von Hans-Jürgen Arlt, 27.5.14
Europa hat gewählt und rechte Vorstellungen gestärkt, die in Deutschland in solchen Aussagen gipfelten: “Die EU ist keine Sozialunion” (Angela Merkel, CDU) und „sozial geht nur national“ (NPD) und „Wir sind nicht das Weltsozialamt!“ (AfD).
Parallelen beachten, aber nicht die Unterschiede ignorieren. Historische Bezüge herstellen, aber nicht alles in einen Topf werfen.
Was passiert da, wenn Rechtspopulisten für die besseren Volksvertreter gehalten werden? Die Arroganz der Gewinner, die Wut der Verlierer und die Verlustängste der Mittelschichten ballen sich zu einer schwarzbraunen Wolke. Europa ist nur der Sack, der geschlagen wird. In den politischen Erfolgen des Rechtspopulismus schlagen sich die sozialen Verwerfungen der vergangenen Jahrzehnte nieder.
Was Bundesbürgerinnen und -bürger im Mai 2014 hören und lesen möchten und was sie nicht wahrhaben wollen, darüber lassen sich begründete Vermutungen anstellen. Die Bundeskanzlerin glaubt, potentielle Unions-Wähler hören es gerne, dass arbeitsuchende, nicht-deutsche Europäer in der Bundesrepublik nicht mit Sozialleistungen rechnen können.
Frau Merkel hätte auch sagen können, hört mal, wir stehen bei der Exportweltmeisterschaft seit Jahrzehnten auf dem Treppchen, oft sogar ganz oben; wir haben hohe Leistungsbilanzüberschüsse, das heißt, wir exportieren Arbeitslosigkeit, vielleicht sollten wir … nein, dafür rechnet sie weder mit Beifall noch mit Stimmen.
Gleichwohl herrscht in der Bundesrepublik seit 1981 Massenarbeitslosigkeit. Während dieser mehr als 30 Jahre waren immer zwischen einer Million und fünf Millionen Personen als arbeitsuchend registriert.
Während der 80er- und 90er-Jahre wurden Arbeitslose nicht selten dem Generalverdacht ausgesetzt, arbeitsscheu zu sein und es sich auf Kosten des Sozialstaates gut gehen zu lassen. „Florida-Rolf“ (BILD: „Er lacht uns alle aus!“) war ein massenmedial inszeniertes Symbol des parasitären Kostgängers.
Mit der Zuschreibung, andere seien Parasiten, Schmarotzer, Nassauer, ist schnell bei der Hand, wer Konkurrenz als soziales Grundmuster praktiziert, Verlierer für Versager hält und Sieger als bessere Menschen hofiert. Wo schon „die eigenen“ Arbeitslosen verdächtig sind, werden „fremde“ sofort schuldig gesprochen. Soziale Verantwortungslosigkeit und Ausländerfeindlichkeit blasen in das gleiche Horn, das ist in Deutschland genau so wie im Rest Europas.
Offenbar produziert die moderne Gesellschaft Lebenslagen, welche – Nationen und Jahrzehnte übergreifend – das Verkünden und das Hörenwollen rechtspopulistischer Positionen fördern. Spitzen des Eisbergs, organisierte Formen von Rechtsextremismus, kennt Europa seit Ende des 19. Jahrhunderts. Es bleibt wahr: Wer vom Kapitalismus nicht reden will …
Es liegen, rechts und links, zwei besonders interessante Fälle von Kurzsichtigkeit vor: Überzeugte Rechte speisen ihre politischen Vorstellungen aus Oberflächen-Erfahrungen mit der modernen Lebenswelt, sie beschimpfen die unruhigen Wellen und verschweigen den ökonomischen Sturm. Engagierte Linke beziehen ihre Urteile über rechtspopulistische Akteure aus eiligen Schuldzuweisungen – böse oder blöd.
Aber es kommt darauf an, über den Zusammenhang zu reden zwischen Wellengang und Sturm, zwischen sozialen Bedrohungen und wirtschaftlichen Siegesserien. Sonst gewinnen halbe Wahrheiten und kleine Demagogen an Überzeugungskraft.
Was ist falsch an der Feststellung, dass Erfolg auch etwas mit persönlicher Leistung zu tun haben kann? Nichts, solange man das „auch“ und das „kann“ ernst nimmt. Erst die Arroganz der Gewinner, seien es Kerle wie Olaf Henkel, seien es Regierungen wie die deutsche, macht ein Politikum daraus.
Elitäre Arroganz sieht am Ferrari und am Trabi nicht den Motor, sie redet über die Stärken und Schwächen der Fahrer. Nur Märchen und Medien leisten es sich weiterhin, Vermögensunterschiede in astronomischen Größenordnungen, Einkommensabstände, die das Hundertfache übersteigen, mit persönlichen Leistungen zu erklären. Im richtigen Leben herrscht die Erfahrung sozialer Ungerechtigkeiten vor. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, hält es schwer aus, wenn andere, denen es auch dreckig geht, aus derselben Schüssel essen wollen.
Was ist falsch an dem Eindruck, dass die Konkurrenz auf nationalen Arbeitsmärkten härter wird, wenn Arbeitskräfte aus anderen Ländern dazu kommen? Wenig, so lange man nicht den ausländischen Arbeitskräften die Schuld dafür gibt. Statt sich zusammen für ein europäisches soziales Netz einzusetzen, werden nationalistische Feindbilder propagiert. Dass griechische Faulheit deutschen Wohlstand gefährdet, haben monatelang Titelgeschichten verkündet.
“Die einen fahren Porsche, die anderen Polo, aber alle stehen im selben Stau.”
— FDP-Vorsitzender Christian Lindner
„Ich weiß nicht, wie glücklich es macht, mit einem Helikopter wegzufliegen über all die Staus auf den Straßen. Ich weiß aber, wo sich Arme und Reiche begegnen. In einem Gang vor der Krebsstation. Da sitzen die Armen und die Reichen zusammen und hoffen, dass sie mit ihrem Leben davonkommen.“
— Franz Josef Wagner, bild.de, 22.03.2012
Was ist falsch an solchen Sätzen? Fast alles, aber das Quentchen Wahrheit, das darin steckt, kann für einen Moment ungeheure Kraft entfalten, vor allem, wenn für den Stau und den Krebs noch Schuldige vorgeführt werden – Andersgläubige, Andersfarbige, Andersdenkende. So entstehen historische Momente, die später als Katastrophen in die Geschichtsbücher eingehen.
Nun wird gerne argumentiert, es sei kurzsichtig, einen automatischen Zusammenhang herzustellen zwischen einer bedrohlich-perspektivlosen, als ungerecht empfundenen sozialen Lage und den Erfolgen des Rechtspopulismus. Dieser Argumentation ist zuzustimmen, soweit es das Wort „automatisch“ betrifft. Natürlich führt Alkohol nicht direkt zu Alkoholismus, aber diesem fehlt ohne jenen die Bedingung seiner Möglichkeit.
Dasselbe Wirtschaftssystem, das Reiche und Wohlhabende produziert, erzeugt soziale Risiken und Armut. Regierungspolitik, die nicht gegensteuert und ausgleicht, sondern die Reichen bestärkt, reicher zu werden, die den sozialen Schutz der Armen durchlöchert und die soziale Unsicherheit der Mittelschichten verschärft, trägt zu den Wahlerfolgen des Rechtspopulismus wesentlich bei.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Arlt lehrt strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste in Berlin.