#Friedrich August von Hayek

Theorie und Wirklichkeit des Neoliberalismus

von , 22.8.15

Die Regeln des heutigen Kapitalismus sind lose. Sie geben nicht viel vor. Marktfairness heißt lediglich sich an Tausch- und Vertragsregeln zu halten. Allein Angebot und Nachfrage bestimmen den Markt und keine Ethik. Kein Gesetz verbietet den Markteilnehmern sich durch Marketing eine bessere Marktposition zu verschaffen und auch die Grenze zur Lüge ist sehr vage.

Zwar verbietet die durch den Staat etablierte Marktverfassung Betrug und Fälschung, aber die Produktanpreisung und das Marketinggeschick leben von der Übertreibung und der Vagheit. Manche halten den Markt deshalb für amoralisch. Sie kritisieren, dass im Marktkapitalismus nur das zähle, was Profit bringe.

Diesem Amoralitätsvorwurf halten die strengen Marktbefürworter erstens entgegen, dass auf dem Markt alle gleich sind, unabhängig von Religion, Hautfarbe, sozialer Herkunft etc., sofern sie sich an die Regeln des Marktes halten. Zweitens könnten die Verbraucher unmoralische Unternehmen für ihre Praktiken bestrafen, wenn sie auf den Kauf derer Produkte verzichten – das sogenannte „political consuming“. Wenn man mit Qualität, Herstellungsbedingungen etc. unzufrieden sei, könne man als souveräner Konsument Produkte von besserer Qualität kaufen, wenn man denn bereit sei, eventuell auch ein bisschen mehr zu bezahlen.

Die meisten heutigen Neoliberalen vertreten somit folgende Gerechtigkeitsauffassung:

Alles was sich verkauft, hat seine Legitimation. Alles was den Profit fördert, dient der Gesellschaft. Sodann ist Leistungsgerechtigkeit die einzige Gerechtigkeit, die es gibt. Soziale Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit kann nur durch ein Marktergebnis gerecht erzeugt werden und dabei darf es zu keiner Intervention des Staates kommen, da das das Verteilungsprozedere des Marktes verzerrt. Der Staat ist für das Recht zuständig, aber nicht für die Gerechtigkeit. Der Staat hat kein Recht zur Verteilung, sondern der Markt verteilt und der Markt verteilt gerecht.

Einer der Vordenker der Neoliberalen, Friedrich August von Hayek, hat aber eine andere Auffassung vertreten als viele Neoliberale heute.

Hayek verband den Begriff der Gerechtigkeit auch nicht mit den Ergebnissen des Marktes, so wie es die meisten heutigen Neoliberalen tun. Nach Hayek müsse man von der Idee der Gerechtigkeit Abstand nehmen, weil sie selbst sinnlos sei. Die Ergebnisse des Marktes seien nie gerecht, sondern nur der Markt als Verfahren selbst. Schließlich sei auch nicht jeder Erfolg einem selbst zuzuschreiben, sondern Glück und Zufall wären wesentliche Gründe dafür, welchen Erfolg jemand auf dem Markt habe.

Somit gibt es auch eine gerechte Verteilung in der ursprünglichen neoliberalen Logik – zumindest der von Hayek – nicht, was aber dementgegen die meisten heutigen Neoliberalen glauben. Denn diese heutigen Neoliberalen glauben, dass die Ergebnisse, die man auf dem Markt erzielt, durch Leistung und Geschicklichkeit gerechtfertigt sind. Anstatt die Idee von sozialer Gerechtigkeit für semantischen Unsinn zu halten – wie Hayek dies tat –, ist für die meisten heutigen Neoliberalen jedes Marktergebnis sozial gerecht.

In der Konsequenz betonen viele Manager und Lobbyisten heute auch gerne, dass man alles erreichen kann, wenn man nur den Willen hat es zu erreichen. Der Wille Leistung zu geben wird so zu dem Grund, warum einige es in Führungspositionen schafften und dort auch das Recht hätten, sehr viel Geld zu verdienen. Das viele Führungskräfte durch andere Gründe, wie das bekannte Vitamin B – also gute Beziehungen –, ihre Stelle bekommen, wird verschwiegen. Für den neoliberalen Mythos ist die Legitimation durch Leistung ein zentraler Wert. Damit soll auch betont werden, dass der Zufall und das Glück überwindbar sind, wenn man nur hart genug arbeitet.

Durch diese Theorie wird es auch möglich von Arbeitnehmern viel Leistung zu fordern, was sich meist in der Länge der Arbeitszeit äußert. Der heutige Neoliberale hält das Glück für überwindbar beziehungsweise den Berufs- und Markterfolg für steuerbar, eben wenn man viel Leistung bringe. Und genau hier würde Friedrich August von Hayek als einer der Vordenker der Neoliberalen diese Leistungsideologie kritisieren, die den Zufall auszublenden versucht.

Würden die Neoliberalen nun bei der Position von Friedrich August von Hayek bleiben, dass das Handeln auf dem Markt nicht nur ein Geschicklichkeitsspiel, sondern eben auch ein Glücksspiel ist und zum Risiko eben auch der Verlust gehört, dann könnte man die neoliberale Position in ihrer Logik nachvollziehen.

Doch nicht nur die Leistungsideologie der heutigen Neoliberalen ist ein Beispiel warum die Realität der neoliberalen Argumentation mit ihrer ursprünglichen Theorie heute wenig zu tun hat.

In der Bankenkrise wurden Banken gerettet. Nach der ursprünglichen neoliberalen Theorie hätte sich der Staat nicht einmischen dürfen

Nach der Bankenkrise im Jahr 2008 wurden Verluste sozialisiert und danach Gewinne wieder privatisiert. Als sich viele Bänker „verpokert“, „verspielt“ hatten, da wurden viele Banken als „too big to fail“ oder „systemrelevant“ erklärt. Die Bankenstabilisierung wurde zu einer volkswirtschaftlichen Pflicht erklärt.

Wären die heutigen Neoliberalen konsequent, bezogen auf ihre Ansicht, dass der Markt die besten Ergebnisse hervorbringt und jede Intervention des Staates zu verhindern ist, dann müsste der Staat jede Bank, die sich nicht mehr alleine auf dem Markt halten kann, pleite gehen lassen.

Die Neoliberalen haben als vormaliger Gegner des Staates sich in der Finanzkrise nun aber mit dem Staat verbündet. Als der Staat die Fähigkeit bewies, den in Not geratenen privatwirtschaftlichen Akteuren zu ermöglichen, die Gesetze des Marktes zu umgehen und den privaten Verlust zu sozialisieren, da wurden viele Neoliberale zu Staatsfreunden. Der Staat wird nicht mehr bekämpft, sondern nun instrumentalisiert.

Nun wäre die Alternative des kompletten Bankencrashs allerdings auch keine Alternative gewesen. Ohne Banken funktioniert der Kapitalismus nicht. Eine Alternative wäre es aber, wenn die Staatengemeinschaft endlich ihre Fähigkeit entwickelt, dem globalen Finanzsystem einen Rahmen zu setzen, indem Banken, egal wie groß, scheitern können – ohne dass dadurch das globale Finanzsystem insgesamt bedroht ist. Denn im Kapitalismus muss man scheitern können – sonst ist es kein Kapitalismus mehr. Kapitalismus funktioniert als Feudalsystem nicht. Und gerade zu so einem System ist der Kapitalismus teilweise geworden. Es gibt Privilegien für Wohlhabende sich dem Wettbewerb auf dem Arbeitnehmermarkt zu entziehen – weil ihre Kapitaleinkünfte ihnen schon ausreichen – und es gibt Privilegien für Banken, die scheinbar keine Sorgen haben müssen jemals pleite zu gehen.

Das Resultat der neoliberalen Entwicklung der letzten dreißig Jahre hat den Kapitalismus geschwächt und nicht gestärkt. Denn Wettbewerb bedeutet, dass jeder die gleiche Chance und das gleiche Risiko haben muss, in diesem Wettbewerb entweder zu gewinnen oder zu scheitern. Wenn das auf viele Bürger und einige Unternehmen aber nicht mehr zutrifft, dann ist es kein Kapitalismus mehr. Und wenn der Kapitalismus nicht mehr für die Reichen besteht, sondern nur noch für die Armen, dann ist der Kapitalismus heute weniger ein System des Wettbewerbs, sondern vielmehr ein System der Privilegien. Wer die Privilegien aber vehement verteidigt, in dem er gegen eine höhere Erbschaftssteuer ist, gegen Vermögenssteuern, gegen bessere Bildungschancen für alle, der ist – zugespitzt gesagt – dann gegen den Kapitalismus. Noch anders gesagt: Wer dagegen ist, dass der Staat den Kapitalismus zivilisiert, der ist letztlich gegen den Kapitalismus selbst, weil der Kapitalismus nämlich, sobald er nicht mehr geordnet werden kann, eben tendenziell jene Privilegien erzeugt, die Wettbewerb aushebeln.

Hayek hätte wohl zwar selbst nicht nach mehr Staat gerufen, aber auch er würde im heutigen Kapitalismus ein System erblicken, welches nicht mehr nach seinen Vorstellungen ist.

Würden die heutigen Neoliberalen ihre ursprüngliche Theorie wirklich ernst nehmen, müsste man folglich konstatieren, dass selbst sie für die politisch-institutionelle Neuformation des Kapitalismus eintreten müssten. Gewiss wären ihre Rezepte andere als die der Linksliberalen, aber zumindest müssten sie sich vergegenwärtigen, dass der Zustand jetzt, nicht mehr der Kapitalismus ist, den sie eigentlich der Theorie nach wollen. Der Kapitalismus muss sich ändern – wie er das soll, darüber muss nun debattiert werden. Glaubt man nun dem Linksliberalen, dann impliziert die Antwort auf die Krise des Kapitalismus im 21. Jahrhundert, dass wir mehr Staat brauchen – national und international. Vielleicht kann nur der Linke den Kapitalismus wirklich erneuern – und vielleicht ist er ja gerade deswegen heute mehr Kapitalist als der Neoliberale.

 

 


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