von Julius Endert, 12.5.13
Es mag ein Zufall sein: Ausgerechnet, als in dieser Woche mit „reclaim social media“ auf der re:publica in Berlin, Deutschlands größtem Digital-Kongress, ein Projekt zur Wiedererlangung der Herrschaft über die eigenen Inhalte im sozialen Netz vorgestellt wurde, droht uns an anderer Stelle ein viel gravierenderer Verlust als die mangelnde Verfügungsgewalt über die eigenen Inhalte auf sozialen Plattformen wie Facebook: Datenbrillen nach der Bauart der jetzt vorgestellten Google Glasses führen zum Verlust der Definitionsmacht über unsere Identität.
Darum ist es jetzt an der Zeit für die Forderung „Reclaim Identity“.
Warum ist das nötig? Sind doch die Datenbrillen keine Revolution, sondern eher eine Evolution der schon seit Jahren verfügbaren Technologie der Augmented Reality. Insbesondere Anwendungen auf Smartphones ermöglichen den Nutzern die Kombination von selbst wahrgenommener Realität mit Informationen aus dem Netz.
Mit einer dieser Brillen auf der Nase kann man diese angereicherte Realitätssicht nun zum Dauerzustand machen. Mehr noch: Durch die eingebauten Foto- und Videofunktionen lassen sich der Realität selbst weitere Datenschichten hinzufügen, die, einmal gespeichert, wieder anderen Nutzern als Einblendung angeboten werden können.
Die geraubte Seele
Genau an dieser Stelle beginnen die Probleme. Zur Verdeutlichung hilft ein Blick in die Geschichte: Es gibt die Anekdote, dass bestimmte Eingeborenenstämme den Verlust der Seele fürchteten, wenn ein eifriger Missionar oder fleißiger Forscher ein Foto von ihnen anfertigte. Wir schmunzeln über diese Geschichte, schließlich ist ein Foto nur die Abbildung des Äußeren, eine schlechte Kopie von Haut und Haaren. Als einzelnes Objekt auf Papier bleibt es an der Oberfläche.
Doch schon mit der Veröffentlichung, beispielsweise in einem wissenschaftlichen Journal, beginnt die Vorstellung vom harmlosen Foto rissig zu werden: Wenn nämlich der in seinem Volk geehrte Häuptling dort als Wilder bezeichnet wird, ist er von diesem Augenblick an außerhalb seiner Gruppe, wenigstens aber bei den Lesern des Journals, der Wilde.
Viel drastischer wird die Situation für den Abfotografierten, wenn die Fotos digital vorliegen, in einer Datenbank und schließlich im Internet landen. Wer dort nach einem Foto von einem Wilden sucht, wird vielleicht auf genau diese Abbildung treffen und – sollte er nicht über ein gehöriges Maß an Unvoreingenommenheit verfügen – den Häuptling auch als Wilden ansprechen, falls er ihm eines Tages begegnet. So weit, so schlecht.
Wenn wir nun demnächst vor einem anderen Menschen mit Datenbrille auf der Nase stehen, wird dieser für uns eben jener Forscher sein, der uns die Seele raubt.
Unser Gegenüber wird von uns ein digitales Abbild zweiter Ordnung anfertigen, ein Bild, welches auch unter die Haut geht. Denn digitale Abbildungen haben Eigenschaften, die sich von der Vorstellung eines Abzugs auf Papier grundlegend unterscheiden: Sie sind beliebig kopierbar und manipulierbar und erlangen einen Großteil ihres Inhalts erst durch Kontextinformationen. Einmal in die digitale Welt entlassen, beginnen sie, eine Art Eigenleben zu führen, sie werden quasi immer neu beschriftet, sie verknüpfen sich mit anderen Bildern und Inhalten – was in der Folge zu immer neuen Interpretationen führt.
Wir verlieren den Wissensvorsprung über uns selbst
Wir werden dadurch als Subjekt eine Art Entkleidung erleben, verwandelt zunächst zu einer Form eigenschaftsloser Objekte, die eine ständige Rekontextualisierung erfahren werden. Denn Datenbrillen nach Bauart der Google Glasses funktionieren in beide Richtungen: Sie sind Abbildungsmaschinen und zugleich Interpretationsgeneratoren der Wirklichkeit.
Das Paradoxe daran: Ihr Träger bekommt zunächst den Eindruck, als habe er an Gestaltungsmacht gewonnen. Schließlich ist er es, der entscheidet, wann und was aus seinem Leben aufgezeichnet wird. Doch zugleich wird er bei der Auslegung der Wirklichkeit einer wie auch immer autorisierten Information aus dem Netz vertrauen, welche ihm von der Brille angeboten wird. Wo die Abweichungen von der Konvention offensichtlich sind, wird er noch stutzen: Ein Auto ist ein Auto, kein Haus. Aber ein Kirschbaum ist ein Obstbaum wie ein Birnbaum oder ein Apfelbaum.
Und wer ist dieser Mensch, dem wir vormals unvoreingenommen gegenüberstanden? Die Gesichtserkennung wird weit mehr als nur den Namen liefern. Der Punkt Null eines Zusammentreffens wird nicht länger der Ausgangspunkt einer Beziehung sein, sondern quasi der Endpunkt, und zwar ohne Freiheitsgrade. Wir werden durch unsere Vergangenheit definiert werden und verlieren den Wissensvorsprung über uns selbst.
Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte war der Meinung: „Das Ich setzt sich selbst“. Es sei zugleich das Handelnde und das Produkt der Handlung:
[..] das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung.
(Wikipedia)
Nun wird das Ich gesetzt, im besten Fall ist es Ausdruck der Handlungen aus der Vergangenheit. Der Zeitstrahl kehrt sich um, die Definition erfolgt rückwärts gerichtet, auf Basis der gespeicherten Informationen.
Diskussion über die Privatsphäre hinaus
Das ist erst der Anfang. Die Diskussion um die Datenbrillen hat dabei viel weniger mit Privatsphäre zu tun, als man derzeit glauben mag. Was daran liegt, dass der mögliche Verlust eines geschützten Lebensbereichs noch der nach traditionellen Vorstellungen naheliegendste Aspekt ist.
Doch er ist fast zu vernachlässigen, was mit einem zweiten Irrtum der aktuellen Diskussion zu tun hat. Bei der gerade aufkommenden Technologie der Augmented Reality (von der die Datenbrillen, wie beschrieben, ein Teil sind) handelt es sich nicht um eine Verschmelzung von Netz und Realität, es geht vielmehr um eine Auflösung der Welt im Digitalen. Die Welt wird zur Leinwand, zur inhaltslosen Projektionsfläche für Daten.
Die vollständige Abbildung des Realen in Daten – auch Bilder / Videos sind Daten – ist der erste Schritt dieser Auflösung. Sie umfasst das statische Leben, die Dinge, und das dynamische, also alle (Lebens-)Vorgänge in dieser Welt, am Ende bis hin zu unseren Gedanken und Absichten. Alles ist bzw. wird Datenbestand oder Datenstrom.
Allen voran betreibt Google diese allumfassende Abbildung und Durchsuchbarmachung der Welt. Hat der Konzern beim Projekt Street View sich noch selbst der Mühe unterziehen müssen, die reale Welt zu scannen und ins Netz zu speisen, werden das in Zukunft die Datenbrillennutzer übernehmen.
Der öffentliche Lebensraum wird vollständig digitalisiert, privatisiert und anschließend kapitalisiert. Während die reine Abbildung aus Schritt eins noch vergleichsweise trivial ist, wird der Schritt zwei, also die Auflösung der Welt, weit gravierender sein: Das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft wird ebenso durchsuchbar wie alle anderen Daten im Netz, berechenbar, prognostizierbar, manipulierbar, im schlimmsten Fall steuerbar.
Denn der Kontext und die Zuordnungsregeln kommen nicht länger aus der Gesellschaft selbst, sondern von denjenigen, die über die Datenbestände verfügen können und die Zuordnungsvorschriften programmieren lassen. Der Kontext unseres Lebens und unsere Identität werden im schlimmsten Szenario zur Laufzeit generiert, zusammengestellt im Augenblick der Betrachtung nach Vorschriften, die nur noch eine kleine Elite dieser neuen Wirklichkeitserzeuger in den Unternehmen kennt. Dabei arbeiten Unternehmen und nach immer mehr Überwachungsinstrumenten dürstende Staaten Hand in Hand. Den Behörden wird es nur recht sein, wenn das gesamte Leben digital gespiegelt wird.
So wird aus dem „In die Welt geworfen sein“ nach Heidegger ein unheilbares Ausgeliefertsein. Die sinnhaften Bezüge zwischen uns und der Welt werden von zentraler Stelle vordefiniert und berechnet sein, noch bevor wir die Welt betreten.
Rechtliche, kulturelle, gesellschaftliche Vereinbarungen für diese Situation wurden bisher nicht getroffen. Doch kaum jemand wird sich dieser Entwicklung und seiner ganz persönlichen Teilnahme an der Verdatung entziehen können, will er am normalen Leben teilnehmen. In einer Welt voller Datenbrillen und Überwachungssensoren wird das Netz betreten, wer die Welt betritt.
Noch fehlt es am allgemeinen Bewusstsein für diese Entwicklung, dem Verständnis und dem Diskurs. Politik ist überfordert und scheitert schon an den einfachen Aufgaben der Strukturierung dieser Welt, wie die Debatten über Urheberrecht, Leistungsschutzrecht und Netzneutralität zeigen. Andere gesellschaftliche Institutionen wie Gewerkschaften oder Kirchen sind ebensowenig eine Hilfe. Als Getriebene wandeln sie sich mehr und mehr zu Traditionsvereinen und Bewahrern von Ideen aus der vordigitalen Zeit. Auch in der Forschung sieht es nicht viel besser aus: Die Geisteswissenschaften erlahmen, und die Technik- und Biowissenschaften erproben sich am Machbaren und treten als Beschleuniger auf.
Ein neues Menschenrecht
Was also könnte man tun? Vielleicht ist es Zeit für ein neues Menschenrecht, wenigstens aber die Überarbeitung der Interpretation des Artikels von der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Es wird höchste Zeit, eine erweiterte Definition für die Würde des Menschen zu finden. Denn sie hängt auch damit zusammen, dass der Mensch selbst festlegen und gestalten kann, was er ist und was er sein möchte. Ein (Vor-)festlegung ist auszuschließen und widerspricht der Menschenwürde.
Wir benötigen dazu umfassende Transparenz- und Auskunftsrechte, die sich bis auf die Firmengeheimnisse, also die streng gehüteten Algorithmen erstrecken. Nur so können wir das Ausgeliefertsein ansatzweise heilen. Die Daten eines Lebens und seiner Beziehungen und Zusammenhänge dürfen nicht den black boxes verschwinden, wo sie derzeit aufbewahrt und nach geheimen Regeln verarbeitet werden.
Wir brauchen Datenbankauszüge, Eingriffs- und Löschmöglichkeiten. Wir brauchen digitale Ombudsleute, und das Recht am eigenen Bild muss auf das Recht am eigenen Datum ausgeweitet werden.
Wenn das Internet Allgemeingut und öffentlicher Raum ist – wie es längst der Fall ist – müssen die dort geltenden Regeln, Gesetze und Umgangsformen entsprechend öffentlich ausgehandelt und vereinbart werden.
Am Ende mag das die Geschäftsmöglichkeit der dort aktiven Unternehmen einschränken, aber die Gesellschaft in ihrer Funktionsfähigkeit erhalten. Denn Gesellschaften funktionieren nur mit Individuen, die als Subjekt selbst Herr über ihre Identitäten sind: Reclaim Identity.
Julius bloggt auf Netz Lloyd