thailand nahezu normal ist. 

Auch Bürgerinnen und Bürger von Neuseeland, Australien, Taiwan und Vietnam genießen ein nahezu normales Leben, weil ihre Regierungen die richtigen Entscheidungen getroffen haben: Sie haben sich für eine »Zero Covid«-Strategie entschieden. Und das trotz der nach wie vor vorhandenen Notwendigkeit, auf gelegentliche kleine Ausbrüche zu reagieren. 

Im März habe ich in Konsultationen mit der Wirtschaftsvereinigung YPO Business Group dazu beigetragen, Australien zu einer »Zero Covid«-Strategie zu raten. Nach unseren Beratungen schrieb YPO Australien einen Brief an Premierminister Scott Morrison. Darin formulierten sie:

Wir schreiben Ihnen als Mitglieder der australischen Geschäftswelt, die ernsthaft über die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie besorgt sind. Die Unternehmen unserer Organisation repräsentieren mehr als 10 Prozent des australischen Bruttoinlandsprodukts, und wir beschäftigen Hunderttausende, sogar Millionen von Australiern in allen Branchen, einschließlich Gesundheitswesen, Einzelhandel, Transport, Technologie, Immobilien und Bauwesen, Finanzdienstleistungen, Gastgewerbe und Bildung. 

Als Organisation fordern wir die Regierung dringend auf, auf den Rat von Yaneer Bar-Yam zu hören, dessen Richtlinien erfolgreich von Singapur, Südkorea, China (mit Verspätung) und Vo (einer Stadt in Italien) befolgt wurden. 

Wir fordern die Regierung auf, eine sofortige vierwöchige harte und vollständig durchgesetzte Abriegelung Australiens durchzuführen, um katastrophale Folgen für die öffentliche Gesundheit und schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen zu vermeiden. 

Wenn es keine harte Abriegelung gibt, werden die wirtschaftlichen Kosten und der Verlust von Menschenleben exponentiell höher sein. Es ist eine Wahl zwischen einer kurzen, hocheffektiven Abriegelung oder einer sehr ausgedehnten, von der Gemeinschaft gesteuerten und meist ineffektiven Abriegelung. Es ist eine Wahl zwischen scharfem, aber überschaubarem Schmerz und anhaltendem, kumulativ viel größerem und unkontrolliertem wirtschaftlichen Schmerz.

Australien hat ebenso wie Neuseeland, Taiwan, Vietnam und Thailand die Übertragung von COVID-19 durch den »Zero Covid«-Ansatz effektiv unterbunden. Europäische Länder, die die »Zero Covid«-Strategie bisher als zu schwierig oder kostspielig eingeschätzt haben, könnten mit dieser Strategie COVID-19 vor der vollständigen Einführung eines Impfstoffs eliminieren. Denn seit März ist klar geworden, welche Elemente für eine erfolgreiche Zero-Covid-Strategie entscheidend sind. Ich möchte sechs Punkte aus den Erfahrungen im asiatisch-pazifischen Raum hervorheben, deren Anwendung sich grundsätzlich weltweit empfiehlt:

1. »Zero Covid« anzustreben bedeutet, jede einzelne Neuinfektion als »Bedrohung der nationalen Sicherheit« behandeln. Im Gegensatz dazu zielen die Behörden in den Vereinigten Staaten und Europa darauf ab, die COVID-19-Fälle auf einem »überschaubaren Niveau« zu halten. Leider ist zu zu diesem Zweck permanente »sanfte Abriegelung« erforderlich, um zu verhindern, dass das »überschaubare« Niveau der Übertragung von Fällen in ein exponentielles Wachstum umschlägt, und kein Land war bisher in der Lage, eine solche Abriegelung längere Zeit durchzuhalten. 

2. Wenn die Übertragung in der Gemeinde zum ersten Mal auftritt, verhängen Sie kurze, strenge Abriegelungen –- kombiniert mit Masken, Ortung und Belüftung – um auf null Fälle zu kommen. Im Gegensatz dazu warten die Behörden in den USA und in Europa oft mit der Verhängung restriktiver Maßnahmen, bis sich die Krankenhäuser der vollen Kapazität nähern, und verhängen dann oft nur »weiche Abriegelungen«.

3. Isolieren Sie infizierte Personen und ihre Kontaktpersonen in »Quarantäne-Hotels« oder anderen geeigneten Einrichtungen. Im Gegensatz dazu raten die Behörden in den USA und Europa Infizierten und ihren Kontakten, sich selbst in Quarantäne zu begeben. Diese Personen infizieren jedoch häufig ihre Mitbewohner oder brechen gar die Quarantäne und infizieren andere.

4. Verhindern Sie die Einschleppung neuer Fälle durch obligatorische Quarantäne für Reisende aus »roten Zonen«. Im Gegensatz dazu können Reisende in den USA und in Europa Orten eine Quarantäne oft durch Vorlage negative PCR-Tests vermeiden, die eine zu hohe Fehlerquote aufweisen. Zudem werden Quarantäneaauflagen in der Regel nicht streng genug durchgesetzt.

5. COVID-freie »grüne« Zonen können wieder geöffnet werden, während Reisen aus »roten Zonen« deutlich eingeschränkt werden. Im Gegensatz dazu werden in den USA und Europa Regionen bereits geöffnet, bevor die Übertragung vollständig unterbunden wurde. Wenn der Status »grüne Zone« in einzelnen Regionen erreicht wird, schützen die Behörden diese nicht durch Reisebeschränkungen.

Es gibt in Europa und den Vereinigten Staaten durchaus Stimmen, die grundsätzlich anerkennen, zu »Zero Covid« kommen zu können, die konkrete Umsetzung jedoch für »zu kostspielig« oder anderweitig nicht umsetzbar halten. Wenn jedoch, wie derzeit, eine zwar langsame, aber stetige Übertragung stattfindet, ist die Reihe von Maßnahmen, die erforderlich sind, um exponentielles Wachstum der Übertragungsfälle zu verhindern, sowohl kostspielig als auch unendlich. Ohne wirtschaftlich einschneidende Maßnahmen dürfte daher garantiert eine weitere Covid-Welle auftreten, die noch höhere Kosten sowie den zusätzlichen Verlust von Gesundheit und Leben erfordert. 

Je größer die Zahl der Fälle pro Tag ist, desto kostspieliger ist es, das Virus einzudämmen. Je zielgenauer die Maßnahmen, desto geringer die Zahl der neuen Fälle. So kann das Virus mit weniger sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Kosten für den Rest der Pandemie kontrolliert werden. 

Bei einigermaßen gut umgesetzten Maßnahmen bedeutet eine Null-Übertragung in der Bevölkerung, dass das Leben in der Region wieder annähernd normal weitergehen kann. Die normale soziale und wirtschaftliche Aktivität im Einzelhandel, in Restaurants und Bars kann wieder aufgenommen werden. Einschränkungen im internationalen Reiseverkehr sind ein viel geringerer Preis als die Kosten für Einschränkungen im Inland, um eine Übertragung zu verhindern. Wachsamkeit ist gefragt: Es kann zu einem Ausbruch kommen, aber genau wie bei der Brandbekämpfung ist es weniger kostspielig, solche Maßnahmen sporadisch zu ergreifen, als kontinuierlich zu kämpfen. Ausbrüche können lokalisiert werden, so dass nur ein kleiner Teil des Landes oder Staates betroffen ist.

Das vielleicht häufigste Argument gegen die Zero-Covid-Strategie ist, dass es schlechterdings unmöglich sei, Infektionen in Regionen oder Gemeinden vollständig zu eliminieren. Aber wenn es möglich ist, von 1000 auf 100 Fälle pro Tag zu kommen, und von 100 auf 10 Fälle pro Tag, warum ist es dann nicht möglich, von 10 auf 1 und dann von 1 auf 0 Fälle pro Tag zu kommen? Es ist einfach eine Frage der Geduld. Je kleiner die Anzahl der Fälle ist, desto einfacher ist es, sie proportional zu reduzieren, da die Ressourcen für Tests, Kontaktverfolgung und Quarantäne viel effektiver werden und den wenigen verbleibenden Fällen gewidmet werden können. Und wenn es unmöglich ist, Covid-19 zu eliminieren, wie ist es dann so vielen Ländern bereits gelungen, genau das zu tun?

Im Sommer reduzierten viele Länder, darunter die Schweiz und Österreich, ihre bestätigten Fallzahlen auf weniger als 20 pro Tag, ebenso wie mehrere Bundesländer in Deutschland, öffneten sich dann aber wieder. Danach blieb die Zahl der Fälle noch eine Weile niedrig. Aber die Dinge begannen sich zu ändern, als die Quarantäneeffekte der vorherigen Abriegelung nachließen. Wie in dem Brief an den australischen Premierminister Morrison vorhergesagt, war eine zweite Welle unvermeidlich. Auffallend war, wie nah einige europäische Länder und deutsche Bundesländer an der Eliminierung waren: Wenn es möglich war, die Zahl der Fälle pro Tag über einen längeren Zeitraum annähernd konstant zu halten, dann ist es logisch, dass schon ein geringfügig höheres Maß an sozialer Distanzierung dazu geführt hätte, dass die Fallzahlen exponentiell gesunken wären und schließlich Null erreicht hätten. 

Die vollständige Eliminierung der Infektionen hat kurzfristig höhere Kosten, strengere Maßnahmen zur sozialen Distanzierung müssen länger aufrechterhalten werden. Wenn man jedoch bedenkt, dass die Aufrechterhaltung von »Zero Covid« weniger kostspielig ist ihre Alternativen, und wenn man bedenkt, dass eine Massenimpfung noch mindestens 6-12 Monate entfernt ist, ist es eine kurzfristige Investition wert, um die langfristigen wirtschaftlichen Kosten zu reduzieren. Dies steht im Einklang mit der Rettung von Leben und der Abwendung langfristiger gesundheitlicher Folgen.  

Außerdem ist es viel schneller, die Übertragung innerhalb eines Ortes auf Null zu reduzieren, als dies in einem ganzen Staat zu tun. Optimal ist ein Ansatz der »Grünen Zonen«, bei dem die Gebiete nach und nach geöffnet werden können, wobei der freie Verkehr zwischen den krankheitsfreien Regionen erlaubt ist. Die Zonen helfen nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Nachbarn, ihrem Land und der Welt: Der Anreiz, in eine grüne Zone reisen zu dürfen, gibt den roten Zonen einen Anreiz, sich zu verbessern. Wenn ein importierter Fall einen Ausbruch verursacht, bleiben die meisten Zonen zu einem bestimmten Zeitpunkt wirtschaftlich offen. 

Es ist sicherlich verlockend, Abstandsregeln aufzuheben, wenn die Übertragung gering ist, so wie es anfangs verlockend war, sie nicht zu verhängen.  Aber ein solches Denken ist kurzfristig und basiert auf der geringen Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum infiziert wird, wenn die Ausbreitung gering ist. Längerfristig betrachtet ist es weniger kostspielig, früher als später zu handeln, und weniger kostspielig, die Übertragung in der Gemeinschaft zu eliminieren und Importe zu bekämpfen, als ständig Maßnahmen aufrechtzuerhalten, die notwendig sind, um weitere Wellen und Jo-Jo-Beschränkungen zu verhindern.

(Aus dem Amerikanischen von Lukas Franke unter Zuhilfenahme von DeepL)


Yaneer Bar-Yam ist Gründer der Initiative endcoronavirus.org

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