von Daniel Leisegang, 5.1.11
1. Beeindruckt haben mich im vergangenen Jahr besonders die Menschen, die in den Straßen Stuttgarts und nahe Gorleben auf der Schiene demonstrierten. Nicht allein die schiere Menge der Demonstranten bewegte mich, sondern vor allem ihr gemeinsamer Wille, nicht länger hinzunehmen, was „da oben“ vor sich geht, und sich mit ganzer Kraft gegen die als undemokratisch wahrgenommenen Entscheidungen zu stemmen.
Wenig ist jedoch geblieben vom Aufbäumen des Citoyen: Die Geißlersche Schlichtungsrunde hat den schwäbischen Volkszorn kanalisiert und weitgehend zum Verstummen gebracht. Und während die Castorgegner die Zustellung von Atommüll sabotierten, beschlossen Union und FDP die Abkehr vom Atomausstieg.
.
2. Wohin aber wendet sich nun die Wut des „Wutbürgers“? Ein von den Protesten weitgehend unbeeindruckter Politikbetrieb, aber auch die Angst vor den gegenwärtigen Krisenszenarien – von einer sich abzeichnenden Energiekrise über das derzeitige Finanzchaos bis zum drohenden Klimakollaps – dürften neben der politischen Frustration auch die Zukunftsunsicherheit der Bürger wachsen lassen. Mit anderen Worten: Die (staats-)bürgerlichen Konstanten geraten weiter ins Wanken.
Damit aber könnte sich der staatsbürgerliche Zorn am Ende in antibürgerliche Rage wandeln. Erst vor wenigen Wochen machte das aus dem Französischen ins Deutsche übertragene Manifest „Der kommende Aufstand“ von sich reden, in dem sich, unterlegt mit rechten Grundtönen, das Unbehagen über die kapitalistische und mit ihr auch gleich über die gesamte moderne Gesellschaft ausdrückt.
In dieser Schrift offenbart sich exemplarisch das sinistre Antlitz der Wut. Die Anleitung zur Revolution kippt in ihrer Sehnsucht nach einem Schmittschen Dezisionismus in ein antimodernes Weltbild und sucht statt demokratischer Partizipation den Ausnahmezustand: „Entscheiden ist nur in Notsituationen lebenswichtig, wo die Ausübung der Demokratie ohnehin fraglich ist. In der restlichen Zeit besteht das Problem des ‘demokratischen Charakters des Entscheidungsprozesses’ nur für Fanatiker der Prozedur.“
Mit den Anleihen an Martin Heidegger und Carl Schmitt werden aber zugleich elementare Werte der Aufklärung wie Menschenrechte, Gleichheit und Gerechtigkeit über Bord geworfen. Stehen wir somit am Anfang eines Jahres, in dem sich die angebahnte Enttäuschung mehr und mehr in politische Destruktion verwandelt? Längst werden in europäischen Städten wieder brutale Bombenanschläge verübt, zu denen sich anarchistisch-revolutionäre Gruppen bekennen.
Aber nicht nur in Europa gärt es: Weitaus weniger schmittianisch, doch ähnlich entschieden und wortgewaltig ertönt es zu Jahresbeginn aus dem Nahen Osten. In einem noch druckfrischen Pamphlet schreit sich die Jugend von Gaza den Frust aus dem Leib: „Fick dich, Hamas. Fick dich, Israel. Fick dich, Fatah. Fick dich, UN. Fick dich, UNWRA. Fick dich, USA!“
Auch hier bricht sich in erster Linie lautstark Zorn über die zweifelsohne menschenunwürdige Lage in Palästina Bahn. Nur noch mit letzter Kraft hält die dortige junge Generation an modernen Begriffen fest: “In uns wächst eine Revolution heran, eine riesige Unzufriedenheit und Enttäuschung türmt sich auf. Gelingt es uns nicht, diese Energie in etwas umzuwandeln, das den Status quo infrage stellt und uns etwas Hoffnung gibt, dann wird sie uns zerstören.”
Hoffnung? Hans Hütt sieht – hier auf Carta – in dem Manifest „Der kommende Aufstand“ die französische Antwort auf Cormac McCarthys apokalytptischen Roman „The Road“. In der Tat: Die drängenden Fragen des nächsten Jahres und vielleicht sogar der nächsten Dekade dürften lauten: Wie stellen wir den krisenhaften Status Quo in Frage? Oder anders: Woran orientieren wir uns noch in diesen Zeiten?