von Michael Bader, 3.9.13
„Syrien ist zur großen Tragödie dieses Jahrhundert geworden“
António Guterres, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge
Die Welt ist aufgeschreckt durch die Nachrichten, die aus diesem Land kommen, und von den Plänen, die man in westlichen Hauptstädten fassen will. Zumindest Obama und Hollande möchten militärisch intervenieren.
Was wussten wir vor zwei Jahren über dieses Land, an dem sich nun ein neuer Krieg entzünden könnte? Liegt am Mittelmeer, war da nicht dieser Assad Präsident, ist nicht Aleppo eine schöne Stadt? Da gab’s doch auch diese Kreuzfahrerburgen, oder? So war ungefähr der Wissensstand vieler westlicher Menschen, wenn man sie 2010 nach Syrien gefragt hätte.
Auch, nachdem dort die Proteste gegen den Assad-Clan begannen, der Syrien seit 1970 im Würgegriff hält, war das Interesse verhalten. In Europa und den USA tobten Banken- und Finanzkrise. Aus dem Protest im Zuge der sog. Arabellion 2011 wurde immer mehr ein blutiger Bürgerkrieg. Die Opposition, die in den ersten Monaten brutale Übergriffe von Seiten des Syrischen Staates zu erdulden hatte, militarisierte sich im Herbst/Winter 2011, und nun begann der eigentliche Syrische Bürgerkrieg. Der hat sich immer mehr zu einem Krieg entwickelt, der zunehmend entlang konfessioneller und ethnischer Linien verläuft, und in dem verschiedene Staaten aus vielerlei Gründen einen Stellvertreterkrieg führen.
Syrien ist ein kompliziertes Land. Über kulturelle, religiöse und ethnische Grenzen hinweg schufen die Franzosen 1919 aufgrund ihres vom Völkerbund verliehenen Mandats über Syrien einen Staat, der sich, ähnlich wie der Libanon, aus sehr vielen Gruppen zusammensetzt.
Eine Gruppe, die der Alawiten, die in der osmanisch-arabisch-sunnitischen Gesellschaft Syriens weit unten gestanden hatte, bot sich für die neuen Herren Syriens als Helfershelfer in der neuen französisch-syrischen Armee an. Sie hatten wenig zu verlieren und sehr viel zu gewinnen. Überdurchschnittlich viele Alawiten machten Karriere in der Armee und bildeten so einen “Stamm” der Offiziere, gerade in der Luftwaffe, der mit dazu beitrug, dass der Alawit und Offizier Hafiz Al-Assad 1970 sich an die Macht putschen konnte. Viele Alawiten stiegen anschließend im neuen System auf.
Dieses System, das die dominierenden 70 Prozent der syrischen Sunniten benachteiligte, ließ sich nur durch brutale Gewalt dauerhaft aufrechterhalten. Dass es überhaupt solange gehalten hat, lag wohl an einem der repressivsten Systeme im Nahen Osten neben dem Iran und Saudi Arabien. Syrien war vor 2011 ein absoluter Polizeistaat, selbst im Vergleich mit Ben Alis Tunesien oder Mubaraks Ägypten, und ohne freie ausländische Presse. Die diktatorische Herrschaftsweise sorgte für Unmut, zumal in der arabischen Bevölkerung der Wunsch nach politischer Partizipation stieg.
Besonders die sunnitische Landbevölkerung litt unter den Handlungen des Assad-Regimes. Verstärkt wurde dies durch eine Trockenperiode und die Bevorzugung der Metropolen bei der Wasserversorgung, was Landflucht in die Städte zur Folge hatte, die daraufhin noch mehr Wasser brauchten. (2010 berichtete auch der Deutschlandfunk über die Wassernot in Syrien.)
Angeheizt wurden die Entwicklungen, wie in einem großen Teil der arabischen Welt, durch eine ungeheure Bevölkerungsexplosion. Von 6.299.000 Menschen 1970 wuchs das Land auf 20.960.588 Einwohner 2010. Damit war und ist bei vielen jungen Syrern Perspektivlosigkeit verbunden; die soziale Komponente ist eine starke Triebfeder der gesamten Arabellion.
Mohamed Bouazizis tragische Selbstverbrennung nach der Schließung seines Gemüsestands am 17.12.2012 war der Funke im Pulverfass: er löste Massenproteste in Tunesien aus, die zu einer Kettenreaktion führten.
Die Bevölkerungsexplosion und die damit verbundene soziale Komponente sind sehr wichtig für das Verständnis der gesamten Arabellion, nicht nur für den syrischen Aufstand. Denn natürlich geht es nicht nur um „Friede, Freude, Demokratie“, “böser Diktator hier – gute Rebellen dort“, sondern um ganz existenzielle Interessen. Das wird leider in den Medien zu wenig beleuchtet, die gesamte politische Situation wird leider recht einseitig dargestellt. Auch die Verbrechen von Teilen der Opposition wurden lange ignoriert. Das führte dazu, dass viele Menschen in Europa und den USA Medien keinerlei Vertrauen mehr schenken. Wirtschaftliche, soziale und politisch Partizipation, die Möglichkeit, für sich selbst eine wirtschaftliche Perspektive zu sehen, rückten in weite Ferne. Doch genau dies ist das Hauptanliegen vor allem der jungen Araber.
Nachdem das syrische Regime diesen Wünschen nicht nachkam, sondern sie im Gegenteil mit Gewalt beantwortete, schwieg die Welt. Assad wurde zwar scharf verurteilt, doch eine Reaktion blieb aus. Zu diesem Zeitpunkt wäre eine friedliche Klärung vielleicht möglich gewesen, wäre man auf Russland zugegangen und hätte Putin garantiert, dass man auch mit Assad reden würde. Doch man zeigte sich sehr menschenrechtsfreundlich, argumentierte, man könne mit solchen Despoten nicht reden, und unterstützte gleichzeitig tatkräftig Saudi-Arabien. Die dort herrschende Familie Al Sa’ud ist Bewahrer einer steinzeitlichen Diktatur: eigene Leute werden umgebracht, die Protestbewegung im Nachbarland Bahrain wurde mit ihrer Hilfe niedergeschlagen. Doch im Gegensatz zu Assad ist Saudi-Arabien ein Feind des Iran. Und es sieht aus, als dürfe, wer ein Feind des Iran ist, wie Saddam Hussein Giftgas benutzen, brutale Diktaturen unterhalten und dennoch Förderung aus dem Westen erhalten. So unterstützte das BKA bis Ende 2010 Ägypten und Tunesien bei der Internetüberwachung.
Die Chance, diesen Konflikt zu befrieden, wurde verpasst. Aus Monaten wurden Jahre, die Fronten wechselten. Immer mehr Kämpfer aus dem Ausland strömten und strömen nach Syrien. Immer mehr Staaten verfolgten auf dem Rücken des syrischen Volkes ihre Interessen. Dieser Konflikt wurde immer mehr zu einem Konflikt entlang der fragilen syrischen Volks- und Interessengruppen. Immer uneiniger wurde die Opposition, die in 40 Assad-Jahren nicht gelernt hat, zu verhandeln – die Notwendigkeit hat angesichts des fehlenden Einflusses einer Zivilgesellschaft nie bestanden.
Immer mehr Alawiten stärkten den Assad-Clan, da sie befürchten müssen, mit den Assads unterzugehen. Immer mehr Menschen verlassen ihre Heime oder sterben. So befinden sich rund 2 Mio. Menschen auf der Flucht im Ausland, mehr als 4 Mio. Menschen sind innerhalb Syriens auf der Flucht. Dieser humanitären Katastrophe begegnet die EU nur mit den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein. 5000 Menschen soll die Bundesrepublik aufnehmen, 10 000 die EU: aber jeden Tag fliehen allein 6000 Menschen. Es ist unabdingbar, dass die EU nicht 10 000 Menschen aus Syrien aufnimmt, sondern mindestens 100 000, wenn nicht 500 000.
Natürlich wird das Milliarden kosten. Wenn man sieht, was die Flüchtlingsströme in Ländern wie Jordanien auslösen, das nur über eine der drei kleinsten Wasserreserven der Welt verfügt, oder was es für Länder wie Libanon oder den Irak bedeutet, die selbst vor dem politischen Zerfall stehen, wäre dieses Geld gut angelegt. In diesen Ländern könnte die durch Syrien ausgelöste humanitäre Katastrophe zur politischen Katastrophe und weiterer Destabilisierung im Nahen Osten führen.
Dieses Geld wäre gut angelegt, wenn man sich an die Folgen der afghanischen Flüchtlingsströme der 90er-Jahre erinnert: Die desillusionierten, von der Welt vergessenen Jugendlichen der Flüchtlingslager schlossen sich islamistischen Gruppierungen an. Später sollte man diese Menschen, die sich in den dortigen Koranschulen betätigten, Taliban nennen.
Bei einer Bevölkerung von 500 Millionen Menschen sollte die EU in der Lage sein, 500 000 Menschen zu integrieren. Die Kinder müssen ausgebildet und statt einer verlorenen und dann womöglich radikalisierten Generation nach Syrien geschickt werden. Wer einem solchen Programm aus humanitären Gründen zustimmen kann, sollte diese Möglichkeiten zumindest im Blick haben. Terror fällt nicht vom Himmel. Man bekämpft ihn am besten, indem man an die Ursachen geht, statt für viele Milliarden eine flächendeckende Infrastruktur aufzubauen, die nur die Symptome bekämpft.
Syrien braucht keine neuen Bomben und Gewalt, sondern endlich echte Friedensgespräche auf Augenhöhe, um die Interessen der verschiedenen syrischen Akteure wie der internationalen Verbündeten zu koordinieren. Zielsetzung einer Friedenskonferenz sollte die Anerkennung der faktischen Dreiteilung der Macht in Syrien sein. Eine Möglichkeit wäre die Bildung dreier neuer Staaten bzw. autonomer Regionen, etwa nach dem Vorbild von Bosnien und Herzegowina.
Dort war die Konfliktlage ähnlich. Bosnische Serben, bosnische Kroaten und Bosniaken bekriegten sich in einem furchtbaren Bürgerkrieg. Heute besteht der Staat im Prinzip aus zwei Staaten: Bosniaken und Kroaten bilden auf der einen Seite die „Föderation Bosnien und Herzegowina“, die Serben auf der anderen Seite die „Republika Srpska“. Alle drei Gruppen bilden im Staatspräsidium von Bosnien und Herzegowina gemeinsam die Regierung unter drei Präsidenten. Für Syrien könnte das heißen: ein/e alawitische Präsident/in, ein/e Kurd/e-in und ein/e Sunnit-in. Drei Territorien, ein alawitisches mit Damaskus und der Region Latakia im Westen, ein sunnitisches im Norden um die Region Aleppo, ein kurdisches im Osten.
Die Kurden hätten ihren zweiten Staat, der vielleicht irgendwann mit der Autonomen Region Kurdistan-Irak im Nordirak vereint würde. Die Golfstaaten hätten den Iran und Assad dauerhaft geschwächt, der Iran behielte seinen Verbündeten, Russland seine Marinebasis.
In der alawitischen Region lägen die Häfen, in der sunnitischen die Industrie, im Kurdenstaat das Erdöl. Alle drei Teile wären also gezwungen, wirtschaftlich zu kooperieren.
Vielleicht könnten so die Staaten eines Tages wieder zusammenwachsen.
Das ist die einzige Perspektive, die ich für dieses Land sehe. Sonst wird dieser Bürgerkrieg ewig weitergehen, unterstützt von verschiedenen ausländischen Mächten und die instabile Region weiter aufheizend. Sollte dies geschehen, würde sich der Westen mitschuldig machen an der laut UN schlimmsten menschlichen Tragödie seit Ruanda 1993.