#Alternativen

Unsortiertes zu den Grenzen des (politisch) Gestaltbaren

von , 8.8.13

Es ist geradezu das Wesen des Politischen, dass politische Entscheidungen (formal: Beschlüsse eines Parlaments) Konsequenzen für den Alltag von Menschen haben. Oder, um es im wutschnaubenden Tonfall der FDP zu sagen: dass politische Entscheidungen die Freiheit des Einzelnen einschränken. (Und damit möglicherweise die Freiheit vieler erhöhen, aber das wäre jetzt eine andere Debatte.)

Es mag Gesetze geben, vielleicht ist es sogar die Mehrzahl aller Gesetze, die für die Mehrzahl der Menschen konsequenzlos bleiben. Die vielleicht nur den Alltag einer kleinen Gruppe betreffen. Die Tagesordnungen des Bundesrats sind hier exemplarisch. Das »Gesetz zur Förderung der Sicherstellung des Notdienstes von Apotheken«, das »Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten« oder das »Gesetz zur Änderung des Abkommens vom 20. März 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Erhaltung der Grenzbrücken im Zuge der deutschen Bundesfernstraßen und der polnischen Landesstraßen an der deutsch-polnischen Grenze« sind Gesetze, die dich und mich erst einmal nicht betreffen. Sofern wir nicht gerade eine Apotheke betreiben, auf den Notdienst einer Apotheke angewiesen sind, zwischen Gerichten kommunizieren oder über Grenzbrücken zwischen Polen und Deutschland fahren. Oder Güter konsumieren, die über Grenzbrücken zwischen Polen und Deutschland transportiert werden.

Was ich sagen will: Das Wesen der Politik besteht darin, mehr oder weniger direkt in den individuellen Alltag einzugreifen. Regeln für bestimmte Handlungen aufzustellen. Handlungen zu ermöglichen. Sie zu fördern. Sie zu erschweren oder zu verbieten. Blumig gesagt: das Zusammenleben zu gestalten.

Das betrifft glücklicherweise nicht jede Form von Regeln. Ob Gabeln und Messer links oder rechts von Tellern zu liegen haben, ist nicht politisch festgelegt. Jedenfalls im Privaten – möglicherweise gibt es irgendwo Hygienevorschriften für öffentliche Nahrungsverkaufsplätze, die auch darauf eingehen. Oder die bundesweit normierte »Abschlußprüfung für den Ausbildungsberuf Fachkraft im Gastgewerbe«, laut Juris § 13 GastgewAusbV 1998, enthält diesbezügliche Regeln.

Politik betrifft üblicherweise insbesondere die Regelung solcher Handlungen, die Konsequenzen für alle haben. Die Gurtpflicht in Autos (über die, wenn ich mich an meine Kindheit richtig erinnere, zumindest in Bezug auf Rücksitze und dort sitzende Kinder heftig gestritten wurde). Die Katalysatorpflicht für Autos. Die Pflicht, an Fahrrädern ein dynamobetriebenes Licht mitzuführen, die vor kurzem aufgeweicht wurde. Die Straßenverkehrsordnung. (Auch ein auf allen Straßen gültiges Tempolimit wäre ein gutes Beispiel in dieser Reihe.)

All diese Regelungen sind irgendwo genau und meist in recht komplizierter, weil präziser, Sprache festgehalten und wurden irgendwann einmal beschlossen. In Gesetzesform. Oder als Verordnung. Unklarheiten und Auslegungsspielräume: Sache der Justiz.

Jetzt kann, noch so eine Binsenweisheit, Politik nicht einfach alles regeln, was zu regeln sich irgendwer in den Kopf gesetzt hat. Es gibt insbesondere drei Hürden, die Politikerinnen daran hindern, zu regeln, was nicht geregelt werden darf oder soll.

Die erste Hürde ist die verfassungsrechtliche Ordnung: Grundrechte schränken ein, was wie gesetzlich geregelt werden kann. Oder: Wer es im Kompetenzgefüge zwischen internationalen Organisationen, der EU, der Bundesebene, der Landesebene und den Kommunen überhaupt wie regeln darf.

Die zweite Hürde ist die der echten und scheinbaren Sachzwänge. Das Regulierungsansinnen muss realistisch sein. Ein Verbot, auf Twitter zu meckern, wäre beispielsweise – mal abgesehen davon, dass es schon an der ersten Hürde scheitern würde – nicht realistisch. Ebenso ein Bundestrauminhaltsgesetz, das Flugträume nur donnerstags erlaubt.

Aber es gibt noch weitere Zwänge: Irgendetwas irgendwie zu regeln, kostet – selbst wenn es nur um Verbote und Gebote geht – meist Geld. Das muss im Haushalt gefunden werden. Oder es verschiebt Zuständigkeiten, d.h., es kostet Macht. Und dann gibt es die ganzen Sachzwänge, die sich aus den Eigenlogiken des Politischen ergeben: Es gibt andere Akteure, die überzeugt werden müssen. Ein Fraktionsarbeitskreis. Eine Partei mit bestimmten Interessen. Ein Koalitionsvertrag. Ein Koalitionspartner. Ein ministerialer Apparat. Sachverständige. Und ja: Wenn etwas zu regeln bedeutet, etwas abzuschaffen, dann wird, noch so ein Sachzwang, meist ein extremes Beharrungsvermögen bei der entsprechenden Einrichtung gefunden, gerne unterstützt durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit.

Damit sind wir bei der dritten Hürde: Die öffentliche Meinung, oder zumindest die vermutete und wahrgenommene öffentliche Meinung. Auch die spielt eine Rolle, wenn es darum geht, etwas so oder anders zu regeln. Insbesondere dann, wenn irgendwo gewählt wird. Oder wenn der eigene Wahlkreis direkt betroffen ist. Oder wenn die Maßnahme unpopulär ist. Denn wer regiert schon gerne bei Gegenwind aus der Presse …

Trotz dieser Hürden werden ab und zu unpopuläre Maßnahmen umgesetzt. Beifall gibt es dafür selten. Und längst nicht jede unpopuläre Maßnahme erweist sich nach einigen Jahren als richtig. Manche sind auch eher vom Typus »Hab ich doch gleich gesagt«. Beispielsweise vermute ich, dass das beim Betreuungsgeld so sein wird. Wir werden es sehen.

Vielleicht täuscht der Eindruck. Aber ich habe das Gefühl, dass diese Hürden früher niedriger waren. In der guten alten Zeit, als Politik noch Entscheidungen getroffen hat.

Heute haben wir ja Merkelismus, wie ihn Jan Schnorrenberg ausführlich beschreibt (ich würde ihm allerdings widersprechen, wenn dahinter nur Machterhalt vermutet wird):
 

Und der Merkelismus trägt Früchte. Er entmündigt die Gesellschaft durch das Konstruieren einer alternativlosen Politik, in der es keine anderen möglichen Handlungsoptionen mehr gibt. Im Merkelismus gibt es nur noch das Arrangement mit den unvermeidlichen Bissen in die sauren Äpfel. Gleichzeitig fördert die inhaltliche Beliebigkeit eine Politik- und Demokratieverdrossenheit, die desillusioniert keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Parteien ausmachen kann und will.

Der Merkelismus kennt keine Werte mehr. Er kennt nur Handlungen, die die eigene Position im tagespolitischen Geschäft vorübergehend stabilisieren. Er parodiert die Auffassung, dass Wahlversprechen ohnehin nicht bindend sind. Er täuscht bewusst, offen und für alle Menschen erkennbar eine inhaltliche Position vor – die am Ende durch Verweis auf Koalitionsgespräche, das Bundesverfassungsgericht oder der Zweidrittelmehrheit im Bundestag verlassen werden kann, ohne einen Imageverlust zu fürchten

 
Interessant ist hier ein Motiv, das ich auch in dem Kommentar von Maximilian Steinbeis zur Veggieday-Debatte gefunden habe. Er wendet sich dabei nicht gegen Merkel, sondern nimmt das grüne Vorhaben als Kontextsteuerung unters Messer (und überschätzt meiner Meinung nach die Wirksamkeit »weicher« Instrumente):
 

Dennoch hat die gute alte Regulierung durch Gesetz und Rechtsbefehl immerhin einen großen Vorzug: Die politischen Kräfte, die sie betreiben, müssen abstrakt-generelle Regeln formulieren, sie müssen sie im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren begründen und verteidigen, sie müssen eine politische Mehrheit dafür organisieren und hinterher in der Öffentlichkeit für die Folgen ihres Tuns gerade stehen.

Das wird bei der modernen, sanften Regulierung neben dem Zwangs- und Verbots-Charakter auch gleich mitvermieden. Und zwar ganz folgerichtigerweise: Es gibt ja gar nichts, was man groß politisieren und diskutieren und begründen und rechtfertigen müsste. Ein paar Kantinen stellen ihre Menüs um. Mehr passiert ja nicht.

Nur, dass wir hinterher womöglich alle Vegetarier werden.

 
In beiden Fällen geht es darum, die oben aufgezeigten Hürden nicht zu überspringen, sondern sie zu umgehen oder einfach umzubauen. Wenn die politisch gewollte Entscheidung qua gut konstruiertem Sachzwang die einzige zur Wahl stehende Option bleibt, oder wenn der Beifall des schreibenden Volks für den unpopulären, aber notwendigen Schritt sicher ist – dann ist es gleich viel einfacher, die Hürden zu nehmen.

Oder, noch eleganter: Wenn die politische Entscheidung eben gar nicht mehr als solche – als Verbot oder Gebot – getroffen wird, sondern mit Anklängen an Luhmann in die Autonomie von Institutionen zurückgegeben wird, die dann aber über Anreizprogramme, Zielvereinbarungen und diskursive Hegemonien durchaus gedrängt werden, das nun nicht mehr legislativ zu entscheidende Richtige zu tun. Wenn wir dem System keine Vorgabe machen können, gestalten wir einfach die Umwelt – den Kontext, in dem sich das System befindet – so, dass die gewünscht Entscheidung von diesem System freiwillig getroffen wird.

Eine solche Kontextsteuerung ist unzweifelhaft elegant, wenn sie denn einmal aufgesetzt ist. Sie hat den Vorteil, ohne das politische Hin und Her im Parlament zu funktionieren. Sie ist der parlamentarischen Kontrolle weitestgehend entzogen. Und sie wird über die Zeit selbst zum Sachzwang, zum Pfad, in dem sich das System bewegt. (Der neoliberale Umbau der Hochschullandschaft ist ein Beispiel dafür. Oder, der Idee nach, auch die Ökosteuer.)

(Nebenbemerkung: Auch durch ganz einfache, klassische politische Mehrheitsentscheidungen zustande gekommene Regelungen haben oft die Tendenz, über die Zeit zum Sachzwang ihrer selbst zu werden, weil sie Anpassungsleistungen nach sich ziehen, die dann Gegengewicht gegen eine Änderung des Status quo darstellen, bzw. als solche angeführt werden können. Das würde beispielsweise deutlich werden, wenn jemand die Gurtpflicht wieder abschaffen wollte. Und dieser Sachzwang-durch-Einbettung-in-Alltag-über-die-Zeit macht es so schwer, beispielsweise das Ehegattensplitting zu beenden.)

Jetzt wäre es relativ einfach, für ein Zurück zur ehrlichen Politik der klaren Entscheidungen zwischen echten Alternativen zu plädieren. Es gibt aber ein paar Einwände, die es erschweren, sich diesem Plädoyer anzuschließen. (Mal abgesehen davon, dass ich nicht glaube, dass die Empörung beispielsweise der FDP über die grünen Vorschläge zum Veggieday anders ausgefallen wäre, wenn es dabei nicht um Empfehlungen und »weiche« Steuerung gehen würde, sondern um ein hartes, ordnungsrechtlich abgesichertes, gesetzliches Fleischverbot).

Einwand 1: Das Internet. Die Globalisierung. Die EU. Oder anders gesagt: Eine vernetzte Welt funktioniert nicht mit einfachen, klaren nationalstaatlichen Entscheidungen. Sobald aber Entscheidungskompetenzen anderswo liegen – etwa in der EU, in internationalen Institutionen – verändert sich die Rolle nationaler Parlamente. Alternativlosigkeit ist dann Ehrlichkeit, Kontextsteuerung ein angemessener Modus.

Einwand 2: Politische Ökologie und lange Zeiträume. Ökologische Probleme ziehen oft Lösungen nach sich, die nicht nur nationalstaatliche Grenzen überschreiten, sondern auch nur funktionieren, wenn sie langfristig angelegt sind. (Ein Naturwissenschaftler, mit dem wir uns über den Klimawandel unterhielten, meinte einmal, er wünsche sich hier Expertenentscheidungen, die dann mehr Gewicht bekommen sollten als das Denken in Legislaturperioden, so dass ein einmal eingeschlagener Pfad, dem Klimawandel entgegenzutreten, nicht nach vier oder fünf Jahren umgeworfen wird).

Faktisch liegt – neben der Verlagerung an internationale Gremien – eine Lösung, um langfristig stabile Entscheidungen und Regelungen zu erreichen, überparteiliche Konsense herzustellen, zwischen Opposition und Regierung. Oder die Politik aus dem Parlament hinauszunehmen, in Sachverständigengremien und Beiräte und ähnliche Institutionen, was es zumindest erschwert, eingeschlagene Pfade zu verlassen (und ein Stück weit Politik von Wissenschaft entkoppelt).

Einwand 3: Ich müsste da noch einmal intensiver nachdenken. Aber ich vermute, dass Kontextsteuerung im Foucaultschen Sinn löchriger ist als klare, einfache, echte Entscheidungen. Die Autonomie einer Institution kann auch ein lokales Mehr an Demokratie sein. Eine Regel, die nicht erzwungen, sondern nur gefördert wird, erschwert Abweichungen, verbietet diese aber nicht ganz (vgl. Betreuungsgeld vs. Kitapflicht). Das wiederum erschwert den Protest dagegen, erleichtert aber die Subversion. Es könnte sich ja jede/r auch anders entscheiden, auch, wenn das natürlich Nachteile mit sich bringt, aber es verbietet ja keiner …

Am Schluss bleibt dann unausweichlich Metapolitik übrig. Eine Wahl darüber, welches Set an konkurrierenden Alternativlosigkeiten für die nächsten Jahre versuchen darf, sich in Stein zu meißeln. Ob das gut ist? Ob es anders geht?

Nochmal zurück zum Konkreten: Auch aus Klimaschutzgründen, und wegen der Massentierhaltung – beides allgemeine Interessen – halten wir Grüne den Fleischverbrauch in Deutschland für zu hoch. Ihn senken zu wollen, ist ein politisches Anliegen – mit Konsequenzen für den Alltag Einzelner. Das gute alte einfache Verbot bleibt vermutlich an drei von drei Hürden hängen. Möglich wäre dagegen wohl eine Steuerung über Steuern (19% MWSt!). Oder über Auflagen und Verbote – nicht für Kantinen, sondern für Massentierhaltungsbetriebe. Oder eben die von Maximilian Steinbeis kritisierte Variante des weichen Zwangs durch Vorbildhandlungen, Förderprogramme und Aktionen (»Gesellschaftsmassage«).

Steinbeis fragt am Schluss seines Textes:
 

Diese Art der nicht-invasiven Gesellschaftsmassage zur gezielten Beförderung bestimmter politischer Anliegen – hat das nicht etwas Expertokratisches, etwas Paternalistisches und etwas Manipulatives?

 
Vermutlich hat er damit durchaus recht. Aber was wäre, wenn jemand davon überzeugt ist, dass das politische Ziel – den gesellschaftlichen Fleischverbrauch zu senken – aus übergeordneten Gründen politisch richtig ist, dann der bessere Weg, um dieses Ziel zu erreichen? (Und nein, auf Bewusstseinsbildung und Lernprozesse zu setzen, klappt bei Umweltfragen nur sehr begrenzt. Und nicht immer ist es möglich, »unterhalb« der Verbraucherentscheidungen an der Infrastruktur anzusetzen.)
 
Warum blogge ich das? Weil ich mich angesichts der Veggieday-Debatte gefragt habe, was Politik darf. Aber vielleicht sollte ich auch einfach Colin Crouch lesen.

 
Crosspost von till we. Till Westermayer ist Sprecher der BAG Wissenschaft, Hochschule, Technologiepolitik für Bündnis 90/Die Grünen und seit April 2012 parlamentarischer Berater der Landtagsfraktion Baden-Württemberg für Wissenschaft und Forschung, Medien und Netzpolitik.

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