#Gedankenlesen

Soziale Netze, neuronale Netze und das Zeitalter der Transparenz

von , 31.12.10

Wer an Social Networks wie Facebook keinen rechten Gefallen findet, hat ab jetzt eine Ausrede dafür: Die Amygdala, eine Region im menschlichen Gehirn, soll in ihrer Größe mit dem Grad an sozialer Vernetzung korrelieren. Je kleiner diese Gehirnregion ausfällt, desto weniger Kontakte werden unterhalten und desto einfacher ist die Beziehungsstruktur eines Menschen. Diesen Befund machten amerikanische Wissenschaftler, die damit zeigen, dass hinter den Interaktionsmustern auf Social Networks mehr stecken kann, als nur der pure Zufall oder die geschickte Selbstinszenierung.

Die an der Schwelle zum neuen Jahr bzw. zu einem neuen Jahrzehnt publizierte Studie macht zudem deutlich, dass die Neurowissenschaften dem Social Networking in den nächsten Jahren Impulse werden liefern können, welche etwa die von Facebook bislang praktizierte Transparenz als noch relativ harmlos wird erscheinen lassen. Zum Katalysator dieser Entwicklung dürfte das in starkem Wachstum befindliche Geschäftsfeld des Data-Mining werden.

Heute schon bieten Unternehmen wie die IBM Software zur Analyse von Netzwerken an, die beispielsweise von Telefongesellschaften dazu genutzt werden kann um Kundenprofile zu bilden. Dabei geht es nicht um einfache Daten wie die Höhe der monatlichen Rechnung oder soziodemografische Merkmale, sondern um spezifische Cluster, die aus der Art der Inanspruchnahme der angebotenen Dienstleistungen abgeleitet werden. In diesem Sinne versucht man etwa Meinungsführer als solche zu identifizieren, um ihnen als Kunden einen besseren Service bieten zu können und sie so möglichst lange an das Unternehmen zu binden.

In großen Unternehmen nutzt man diese Art von Software retrospektiv dazu, die (digitale) Interaktion von Mitarbeitern untereinander zu analysieren und beispielsweise Personen mit Expertenstatus identifizieren zu können. Sogar die Polizei kann auf einfache Art schon Data-Mining betreiben: In Richmond, USA, geschieht dies anhand der Daten von Facebook und Twitter: Wissend, dass zu viel Alkohol auf Parties sehr negative Folgen haben kann, werden Polizisten verstärkt in Gegenden auf Streife geschickt, von denen zuvor über das Mitlesen der Konversationen auf Social Networks in Erfahrung gebracht wurde, dass dort Parties stattfinden werden. Die Polizei ist damit gewissermaßen schon vor Ort, um schneller eingreifen zu können, falls irgendwo die Situation eskaliert.

Deshalb kommt der stetige Fortschritt auf dem Gebiet der Neurowissenschaften gerade recht. Denn die immer weiter steigende Datenflut, die unser Handeln im Internet und anderswo produziert, verlangt auf der analytischen Ebene nicht nur nach Mustererkennung und Clusterbildung der einfachen Art, sondern auch nach sinnvollen Interpretationen bzw. wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen für komplexere Zusammenhänge. Speziell die Hirnforschung mit ihren Ansätzen zum Verständnis von Denken, Gefühlen und Handlungsimpulsen kann hier als seriöser “Lieferant” für die Marktforschung dienen, wenn es etwa darum geht, ein Konstrukt wie “Kauflaune” zu operationalisieren. Vorstellbar ist, dass schon in wenigen Jahren unser Verhalten in einem Social Network wie Facebook einem Screening in Echtzeit unterliegen wird, das alle Eingaben auf bestimmte Muster hin untersucht und bei positiver Übereinstimmung die Art der einzublendenden Werbung oder auch die Zusammensetzung der Timeline beeinflusst.

Wenn sich Emotionen erst einmal eindeutig messen lassen und den Messwerten typische Verhaltensmuster im Umgang mit Social Software zugeordnet werden können, werden die Anbieter von Social Networks auf die jeweilige Stimmungslage ihrer User schließen und diesen Umstand für inhaltliche Konzepte einerseits und werblich-kommerzielle Angebote andererseits nutzen können. Auf der kognitiven Ebene ist die Forschung bereits in der Lage, eine primitive Form von Gedankenlesen praktizieren zu können. Amerikanischen Forschern der Carnegie Mellon University ist es gelungen, begriffliches Denken dergestalt “lesbar” zu machen, dass bei Versuchspersonen, die an bestimmte Gegenstände denken sollten und dabei mittels Magnetresonanztomographie (MRT) gescannt wurden, aus den gescannten Daten präzise auf die gedachten Begriffe geschlossen werden konnte. Eine wesentliche Erkenntnis dieser Arbeit lag darin, dass die Aktivierungsmuster im Gehirn zu bestimmten Begriffen offenbar universeller Natur sind: Wenn an Gegenstände wie “Hammer” oder “Apfel” gedacht wird, gleichen sich die Aktivierungsmuster im Gehirn über verschiedene Versuchspersonen hinweg.

So faszinierend diese Ansätze sind, so kritisch kann man aber auch ihre Praxistauglichkeit bewerten. Die Arbeiten zur Entschlüsselung des menschliches Konntektoms, also aller neuronalen bzw. synaptischen Verbindungen im Gehirn, wirft ein Schlaglicht auf die enorme Komplexität, die mit der Messung und Entschlüsselung von Vorgängen im Gehirn verbunden ist. Das folgende Video mit Sebastian Seung, Professor am MIT für informationstechnische Neurowissenschaften, macht dies sehr deutlich. Demnach ist es bereits eine ganz erhebliche Herausforderung, alle Verbindungen im Gehirn einer Maus zu entschlüsseln. Der optisch schön dargestellte Vergleich zum menschlichen Gehirn lässt ahnen, welche Mengen an Arbeit hier noch auf die Forscher warten.

Man darf also gespannt sein, wie schnell und in welchem Umfang Erkenntnisse der Neurowissenschaften Eingang in die Struktur und Konzeption von Social Networks finden werden. Deren Bemühungen um Umsatzquellen einerseits sowie attraktive Inhalte andererseits werden zweifellos zur Implementierung entsprechender Data-Mining-Tools führen. Die Frage ist also nur, wie lange hier mit tendenziell pseudo-wissenschaftlichen Konstrukten gearbeitet wird und ab wann der User wirklich zum – im Kopf – gläsernen Menschen wird.

WikiLeaks mit seinen Depeschen amerikanischer Diplomaten wird dann im Rückblick wie eine harmlose Aufregung und eine Art Auftakt zum Zeitalter der Transparenz erscheinen. Einer Transparenz jedoch, die in andere Dimensionen vorstösst, als man das heute noch weithin annimmt. Immerhin wird damit eines Tages dem Drang mancher Zeitgenossen, immer noch größere digitale Freundesnetzwerke aufzubauen, vielleicht wirksam Einhalt geboten. Etwa mit dem Hinweis: “Ihre Amygdala ist zu klein für diese Menge an Freunden. Reduzieren Sie die Anzahl Ihrer Kontakte.”

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