von Mirjam Stegherr, 13.1.17
Immanuel Kant war ein Nerd: Er ließ sich jeden Morgen um 4:45 Uhr wecken und ging nie später als 22 Uhr zu Bett. Sein Leben folgte strikten Abläufen, sein Lebensmittelpunkt war und blieb Königsberg, sein einziges Hobby war seine Pflicht. Doch als Philosophin hat mich Kant begeistert: Immerhin verdanken wir seinem Pflichtbewusstsein eine Ethik, die uns heute noch helfen kann. Populismus, Hetze und Fake News: Der Kategorische Imperativ Kants aus dem Jahr 1785 ist für viele Probleme unserer Zeit eine Hilfe, um richtiges von falschem Handeln zu trennen.
Er heißt „kategorisch“, weil er uneingeschränkt gelten soll, und besagt: “Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.” Das klingt abstrakt und ist es auch. Kant möchte, dass wir bei unseren Handlungen reflektieren, ob deren Grundsatz ein allgemeines Gesetz sein kann, also für alle und alles gelten soll. Angenommen, ich möchte in meinem Leben viel Geld verdienen. Der Wunsch ist völlig legitim und ethisch einwandfrei. Angenommen, ich habe die Chance, viel Geld zu verdienen, indem ich die Arbeit anderer als meine eigene ausgebe. Um nach Kant moralisch zu sein, muss ich wollen können, dass das ein allgemeines Gesetz wird, dass also jeder sich auf Kosten anderer bereichern kann. Im Moraltest ist diese Maxime gescheitert.
Soweit ein praktisches Beispiel. Es gibt gravierendere: das Diskriminierungsverbot zum Beispiel. Es besagt, dass ich Menschen nicht aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer Religion benachteiligen soll. Mit diesem Grundsatz habe ich eine Maxime, mit der ich gutes von schlechtem Handeln unterscheiden kann – auch in den Bereichen, wo kein offizielles Gesetz greift. Es ist fraglich, wie Betriebe mit dem kategorischen Imperativ die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen rechtfertigen würden. Oder wie die US-Justiz einzelnen Menschen das Recht auf Leben abspricht und Straftäter tötet.
Es gibt Graubereiche, da scheint es schwierig zu unterscheiden. Die Fälle von Gerald Hensel und Roland Tichy gehören für mich dazu. Wenn ich mir die ganze Aufregung im Netz anschaue, wünsche ich mir, Immanuel Kant würde sich einschalten und wir würden kurz über seinen kategorischen Imperativ nachdenken.
Gerald Hensel hatte im Dezember die Kampagne „Kein Geld für Rechts gestartet“ (inzwischen Passwort geschützt) und Unternehmen aufgerufen, auf Portalen wie Breitbart keine Anzeigen zu schalten. Der Digitalexperte der Agentur Scholz & Friends wies auf vermeintlich rechte Seiten hin, die er aus dem Boykott ausklammerte, die aber mit in die Debatte rutschten: „Die Achse des Guten“ von Henrik M. Broder und „Tichys Einblick“ vom Ex-Chefredakteur der Wirtschaftswoche Roland Tichy. Broder und Tichy beklagten daraufhin Werbeeinbußen und griffen Hensel an: Die Aktion sei gleichbedeutend mit dem Boykott der Nazis „Kein Geld für Juden“, so Broder. Was folgte war ein neuer Boykottaufruf, jetzt gegen Scholz & Friends und seine Kunden. Am Ende musste Hensel wegen Morddrohungen untertauchen und seinen Job in der Agentur kündigen.
War die Aktion von Hensel im kantischen Sinne gut? Erst einmal hat Hensel informiert, weil Anzeigenschaltung automatisiert verläuft und viele Unternehmen nicht wissen, wo sie schalten, dass sie eben auch auf rechten Seiten Anzeigen platzieren. Darüber aufzuklären, folgt einer Maxime, die den Kriterien des Kategorischen Imperativs entspricht: Ja, ich kann wollen, dass Transparenz hergestellt wird, um anderen ein besseres Urteil zu ermöglichen. Ist es gut, bestimmte Medien auf eine Liste zusammenzuführen und anzuprangern? Es folgt zumindest dem Grundsatz der freien Rede, das zu tun. Es sollte für ein allgemeines Gesetz aber genau geprüft und belegt werden, warum diese Medien auf der Liste stehen. Und der Boykottaufruf? Auch das muss eine Demokratie aushalten, solange niemand zum Boykott gezwungen wird und der Aufruf sich nicht gegen einzelne Gruppen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion und so weiter richtet – also damit auch schlichtweg Volksverhetzung ist.
Der Aufruf zum Boykott ist legal und legitim: Es gab Boykottaufrufe (pdf) von Greenpeace gegen Shell-Tankstellen, von schwarzen Amerikanern gegen die „weißen Oscars“ und von Andrea Ypsilanti (SPD) gegen die Deutsche Bank. Es gibt kein Gesetz und keine Maxime, die das verbieten würde – auch wenn es als positive Regel stets auf der Grundlage von Argumenten und ohne Aufbau von Druck erfolgen sollte. Die Art und Weise wie im Anschluss ans Hensels Kampagne Kunden von Scholz & Friends zum Boykott der Agentur aufgerufen wurden, widersprach dem Grundsatz – es wurde gehetzt und nicht mehr argumentiert. Ganz abgesehen von den persönlichen Attacken und Morddrohungen gegen Hensel.
Das Label „unethisch“ gilt auch für die Attacken gegen Roland Tichy: Auf seinem oben genannten Blog hatte er einen Beitrag von Jürgen Fritz publiziert, der “grün-linke Gutmenschen” als “geistig-psychisch krank” bezeichnete. Das Netz empörte sich, Tichy entschuldigte sich und löschte den Post. Mathias Richel brachte einen Stein ins rollen, als er ankündigte, seinen Xing-Account zu kündigen, um Tichy so nicht weiter zu unterstützen. Ein neuer Boykottaufruf war da, doch diesmal ging er gezielt gegen eine Person. Man mag von Tichy halten was man will, sein Blog ist oft populistisch, seine journalistische Qualität mag in Frage stehen – mit seiner Tätigkeit für Xing hatte das wenig zu tun. Ja, vielleicht lässt sich das schwer trennen. Aber wenn ich mich frage, ob es ein allgemeines Gesetz werden soll, dass wir nur Personen in Jobs akzeptieren, die unserer Gesinnung entsprechen, schaudert es mich. Wir müssen in einer Demokratie Andersdenkende aushalten können. Die Reaktionen im Web auf die Niederlage Tichys haben mich überrascht – gerade Unterstützer von Hensel ließen virtuell Sektkorken knallen. Haben sie selbst vergessen, welchem Handeln zu verdanken ist, dass Hensel untertauchen musste?
Ein weiteres Beispiel ist Donald Trump. Es ist mir ein Rätsel, wie ein Mann so unreflektiert und unethisch handeln kann. Er entscheidet nachgewiesen gegen Fakten, ist korrupt und diskriminierend. Doch würde ich mir wünschen, dass wir an unseren Maßstäben für Ethik festhalten. Es ist nicht wünschenswert, dass in Zeiten von Fake News Geschichten verbreitet werden, die nicht geprüft sind und die einer Person schaden – ganz abgesehen davon, dass das Gerede um den „Golden Shower“ von der Frage ablenkt, welche Verbindungen Trump zu Russland pflegt. Auch wenn Trump jede Häme verdient, schadet so etwas unserem eigenem Kompass. Der Kategorische Imperativ ist dafür noch immer eine gute Grundlage – auch wenn er so abstrakt und weltfremd scheint.
Übrigens, für alle, die es einfach mögen: Es stimmt nicht, dass der Kategorische Imperativ gleichbedeutend mit der „Goldenen Regel“ ist. Sie besagt sprichwörtlich: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu“ und geht von negativen Folgen aus, also von dem, was man persönlich erfährt oder eben nicht erfahren will. Kant denkt viel grundlegender und viel abstrakter. Genau das macht ihn und seine Ethik so bedeutend und schwer zugänglich. Wer es dennoch wagen will, dem seien zwei Bücher ans Herz gelegt: Die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ als erstes Buch Kants zur praktischen Philosophie. Und „Die philosophische Hintertreppe“ von Wilhelm Weischedel, mit der man nicht nur etwas über Kants Denken, sondern auch über sein Leben als pflichtbewusster Nerd von Königsberg erfährt.
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