von Wolfgang Michal, 7.4.10
„Angefangen hat alles auf dem C-64.“ Auf diesem legendären Heimcomputer schrieb der 13-jährige Frank Westphal 1984 seine ersten Programme. Die 8-Bit-Maschine mit 64 KiloByte Arbeitsspeicher und der unverwüstlichen Hardware prägte eine ganze Generation von Tüftlern und Bastlern. Frank Westphal ist also ein Alt-„64er“. 2009 feierte er bereits sein 25-jähriges Programmierjubiläum. Schlimmer: Er wird im Dezember 40!
Geboren ist er im schleswig-holsteinischen Elmshorn. In der Kleinstadt Barmstedt (Kreis Pinneberg) wächst er auf. Er ist ein Einzelkind. Der Vater arbeitet als Gärtner, die Mutter ist Hausfrau. Bei den Westphals dominieren seit jeher die Handwerksberufe. Frank ist der erste, der studieren kann – falls er zuvor was Ordentliches lernt! Also macht er eine Lehre als Kommunikationselektroniker. Über den zweiten Bildungsweg gelangt er an die Fachhochschule Wedel, wo er Technische Informatik studiert. „Irgendwie“, sagt Westphal, „musste es wohl darauf hinauslaufen.“
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Fasziniert von einer Bewegung
1999 heuert der junge Diplomingenieur bei einem vielversprechenden Start-Up-Unternehmen an, doch im Frühjahr 2000 platzt die Dotcom-Blase. Westphal macht sich selbstständig. Von nun an arbeitet er als freier Software-Entwicklungs-Coach, spezialisiert auf „extremes Programmieren“, genannt XP.
Diese so spektakulär klingende Programmiermethode war ursprünglich beim US-Autokonzern Chrysler entwickelt worden. Doch XP bildet schnell die Ausgangsbasis für eine regelrechte Bewegung. Der Softwareentwickler Kent Beck und einige seiner Mitstreiter schreiben 2001 in den Bergen von Utah das berühmte „Manifest für agile Softwareentwicklung“, wozu auch „Extreme Programming“ gehört.
Die neue Art des Programmschreibens entspricht Westphals Mentalität. XP, sagt er, habe „die Natur der Softwareentwicklung auf den Punkt gebracht“. Denn XP versuche, auf der Basis fester Werte und mit möglichst geringem Aufwand schlanke, „leichtfüßige“, stabil funktionierende und schnell änderbare Software zu schreiben.
Die Leitsätze der Bewegung spiegeln sich auch in der Herangehensweise. So soll jedem XP-Programmierer immer ein zweiter über die Schulter schauen (= Pair Programming). Durch den Austausch im Team können Fehler früh entdeckt und Probleme schnell gelöst werden. Die Fähigkeit, einem anderen erklären zu können, was man selbst gerade tut, nützt aber nicht nur der gedanklichen Durchdringung der eigenen Arbeit, sie nützt auch den Kunden: Stürzt ein Programm ab, kann es ohne große Verzögerung wieder hergestellt werden, weil jeder über alle Schritte Bescheid weiß.
Neben diesem Prinzip des „Pair Programming“ befolgt XP noch einen zweiten methodischen Grundsatz: Als erstes müssen die Tests geschrieben werden, mit denen die Programme später geprüft werden sollen – nicht umgekehrt! Diese revolutionäre Verfahrensumkehr zwingt die Programmierer zu einer präzisen Festlegung der Ziele, die sie mit ihren Programmen erreichen wollen. Alle Tests und Programmierschritte erfolgen dabei in kleinen Einheiten (so genannten Units). Auf diese Weise können Fehler oder überflüssige Wiederholungen getilgt werden, ohne gleich das ganze Programm auf den Kopf stellen zu müssen. Schritt für Schritt gewinnt der Programmierer sicheren Boden unter den Füßen. Der Name „Extreme Programming“ ist also irreführend. XP ist weder extrem noch riskant, sondern pragmatisch und bodenständig, weil es Risiken durch ständigen Abgleich minimiert und auf die schrittweise Fortschreibung des Erreichten setzt.
Handwerkern kommt eine solche Arbeitsweise ‚extrem’ entgegen. Und da Westphal nicht nur das Praktische, sondern auch das Ethos des „von der Pike auf“-Lernens im Blut liegt, geht er – nach seinen Lehrjahren – erst mal auf Wanderschaft, lebt – wie ein fahrender Geselle – aus dem Koffer und versucht, neben der täglichen Arbeit sein Meisterstück zu machen: ein Fachbuch über XP zu schreiben. Es erscheint im November 2005 unter dem Titel „Testgetriebene Entwicklung… Wie Software änderbar bleibt“. Ersetzt man das Wort Software im Titel durch den Namen Westphal, hat man eine ziemlich gute Kurzbeschreibung seines Lebens.
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Er will sein eigener Herr sein
Anfang 2006, die Beratertätigkeit hängt ihm schon ein wenig zum Hals heraus, meldet sich ein guter Freund und fragt, ob Westphal nicht Lust hätte, „im neuen Start-Up-Unternehmen von Stephan Uhrenbacher ein Bewertungs- und Empfehlungsportal zu entwickeln, das die guten und schlechten Seiten einer Stadt erfasst: Handwerker, Läden, Kindergärten, Restaurants, Ärzte etc.“ Das Portal soll aber nicht nur Bewertungen anzeigen, sondern gleichzeitig offen legen, was die einzelnen Kommentatoren schon bewertet haben – um deren Kompetenz besser einschätzen zu können.
Das unter dem Namen Qype entstehende Portal ist das erste größere Hybridmodell, an dem Frank Westphal mitarbeitet. „Hybrid“ heißt es deshalb, weil hier eine Suchmaschine und ein soziales Netzwerk bzw. ein Branchenbuch und eine städtische Community intelligent miteinander verknüpft werden. Es ist der Höhepunkt der Web 2.0-Welle, kurz bevor YouTube von Google für 1,65 Milliarden Dollar übernommen wird. Auch an Qype scheint Google interessiert zu sein, denn der Wert des Portals (das heute europaweit die Nummer 1 der Do-it-yourself-Stadtmagazine ist) steigt plötzlich auf sagenhafte 50 Millionen Dollar.
Doch Westphal hält es nicht bei Qype. Er will „Freigeist“ bleiben, und seinen „viel zu vielen“ Interessen weiter nachgehen. Vor allem will er nicht zur Gilde der Köfferchen tragenden, PR-Deutsch sprechenden Projektmanager gehören, sondern wieder „bis zu den Knien im Softwarecode stehen“. Die Herkunft aus der norddeutschen Tiefebene verhindert verlässlich, dass Westphal geistig abhebt oder dem Hype-Getöse einer überdrehten Internetbranche erliegt. 2006 macht er einen Schnitt. Er verordnet sich ein Sabbatical. Die Ersparnisse aus den Beraterjahren erlauben es ihm, ohne Termindruck herumzuprobieren und die eigenen Ideen auszuleben: „Ich wollte mal mein eigener Herr sein.“
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Das Rivva-Projekt
Das Software-Problem, an dem er seit längerem knabbert, und das ihm auch persönlich zu schaffen macht, ist der anschwellende Informationsfluss im World Wide Web und die Hilflosigkeit des Einzelnen, diesen Strom zu bändigen. Westphals Feedreader quillt über. Einerseits plagt ihn das Gefühl, Zeit zu verschwenden. Andererseits lebt er in der ständigen Sorge, etwas zu verpassen oder nicht mehr up to date zu sein. „Ich brauchte dringend eine Informationsdiät“.
Frank Westphal schwebt ein Filterprogramm vor, das ganz auf die persönlichen Interessen der Nutzer zugeschnitten ist: Maschinenintelligenz „plus menschliches Bauchgefühl“ – das scheint ihm die ideale Kombination für einen „kollaborativen Filter“ zu sein.
Auf der Grundlage dieser Idee entsteht Rivva. Am 3. März 2007 startet Westphal seinen News-Aggregator. Das vollautomatische Programm ordnet und bündelt, was im deutschsprachigen Web gerade heiß diskutiert wird. Anfangs durchsucht Westphals Meme-Tracker lediglich sieben Blogs: frankwestphal.de, Basic Thinking, Blogbar, Spreeblick, wirres.net, Lummaland und Werbeblogger (heute sind es fast 4000 deutschsprachige Quellen und über 150.000 Twitter-Accounts).
Rivva, sagt man, fühle der Blog-Szene den Puls. Die Seite gruppiert thematisch verwandte Diskussionen (also den Zeitgeist) rund um die Uhr zu einer aktuellen „News-Seite“ – mit dem Unterschied, dass hier nicht Chefredakteure qua Amt, sondern Blogger durch ihre Verlinkungen entscheiden, welche Artikel auf der Titelseite landen und welche nicht.
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Die Krise
Zwei Jahre lang funktioniert das Modell hervorragend. Westphal baut Rivva – entsprechend seiner Kaizen-Philosophie – schrittweise aus, verbessert den Code, optimiert die Datenbanken, zieht Ressorts und diverse Unterseiten ein, und versucht dabei immer, mit möglichst wenig Mitteln auszukommen. Als begnadeter Tüftler lebt er ständig „mit dem Kopf unter der Motorhaube“. Seine Bescheidenheit und seine Sparsamkeit (die Teil seiner Lebens- und Arbeitsphilosophie sind), hindern ihn, großspuriger zu denken. Rivva scheint vollendet zu sein, ohne weitere Entwicklungsmöglichkeiten, und so verliert er langsam die Lust daran. Seine Fans reagieren entsetzt, als er im Mai 2009 über einen Ausstieg nachdenkt.
Auch der Holtzbrinck-Verlag beerdigt 2009 sein ambitioniertes Zoomer-Projekt. Das Nachrichtenportal unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Tagesthemen-Moderators Ulrich Wickert sollte besonders nachgefragte News redaktionell anreichern und aufwerten. Aber die Szene kann mit dem hölzernen Verlags-Angebot wenig anfangen.
Westphal registriert eine Stimmungsänderung. Seit Sommer 2007 fallen die in den Deutschen Blogcharts ausgewiesenen Verlinkungszahlen. Die ins Netz drängenden Altmedien (von SpOn bis FAZnet) entwickeln sich zu neuen Platzhirschen, und der Aufstieg des Kurznachrichtendienstes Twitter mit seinen eher trivialen Lese- und Youtube-Tipps macht die Ermüdungserscheinungen in der Blogszene noch sichtbarer.
Twitter, so Westphal, spüle vor allem Boulevardthemen nach oben, „Sachen von Bild, Bravo, Stern und Focus“. Der Mainstream schwillt an und lässt auch bei Rivva die Newcomer, Seiteneinsteiger und Paradiesvögel immer seltener zum Zug kommen. Doch Rivva kann das Verhalten der Szene lediglich abbilden. Verlinken Blogger und Twitterer vor allem die großen Onlinemedien, so reduziert dies eben auch die Vielfalt auf Rivva. Anders ausgedrückt: Ein Fluss (ein Rivva) kann nie höher steigen als seine Quelle(n).
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Eine neue Herausforderung
Es sieht deshalb ganz danach aus, als brüte Frank Westphal über einer neuen Idee, die das alte Hybridmodell verbessert. Und weil er ein solider Handwerker ist, der nichts hinausposaunt, was nicht wirklich spruchreif ist, hält er sich mit Informationen noch sehr zurück. Nur so viel: Er bezahlt das Rivva-Projekt nun seit drei Jahren aus eigener Tasche. Er investiert seine gesamte Freizeit in die Seite. Da muss sie seinen Vorstellungen einfach besser entsprechen als jetzt.
Es ist die alte testgetriebene Entwicklung, die in ihm rumort. Seit Herbst letzten Jahres arbeitet er auf Honorarbasis für das news-lab der Deutschen Presse-Agentur (dpa). In der von Gerd Kamp, einem ehemaligen Bertelsmann-Manager, geleiteten Denkfabrik werden gerade Formate für E-Lesegeräte entwickelt. Die Arbeit in dieser speziellen Atmosphäre – „der Seiteneinstieg eines ‚Techi’ in die Medienwelt“ – beflügelt wohl seinen Plan, mehr aus Rivva zu machen. Was schwebt ihm vor?
Frank Westphal denkt an eine „lernende Zeitung, eine Frank-Schirrmacher-Maschine, die umso besser wird, je länger man sie benutzt.“ Das heißt, er will – wie schon bisher – „die Info-Ströme für die wachsende Zahl der Alpha-Geeks bündeln“. Doch darüber hinaus möchte er die Programmierung der Auswahlmechanismen wieder stärker in die eigene Hand nehmen, also die klassischen Aufgaben eines Redakteurs wahrnehmen.
Diesen Hybridansatz – Maschinenintelligenz unter redaktioneller Betreuung – findet er zukunftsweisend. Die New York Times geht mit ihrer Blogrunner-Akquisition diesen Weg. „Doch in Deutschland“, sagt Westphal, „sehe ich keine Partner dafür, und mir selbst fehlt leider das nötige Kleingeld.“
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Dieser Text ist eine Gemeinschaftsproduktion von magda.de und Carta.