von Klaus Vater, 6.7.16
Wolfgang Gründinger schrieb auf Zeit online, Brexit sei „nicht der erste Fall von Alte-Säcke-Politik“. Schon früher hätten die Alten den Jüngeren das Fell über die Ohren gezogen: „Die Gestrigen sind viele und stimmen die Zukunft der Wenigen nieder.“ Und: „Die Alten haben uns unser Europa geraubt.“
Ob´s stimmt ist nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung fraglich, denn es gebe keine belastbaren statistischen Daten über die Altersverteilung beim Brexit-Referendum, schrieb die Zeitung. Stimmt: Exit Polls und aussagereife Analysen im Anschluss an den Brexit gibt es nicht. Macht wohl nix – nach Schließung der Wahllokale war man sich einig: Die Alten waren es. Auf einer solchen Grundlage zu erklären: „Die Alten haben uns Europa geraubt“, ist dreist. In der Vorstellungswelt Gründingers schlurfen eben die Alten in langen Kolonnen und breiten Strömen verbissen zu den Wahlurnen, andere werfen ihre Rollatoren an, um geschlossen wie „Hells Angels“ zur Abstimmung zu rollen, während die Jungen…, ja was haben die eigentlich am Brexit-Tag getan? Vielleicht waren die vom gedanklichen Hipster-Kram der Gründingers so verwirrt, dass sie den Weg zur Wahlurne nicht finden konnten.
Die Theorie von den vampirhaften „alten Säcken“
Gründinger arbeitet stets und ständig mit drei „methodischen“ Ansätzen:
- Mit „weichen“ Belegen, die sich verflüchtigen, wenn man zur Lupe greift.
- Nach der „Pfirsich“-Methode: Außen weich und innen hart – er kritisiert in netter Weise eine „Opakratie“, die aber so hartgesotten ist, dass sie die Jungen niederstimmt.
- Überwiegend mit pauschalen Begriffen, mit Kampf- und Gegnerschafts-Begriffen: Die Alten, die Jungen, die Gestrigen, die alten Säcke.
Erstaunlich ist, dass sein „Markenkern“ – das ist die Theorie von den vampirhaften „alten Säcken“ – noch keine Feministinnen auf den Plan gerufen hat. Denn bei Gründinger werden die älteren Frauen ab 50 oder 60 Jahren und die nach noch älteren Frauen mir-nichts-dir-nichts in den großen Sack der „alten Säcke“ gesteckt. Im Gender- Universum breiten sich sonst stets Schockwellen aus, sobald solch „schwarze Sonnen“ wie die geschlechterübergreifende Theorie von den „alten Säcken“ erscheinen. Hier aber: Nichts.
Ein „Zukunftslobbyist“ in der Zeitmaschine
Als ich seinen Zeit online-Beitrag las, habe ich mir überlegt, wie sich der „Zukunftslobbyist“ Gründinger verhalten würde, wenn er 1950 geboren und nun 66 Jahre alt wäre. Er wäre womöglich 1965 an die Werkbank gekommen, er hätte viele Jahre eine fachlich exzellente Arbeit geleistet, um 2015 mit 65 in Rente zu gehen; als Norbert Blüms Premium-Eckrentner sozusagen. Dann hätte er nach einer Rechnung von Telepolis jährlich in etwa durchschnittlich 1.550 Stunden gearbeitet: „Multipliziert mit 50 Arbeitsjahren ergibt das 77.500 Stunden.“
Den jungen Burschen und Frauen, die ihm und seinen Jahrgängen (alten Säcken) aus der Nachkriegszeit vorwerfen, sie aufzufressen, würde er entgegenhalten, dass sie selber heute bei durchschnittlich 1.400 Stunden Jahresarbeitszeit und durchschnittlich 38 Arbeitsjahren nur auf gut 53.000 Stunden Lebensarbeitszeit kämen. Die Stundendifferenz zwischen ihm, dem alten Gründinger und den Jungen betrage fast 25.000 Stunden. Die Nachkriegsjahrgänge sind im Durchschnitt mit 14 beziehungsweise 15 Jahren berufstätig geworden, die „echten“ Gründinger-Jahrgänge steigen mit weit über 20 ein. Lassen sich solche Lebensverläufe gegeneinander aufrechnen? Ich glaube das nicht, überzeugt bin ich aber davon, dass es ohne die „Vorleistungen“ der Nachkriegsjahrgänge in der Form von Arbeitszeit, Leistung und Produktivität die kreativen Felder und Wege für die Jahrgänge der Gründingers nicht geben würde. „Wir alten Säcke“, würde der fiktive Gründinger schnaufen, „haben für unsere Renten, Haus und Lebensversicherung ziemlich hart und lange arbeiten müssen. Und ihr? Was wollt ihr eigentlich?“
Zurück mit der Raumpatrouille Orion unter Kommandant McLain und Leutnant Jagellosvk aus dem Jahr 1965 in die Jetztzeit. Etwas indigniert würde Herr Gründinger dem Argument mit dem Parade-Eckrentner entgegnen, er orientiere sich an sehr, sehr Weisem und Altem. Eine „antike griechische Lehre“ besage nämlich: „Eine Gesellschaft wird stark, wenn die Alten die Bäume pflanzen, in deren Schatten sie niemals sitzen werden. Heute fällen die Alten die Bäume, in deren Schatten die Jungen sitzen.“
Von Menschen, alten Menschen und alten Männern
Meine Frau und ich, wir nehmen übrigens für uns in Anspruch, dass unter den Bäumen, die wir vor und hinter unserem Haus gepflanzt haben, unsere Kinder und Enkel und Freunde und Verwandte und Bekannte sitzen, um sich zu unterhalten, ernsthaft und weniger ernst miteinander zu sprechen, zu essen, zu trinken – während dieser Wochen vor einem großen, von einem unserer Söhne auf die Terrasse geschleppten Bildschirm, um Fußballspiele anzuschauen.
Was taugt seine „antike griechische Lehre“ quellenmäßig? Die Meinungen gehen ordentlich auseinander. Auf der Website eines Künstlers für Lichtinstallationen fand ich: „Es heißt eine Gesellschaft blühe auf, wenn alte Männer (!) Bäume pflanzen, in deren Schatten sie niemals sitzen werden. Ein schönes Sprichwort.“ Das war der Lichtmacher! Der den Schalter bedient, knipps, knipps.
Der Lichtmacher hat den Kreis der in der antiken „Lehre“ angesprochenen um 50 v.H. reduziert – von den Alten auf die alten Männer. Bei weiteren Grabungen wird die Quellenfrage zum stillen Drama, denn in Hillary Clintons Buch „Eine Welt für Kinder“ aus dem Jahr 1996 wird von einem Sprichwort berichtet, dass sich auf Menschen bezieht, die Bäume pflanzen, unter denen sie nicht mehr sitzen würden.
Wir haben also die Qual der Wahl zwischen Menschen, alten Menschen und alten Männern – „alten Säcken“, wie Thomas G. schreibt. Bei solch unsicheren Angaben wär ich vorsichtig, was den Schweizer Goldseitenblog mit großen Sorgen um den Franken nicht davon abgehalten hat, die angebliche antike „Lehre“ wie einen Luftballon aufzublasen und – wie sich schätze – in eine neoliberale Nebel- Ideologie umzudeuten: „Verarmungs-Folgen für eine dann kaum noch langfristig investierende und planende Gesellschaft (kommen) …in diesem uralten griechischen Sprichwort wunderbar zum Ausdruck: ´Gesellschaften werden groß, wohlhabend und bedeutend, wenn alte Männer Bäume pflanzen, obwohl sie genau wissen, dass sie niemals mehr in deren Schatten werden sitzen können.´“
Wunderbar! Wie aus einem Prospekt der Schweizer Volkspartei mit persönlicher Widmung von Herrn Roger Koeppel nach einem Auftritt bei Hart aber fair! Was Gründinger so schreibt, das ordne ich – leider – in die Schublade für schlecht geschriebenes Feuilletons ein. Irgendwie passt es, wackelt aber ordentlich, hat viel Luft.
Jenseits der Logik?
Wie steht es um den Wahrheitsgehalt der Inhalte in Gründingers „alte Säcke“- Sack? Im Mai 2015 platzierte er einen Text auf Zeit online, der sich mit Ergebnissen von Bürgerprotesten beschäftigte.
Im Text finde ich den Schwurbel-Satz: „Mit der tektonischen Verschiebung im demografischen Gleichgewicht wächst die Gefahr, dass die Alten durch ihr strukturelles Wählergewicht die politische Agenda diktieren.“
Vor allem wächst die Gefahr, dass der Text das rettende Ufer der Logik nicht erreicht. Plattenverschiebungen in der Erdkruste gehen sehr, sehr langsam oder ruckartig vor sich, demografische Veränderungen im Vergleich dazu schnell; demografisches Gleichgewicht? Was soll das sein? Die Fertilitätsrate einer Gesellschaft muss bei 2,2 oder höher liegen, damit die Bevölkerung wachsen kann, beträgt sie 2,1 oder weniger, schrumpft eine Bevölkerung. Und damit die ihre Schweißperlen trocknen können, die meinen, übermorgen rundum von Ahmets und Aischas umgeben zu sein, erwähne ich am Rande, dass die Geburtenrate türkischer Frauen bei etwa 1,6 bis 1,7 liegt. Gleichgewicht ist Quatsch. Nicht mal die chinesischen Kommunisten haben das mit ihrer ein-Kind-Politik geschafft. Das strukturelle Wählergewicht! Auch das ist Quatsch. Das hört sich so an, als würden im Sankt Marien Altersheim demnächst die Marschflugkörper gestartet. Man muss nur eine Sekunde nachdenken, dann weiß Mensch: Die Frauen haben traditionell ein sogenanntes strukturelles Wähler- Übergewicht, weil es ihrer (derer?) mehr als Männer gibt; aber die politische Agenda diktieren sie deshalb nicht. Leider.
Anderes ist unwahr. So behauptete Gründinger, in einer Volksabstimmung in der Schweiz im März 2013 über die Förderung öffentlicher Kinderbetreuung (dem so genannten Familienartikel) habe die Mehrheit der Jüngeren dafür, aber die Mehrheit der Alten dagegen gestimmt: „Mit anderen Worten: Die Alten wollten in ihrer Mehrheit nicht, dass der Staat den jungen Familien mehr öffentliche Kinderbetreuung bietet.“ Einfach nicht wahr; anders: schlicht erfunden. Der Tagesanzeiger berichtete darüber: „Die dritte nationale Hochrechnung ergibt ….ein Volksmehr von knapp 55 Prozent für den Familienartikel.“ Also: Mehrheit der abgegebenen Stimmen für den Familienartikel, Mehrheit der Stände, der Kantone dagegen.
Das war der Sachverhalt: Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen für, eine Mehrheit der ländlichen und konservativen Kantone dagegen. Das „Kantonsmehr“, so heißt es im Nachbarland, hat eine Vetofunktion. Aber alt gegen jung?
Die Revolte als Drohung
Wolfgang Gründinger ist nicht allein. Tagesspiegel-Redakteur Sidney Gennies schrieb, die geringe Wahlbeteiligung der jungen Frauen und Männer bei der Brexit-Abstimmung liege daran, dass die sich von den beiden Seiten des Unterhauses nicht repräsentiert fühlten. Das kann ja so nicht stimmen. Jan Feddersen beklagte dieser Tage in der taz, Labour- Chef Jeremy „Corbyn und seine Hipster-Freunde – welche seinetwegen kürzlich massenhaft in die Partei der britischen Arbeiterbewegung eintraten -, hätten sich…gegen die proeuropäische Mobilisierung“ entschieden.
Gennies schreibt weiter, es gebe 2016 die höchste Rentenerhöhung der letzten 23 Jahre, „ungeachtet der Tatsache, dass immer weniger Erwerbstätige immer mehr Empfängern gegenüberstehen.“ Ach ja? Im Mai 2016 waren nach Angaben des statistischen Bundesamtes saison- und kalenderbereinigt rund 43,48 Millionen Erwerbstätige mit Wohnsitz in Deutschland registriert.
So viele gab es noch nie. Der Bestand an ausgezahlten Renten pendelt seit fünf Jahren um die 25 Millionen, Altersrenten, Renten wegen Erwerbsminderung, Hinterbliebenen- und Waisenrenten. Die Zahl der Renten wird steigen. Aber die Zahl der Renten und die der Erwerbstätigen mit der Rentenerhöhung zu korrelieren, das ist Unfug.
Gennies beklagt, dass es in Deutschland noch keine Revolte der Jungen wegen die Alten gegeben habe: „Nur sollte sich keiner, schon gar kein alter Politiker, darauf verlassen, dass das so bleibt.“ Was um Himmels willen soll eine solche Drohung bezwecken? Sollen die Berliner Rentnerinnen und Rentner nach Wilmersdorf in die Ruhrstraße zur Deutschen Rentenversicherung pilgern und sagen: Danke, mir reicht eine Erhöhung von einem Prozent, nehmen sie übrigen 4,25 Prozent zurück, denn dann revoltieren unsere Enkel nicht?
Die alarmierenden Parolen der Jugend-Missionare
Ich glaube auch nicht an eine allgemeine Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, wie sie Marc Saxer jüngst bei CARTA beschrieben hat. In den Jugendstudien gibt’s hierfür keine Belege.
Vielmehr sehe ich, dass eine kleinere Gruppe Jüngerer es sehr gut versteht, sich gegen Institutionen in Position zu bringen und mit alarmierenden Parolen auf sich aufmerksam zu machen: „Die Alten haben die Macht übernommen“ (Gennies); „Alte Säcke-Politik“ (Gründinger); „Die Alten machen uns fertig“ (Jagoda Marinic in der taz). Verwundern darf es nicht, dass die Medien um die Wortführer dieser Ideologie schleichen wie die Draculas um eine Blutbank. Von der Wirkungsmacht her gesehen liegen solche Parolen weit unter „Deutschland den Deutschen” und „Volksverräter“ sowie anderen Hassparolen. Gott sei Dank. Aber Spiele im Sandkasten mit Schaufel und Plastikeimer sind es nun auch nicht. Der Ton macht eben die Musik; das ist keine antike Lehre, sondern eine aus der Neuzeit, der Quellenlage nach beim Freiherrn von Knigge angesiedelt.
Es macht mich schon stutzig, zwischen all den Berichten über die Klagen Älterer in Gründingers Schriften – gegen zu spät am Abend zu laut gespielte Musik, gegen den Bau von Kindergärten in der Nähe, gegen dies und jenes und Bimmel und Bammel – nie meiner „festen Burg“ in guten wie in schlechten Zeiten zu begegnen: Dem Rechtsanspruch; dem vom Grundgesetz geschützten Anspruch auf Rente und Garantie der Rente; auf Behandlung gleich in welchem Alter; auf Pflege unter den schwierigsten Bedingungen. Sollte in den Köpfen der Jugend-Missionare die große Errungenschaft Rechtsanspruch schon „geknickt“ worden sein, empfände ich den „alten Sack“ als Ehrentitel, als Bundesverdienst-Bezeichnung.
Im Kern der Debatte um Alt und Jung steht ein hartes ökonomisches Thema
Machen wir uns bitte nichts vor: Auch die Verteilungskämpfe der Zukunft müssen nicht im Desaster enden: Ob die Kopfzahlen in Deutschland Jahr für Jahr wieder wachsen werden oder nicht, wissen wir alle nicht. Gründingers Demografie-Drama ist nämlich kein Drama. Dazu gibt es lehrreiche Aussagen von Statistik-Prof. Gerd Bosbach.
Aber was wir heute wissen: Es muss uns gelingen, aus dem wirtschaftlichen Wachstum mehr Produktivität heraus zu holen. Im Kern der Debatte um Alt und Jung steht ein hartes ökonomisches Thema. Gelingt es, deutlich produktiver zu arbeiten als heute, können auch weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter mehr Alte und im Alter auch noch lange Zeit Erwerbstätige finanzieren.
Zum Schluss will ich noch einmal auf das Bild von den Alten zurückkommen, die Bäume pflanzen sollen, unter denen sie nicht mehr sitzen sollten oder dürften. Ein wenig Nachdenken hilft da: Die 55-Jährigen, die 60- Jährigen, die 65- Jährigen, die arbeiten und schaffen, die tun genau das, was im Bild gefordert wird: Sie finanzieren Schulen und Kindergärten mit, Jugendclubs und Fachhochschulen sowie Universitäten, die sie nie in Anspruch nehmen werden. Sie unterscheidet allerdings von den Jüngeren, dass sie das wissen. Ob Fakten und Erklärungen gegen „alte Säcke“-Theorien helfen? Ich weiß es nicht. In solchen Fällen schlage ich bei Kurt Schwitters nach, lese sein „So, so“:
Vier Maurer saßen einst auf einem Dach.
Da sprach der erste: „Ach!“
Der zweite: „Wie ists möglich dann?“
Der dritte: „Daß das Dach halten kann!!!“
Der vierte: „Ist doch kein Träger dran!!!!!!“
Und mit einem Krach
Brach das Dach.
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