#Annexion

Sommer 17: Festhalten, wenn nichts los ist

von , 10.8.17

Ein Leichtmatrose hat es vor wenigen Tagen in die außenpolitische Berichterstattung geschafft. Das ist ein denkwürdiger Vorgang, denn Leichtmatrosen sind in der Schifffahrt Azubis des letzten Lehrjahres. Ein außenpolitischer Azubi namens Lindner nahm sich ein „Tabu“ vor, wie der sagte, er gab der von russischen Streitkräften besetzten Halbinsel der Krim den Status eines „dauerhaften Provisoriums“. Das ist ein Widerspruch in sich. Ein Provisorium ist entweder ein vorübergehender z.B. Zustand oder es ist nicht vorübergehend, dann ist es kein Provisorium.

Macht aber nix. S’ geht ja nur um unsere Sprache. Der Chef einer nicht im Bundestag vertretenden, aber durchaus koalitionswilligen Partei hackt mal eben ein gutes Stück der Außenpolitik der Bundesregierung und der Europäischen Union weg. Er vergleicht die Annexion der Krim mit Okkupation und Zwangseingliederung der drei baltischen Staaten 1940 durch die UdSSR. Eine Besetzung, die erst endete, als die UdSSR krachend zusammengebrochen war. Ein solcher Unfug wird im Sommer 2017 gedruckt, er beschäftigt Zeitungen, Internet, Fernsehsender.

Lindners Aussagen entstammen einem Interview mit der WAZ, die mitteilte, man habe den Herrn von der FDP im „Nassau Beach Club“ getroffen. Im Anschluss an das Interview hatte der Bismarck-Jünger vor, berichtete das Blatt, sich „auf der örtlichen Go Kart-Bahn (zu) verausgaben“. Wie macht mein Enkel Julius, wenn er ein Auto in die Hand genommen hat: Brummbrumm? Eben. Ob Herr Lindner während des Interviews sein Sakko aus- und wieder angezogen hat, ist übrigens nicht überliefert; auch nicht wie oft er ein Auge zugekniffen hat.

Deutschland im August 2017: Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) berichtet über das einst „hillige“ Köln, der dort gebaute „Colonius“, der 266 Meter hohe Fernsehturm, sei seit 1998 komplett zu: Seit 1994 sei das dazu gehörende Restaurant geschlossen, ab 1998 auch die Aussichtsplattform dicht. Stadtverwaltung und Oberbürgermeisterin interessierten sich nicht für einen begehbaren „Colonius“. Der werde als Sendemast von der Telekom genutzt. Das reiche offenbar. Ein echtes Provisorium an der Grenze zum Providurium.

Am ersten Samstag im August 2017 war in mehreren Zeitungen zu lesen, das Sonntagmorgen-Frühstücksei sei gefährdet. Zwar stünde das Sonntagmorgen-Ei nicht auf der Pommes-braunen Liste der gefährdeten Nahrungsmittel, aber weil ALDI die Eier aus den Regalen genommen habe, seien Engpässe zu befürchten. Schreckliche Aussichten. Frust zum Frühstück. In der sonntäglichen EMNID-Umfrage stieg die Linke von neun auf zehn, die AFD verlor von neun auf acht. Und niemand hat sich die Mühe gemacht, das zu erklären.

Einen Tag zuvor hatte der Feuilleton-Chef der Neuen Zürcher Zeitung, Philipp Meier, in dem Blatt erklärt: „Die Documenta braucht niemand.“ Die Documenta sei auf dem Weg zum „Propaganda-Kitsch“. Sie öffne weder die Augen auf neue Welten noch munde sie als geistige Nahrung. Weiß nicht. Wissen Sie’s?

Mehr wusste kürzlich der Frankfurter Philosoph Daniel Loick. Er erklärte in der Frankfurter Rundschau, die deutsche Polizei neige dazu, sich „strukturell …von ihrem Status als bloßes Mittel zur Umsetzung des demokratischen Willens loszusagen.“ In Hamburg sei ein Ausnahmezustand zu betrachten gewesen, so der Professor, in dem sich polizeiliches Handeln völlig seiner rechtlichen Schranken entledigt habe. Das sei im Rechtsstaat bereits latent. Mit anderen Worten: Weg mit der Polizei!

Ja, weg mit der heute reißfest gekleideten und sprüherprobten, ungeliebten Polizei. Leichte Baumwollstoffe und eine Warnjacke mit dem Aufdruck „Security loves You“ tun es auch. Wenn dann noch Gruppen Jüngerer wie Älterer neben der Leicht-Polizei stehen, die Schilder mit dem Aufdruck hoch halten: „White lives Matter“, kann nix mehr schiefgehen. Oder?

Ich sollte mal, sofern möglich, die alte Dame fragen, die am Mehlemer Domhof mit ihrem Rollator unterwegs war und die nach einem Polizeibericht beraubt worden ist: „Der Täter riss die Beute an sich und flüchtete.“ Der Täter habe einen gepflegten Gesamteindruck gemacht. Was mag die alte Dame von der Beseitigung des Gewaltmonopols des Staates halten?

Vielleicht war die alte Dame ja auf dem Weg zu ihrem Hausarzt, um den Blutdruck messen zu lassen und den nebenbei zu fragen: Was halten sie, Herr Doktor, von der Gesundheitskarte? Diese Karte, so ist zu lesen, stehe vor dem Aus, nachdem 1,7 Milliarden Euro für deren Entwicklung ausgegeben worden sind. Nicht irgendwelche 1,7 Milliarden aus einem x-beliebigen öffentlichen Haushalt, sondern das sind Cent für Cent und Euro für Euro Beitragsgelder der in einer Krankenversicherung Versicherten.

Es gab da mal eine Gesundheitsministerin namens Schmidt, die hatte sich überlegt, dass sich mancher Todesfall in der Folge wild durcheinandergehender Medikamentierung vermeiden ließe, wenn der eine Arzt wisse, was der andere verschrieben hatte. Und überhaupt ließe sich jede Menge bürokratischer Aufwand beseitigen, wenn das Wichtigste für Patient und Arzt auf einer solchen, elektronisch so gut wie die Post des Aussenministers gesicherten Karte niedergelegt sei. Damit es vorangehe, wurde eine spezielle Gesellschaft gegründet.

Die Versicherten zahlten, die Forscher forschten, Wissenschaftler wussten was, die Industrie produzierte Karten – und ein beträchtlicher Teil der Ärzte und -innen demonstrierte gegen die Karte, weil da nicht der Doktor drin sei, sondern „big Brother“, der die Menschen nach allen Regeln der Kunst „watch-te“. Überdies wollten einzelne Kassenvertreter mehr vom Gespeicherten wissen, als ihnen zustand. So gingen die Jahre ins Land. Die Karte und die ergänzenden Geräte wurden mit hunderten Änderungsforderungen bedacht. Manchmal konnte man den Eindruck haben, das ganze spiele sich auf einem Wormser Reichstag ab; Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen. Und nun scheint Schluss zu sein – jetzt zeichnet sich ab, dass einzelne Kassen eigene Karten favorisieren.

Ich schätze, in dieser Geschichte steckt mehr über die sogenannte „deutsche Art“ als in Professor Safranskis gesammelten Werken. Sommer seventeen eben. Wie heißt es so schön in Bob Dylans Workingman’s Blues2:„The place I love best is a sweet memory.“

Schlimmer geht’s nimmer? Gemach, gemach. Das „Modell Deutschland steht unter Druck“ schrieb dieser Tage NZZ- Chefredaktor Eric Gujer. Nur unter Druck? Das wäre ja noch ausgesprochen komfortabel.

Gujer unterfütterte seine Behauptung mit Hinweisen auf den Diesel-Skandal und auf die Beziehungen zwischen Management, Gewerkschaften und Exekutive. „Ungesund“ nannte er diese Verbindungen. Er zielte auf das, was früher als „Deutschland AG“ bezeichnet wurde, etwas das sich in Auflösung befindet, das einst stabile und für die Akteure berechenbare Geflecht zwischen strukturbestimmenden Unternehmen, Banken und einem Teil der politisch Handelnden in Legislative und Exekutive.

Vier Hinweise:

Der seit Jahren bestehende Diesel-Skandal ist Beleg, dass diese Deutschland AG tatsächlich ihre beste Zeit hinter sich hat. Einer der wichtigsten Produktionsbereiche in Deutschland, fast die Automobilindustrie, hat durch geräte- Manipulationen und nachfolgende Lügereien flächendeckend Autokäufer, kontrollierende Behörden und auch die über die Autokonjunktur wachenden Staatsspitzen getäuscht, belogen, zum Narren gehalten.

Das macht man kein zweites Mal. All das sickert allmählich durch die verschiedenen Bürokratien und Hierarchien. Vergessen wird da gar nichts.

Gleichzeitig bringt diese kleine Gruppe von Managern die Klimaziele der Bundesregierung ins Wanken, die auch von großen Teilen der Wirtschaft akzeptiert worden waren. Das wird man denen nie verzeihen.

Drittens kann bis heute niemand präzise sagen, zu welchen Schädigungen der Menschen die Feinstaubbelastung tatsächlich führt. Gefahr bekannt. Aber wie große die Gefahr ist, ist nicht bekannt.

Schließlich haben diese Unternehmen es geschehen lassen, dass andere mit Blick auf alternative Mobilität die Nase vorn haben – bezogen auf die Zukunftstechnologie Elektromobilität. Dadurch wird es ziemlich unwahrscheinlich, dass 2020 eine Million Elektromobile auf den deutschen Straßen umher surren werden. Das war Ziel eines Regierungsprogramms.

Wir alle hätten gewarnt sein müssen, weil ein anderer Exponent der Deutschland AG, die Deutsche Bank, seit Jahren völlig von der Rolle ist. Alfred Herrhausens Bank ist verstrickt in milliardenschwere Rechtsstreite; man traut der Deutschen Bank nicht mehr – aber im Gegenzug alles Mögliche Unanständige zu.

Die Bundesrepublik im Sommer 17: Was ist eigentlich los im Land? Ralph Bollmann machte darauf aufmerksam, dass Playmobil im Lutherjahr („Gott helfe mir. Amen“) bereits mehr als eine Million Mal den Religionsstifter als Plastikfigur verkauft habe (Braune Locken, flacher Hut, Plastikfeder, Plastikbibel), dass aber die Besucherzahlen hinter den Erwartungen zurückblieben.

Also, was ist los? Oder ist nichts los? Gähnen und Desinteresse nach dem Motto: Kommt ja doch alles demnächst in der Glotze? Lustlosigkeit? Die in manchen Medien beschriebene diffuse Angst vieler Menschen vor allem und jedem? Immer wieder neuer Schrecken während das Leid der Betroffenen wie hinter rasch heraufziehendem Nebel verschwindet? Ist es so, dass all die Publikumssendungen von Sonntag bis Sonntag mit ihren Gästen von Will bis Will eher Verwirrung stiften als …, ja was wollten die eigentlich?

Ich hoffe, dass die Bundestagswahl in wenigen Wochen dies alles nicht widerspiegelt, sondern dass die Wählerinnen und Wähler sich so verhalten wie im Lutherjahr: Hartplastik. Nicht so leicht kaputt zu kriegen. Europa. Arbeit. Lebenserfahrung. Breite Mehrheit. Keine Schaumschläger.

 


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