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Putins Kreuzzug

von , 20.8.12

Als Wladimir Putin während seines Staatsbesuchs in London die Fragen der Journalisten beantwortet hat, versprach er den Mitgliedern von Pussy Riot ein mildes Urteil. Und, rein formal betrachtet, hielt er sein Wort: Die Anklage forderte drei Jahre Gefängnis, das Gericht sprach sich für zwei aus. Allerdings ist ein derart „mildes“ Urteil eine noch größere Zumutung. Die Richterin Marina Syrowa hat das Urteil drei Stunden lang verlesen, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte sie alles dafür gegeben, dabei von niemandem gesehen zu werden.

Die russische Justiz hat eine reiche Tradition von ungerechten Urteilen – man erinnere sich an den Chodorkowski-Prozess, oder an die Aktivisten der oppositionellen „Nationalbolschewiken“, die für gewaltlose Aktionen drei bis fünf Jahre Gefängnis bekamen. Aber das Urteil gegen Pussy Riot fällt sogar vor diesem Hintergrund auf. Nie zuvor hat ein russisches Gericht ein Urteil gefällt, zu dessen Begründung mittelalterliche Kirchenkonzile, kirchenspezifische Regeln und medizinische Diagnosen herangezogen wurden – die es wert sind, zu Aphorismen verarbeitet zu werden.

Es ist kein Witz: Im Urteil heißt es, die Angeklagten litten unter einer „vielfachen Persönlichkeitsstörung, die sich in einem aktiven Sendungsbewusstsein äußert“. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als wäre diese ganze Geschichte eine Image-Katastrophe für Wladimir Putin. Weltweit gab es Solidaritätsaktionen für Pussy Riot, Stars von Madonna über Stephen Fry bis Paul McCartney und Björk sprachen ihnen ihre Unterstützung aus.

Aber von Madonnas Äußerungen hängt im Leben von Wladimir Putin nichts ab. Und das Image Russlands als eines europäischen Irans, wo Gerichte theologische Urteile fällen, kommt Putin sogar entgegen. Jetzt kann er dem Westen sagen: Schaut her, das hier ist ein wildes religiöses Land, es kann nur mit autoritären Methoden gelenkt werden.
Die Umstrukturierung des politischen Raums in Russland begann praktisch sofort nach den Massenprotesten im Dezember vergangenen Jahres. Putin ließ sich gar nicht erst auf eine Auseinandersetzung mit der „kreativen Klasse“ ein, die die Basis der Protestierenden stellte. Im Gegenteil, er setzte in seiner Wahlkampagne alles daran, den Hass zwischen der „kreativen Klasse“ und dem „einfachen Volk“ der Putin-Unterstützer (so die Propaganda) noch zu steigern.

Der Fall Pussy Riot treibt diesen Hass auf eine neue Stufe – und gibt ihm eine religiöse Komponente: Wenn du gegen Putin bist, bist du gegen die Orthodoxie. Über diese Formel kann man sich lustig machen, doch sie verleiht Putins Macht noch mehr Stabilität. Der Hass, der in der russischen Gesellschaft kultiviert wird, verwandelt sich für Putin in eine Legitimationsquelle. Im Dezember gingen Hunderttausende auf die Straße, forderten faire Wahlen und protestierten gegen den immergleichen Putin im Kreml. Dank des Pussy-Riot-Prozesses wurde die Rolle der orthodoxen Kirche in der russischen Gesellschaft zu einem zentralen Thema. Und es gibt in Russland weitaus weniger Kirchen-Gegner als Putin-Gegner.

Der demonstrativ ungerechte, inquisitorische Prozess, von der ganzen Welt staunend mitverfolgt, lenkte die russische Gesellschaft von der Abrechnung mit der Opposition ab: Russlands bekanntester Oppositioneller, Alexej Nawalny, wartet auf seine Verhaftung – gegen ihn wurde ein Verfahren eingeleitet. Möglicherweise wird Gennadi Gudkow, einer der wenigen verbliebenen Oppositionellen in der Duma, bald verhaftet. Zwölf Teilnehmer der letzten großen Anti-Putin-Demonstration stehen unter Arrest. Ihnen drohen wegen Zusammenstößen mit der Polizei mehrere Jahre Haft.

Vor dem Hintergrund des Pussy-Riot-Prozesses mögen diese Repressionen ganz natürlich wirken. In diesem Sinne ist die politische Bedeutung des Urteils über die Punk-Musikerinnen viel größer als ihre politische Aktion selbst – das Spielen eines Anti-Putin-Liedes in einer Moskauer Kathedrale. Derweil wird die Richterin Marina Syrowa, erschöpft vom Prozess, wohl in den Urlaub fahren. Vielleicht nach Spanien oder Italien, wie üblich bei russischen Beamten. Wenn Russland als ein europäischer Iran gelten kann, dann als ein sonderbarer: Die Putin-Beamten können sich ihr Leben ohne den Westen nicht vorstellen. Dort haben sie ihre Kinder, ihr Geld, ihre Immobilien, dort machen sie Urlaub, dort gehen sie shoppen. Und solange sie ungehindert aus Russland ausreisen können, scheren sie sich nicht um Madonna.

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin (n-ost)
Der Kommentar wurde für das Korrespondenten-Netzwerk n-ost geschrieben.

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