#Migration

Ohne hochqualifizierte Zuwanderung drohen Deutschland Wohlstandsverluste

Größere Sichtbarkeit von Zuwanderern, vor allem von People of Color, in den Top-Etagen deutscher Unternehmen ist ein probates Mittel, dem bis in die Mittelschicht hinein verbreiteten Klischee des »unqualifizierten Ausländers« entgegenzuwirken.

von and , 20.11.21

Die Migrationsfrage wird in Deutschland nach wie vor einseitig auf Flucht und Asyl verengt. Dabei zeigen die Zahlen von Experten immer deutlicher, dass ohne einen signifikanten Zuwachs bei der Zuwanderung von Hochqualifizierten Deutschland in den nächsten Jahren infolge der demographischen Entwicklung erhebliche Wohlstandsverluste drohen. Debattiert aber wird darüber öffentlich kaum.

Die neuesten Zahlen zur arbeitsmarktrelevanten demographischen Lage in Deutschland geben Grund zur Sorge. Laut einer gerade veröffentlichten Studie des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) stehe »die deutsche Wirtschaft vor einer großen Herausforderung, auf die Politik und Wirtschaft in Deutschland bislang viel zu wenig vorbereitet« seien. Gemeint ist der ab Mitte 2025 bevorstehende Eintritt der »Babyboomer« in den Ruhestand, der sich bis zum Jahr 2035 erstecken wird. Im Lichte weiterer negativer Faktoren wie der tendenziell abnehmenden Arbeitszeit sowie der rückläufigen Zuwächse bei der Arbeitsproduktivität werde sich »in den nächsten 15 Jahren das Wirtschaftswachstum demografisch bedingt deutlich verlangsamen.«

Die Folgen für den individuellen Lebensstandard der Deutschen werden, so die Prognose des IW, gravierend sein. Nicht nur werde dieser »nicht mehr wie gewohnt steigen können – wenn nicht gegengesteuert wird«, sondern es droht pro Kopf sogar im schlimmsten Szenario rechnerisch eine Einkommenseinbuße von jährlich EUR 4.000.

Zu den notwendigen Gegenmaßnahmen zählen aus Sicht des IW »mehr Beschäftigungsanreize« sowie »gezielte Maßnahmen«, mit denen sich »das Produktivitätswachstum in Zukunft« deutlich erhöhen lasse, darunter vor allem »eine schnellere Digitalisierung, mehr Innovationen und kontinuierliche Bildungsanstrengungen«.

Hochqualifizierten-Zuwanderung kann das Wachstumspotential stabilisieren

Besonders dramatisch wird sich der Rückgang der Erwerbsbevölkerung im Bereich der technischen Innovationen manifestieren, da »der Wissens- und Effizienzfortschritt annahmegemäß gedämpft« werden dürfte, und zwar »vor allem durch nachlassende Forschungseffizienz, demografisch bedingte zunehmende Fachkräfteengpässe sowie Probleme bei der Verbreitung von Innovationen zwischen den Unternehmen«. Unter mehreren Gegenmaßnahmen führen die Autoren der Studie explizit an, dass »die Zuwanderung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte auf den deutschen Arbeitsmarkt ebenfalls einen Beitrag zur Stabilisierung des Wachstumspotenzials leisten« (könne). 

Das IW empfiehlt insoweit ausdrücklich, den Fokus auf »die Geburtsjahrgänge seit 1996« und auf die »Gewinnung von Personen aus Drittstaaten«, also Ländern außerhalb der EU zu legen, gerade auch weil man bereits »positive Erfahrungen« mit der »Zuwanderung in akademischen MINT-Berufen, die stark zur Fachkräftesicherung beigetragen« habe, gemacht habe. 

All das ist nachdrücklich zu unterstreichen. Gerade die Corona-Krise hat deutlich gemacht, wie sehr Deutschland auf dem Gebiet der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz hinterherhinkt. Und auch für die Bewältigung der Klimakrise werden technische Innovationen eine herausragende Rolle spielen.

Über das Fernhalten von durch Belarus eingeschleusten Migranten wird umgehend diskutiert, über das Anwerben von Hochqualifizierten nicht

In der öffentlichen Debatte indes spielen diese Art der Migrationsthemen bisher kaum eine Rolle, was zu einer merkwürdigen Schieflage führt. Geht es um das Fernhalten von asylsuchenden Migranten, wie aktuell bei den durch den belarussischen Diktator eingeschleusten und an die Grenze zu Polen gebrachten Migranten, kommen die Reaktionen umgehend. So sprachen sich die beiden Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck dafür aus, mittels einer Informationskampagne zu verhindern, dass Asylsuchende nach Belarus aufbrechen. Demgemäß sagten sie gegenüber der »Deutschen Presseagentur«: »Deutschland und die EU sollten umgehend eine Aufklärungskampagne in den Herkunftsländern starten und die Menschen vor den perfiden Lockangeboten Lukaschenkos warnen, damit sie nicht in die Flieger nach Minsk steigen.«

Dieses Anliegen in Sachen Belarus ist fraglos richtig, aber es zeigt leider auch, wie umgekehrt das Anwerben von hochqualifizierten Migranten, die firm in Zukunftstechnologien sind, vernachlässigt wird. Selbst bei der Diskussion um Fachkräfte geht es meistens nur um Menschen mit einer qualifizierten Berufsausbildung, nicht aber um Topakademiker.

Das Thema Arbeitsmigration wurde in den Wahlprogrammen der Parteien vernachlässigt. 

Auch die Parteien haben mit Ausnahme der FDP (dazu sogleich) das Dilemma kaum auf dem Schirm. So berichtete der »Deutschlandfunk« Anfang September über eine zu diesem Zeitpunkt gerade publizierte Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) , wonach, so der Wortlaut der Pressemitteilung zu der Studie, beim Thema Migration in den Wahlprogrammen die »Teilaspekte Asyl und Flucht durchweg überbetont« wurden. Die Wahlprogramme hätten sich »beim Thema Migration zu mindestens 75 Prozent mit den Teilaspekten Flucht und Asyl« beschäftigt, obwohl diese »nur circa 10 Prozent der Zuwanderung nach Deutschland aus(machen)«.

Tobias Heidland, Direktor des Forschungszentrums Internationale Entwicklung beim IfW, wird in der Pressemitteilung deutlich. Natürlich sei »Fluchtmigration ein wichtiges Thema«, aber für »die Zukunft des Arbeitsmarkts und unseres Rentensystems« seien »stattdessen die Arbeits- und Bildungsmigration maßgebend«. Und weiter: »Was wir von der nächsten Regierung brauchen, ist eine Politik, die auf die Zukunft ausgerichtet ist und sich dabei mit allen Arten der Zuwanderung befasst: Arbeits- und Bildungsmigration, Familienmigration, Flucht und Asyl. Fluchtmigration machte in den letzten Jahren nur einen geringen Anteil der Zuwanderung aus und sollte daher nicht überbetont werden. Migration kann, wenn sie gezielt gestaltet wird, sehr positive Wirkungen für die langfristige wirtschaftliche Situation der Bevölkerung haben. Die Wahlprogramme sind jedoch teils so stark auf Verhinderung von Migration fokussiert, dass es den Anschein hat, als wären sich die Parteien dieser Chance gar nicht bewusst.« 

Heidland ging sogar so weit zu sagen, dass »durch die Überbetonung von Fluchtmigration« ein »Zerrbild« vermittelt werde, »das Migration mit Flucht gleichsetzt« und so »eine fehlerhafte Annahme, die sich auch in der Bevölkerung wiederfindet«, bestärke.

Die Politik darf das Thema Arbeitsmigration nicht aus Angst vor Stimmungsmache von rechts scheuen

Möglicherweise liegt einer der Gründe für die Zaghaftigkeit der Politik, das Thema Arbeitsmigration und dabei erst recht das Thema der Zuwanderung von Hochqualifizierten anzugehen, darin, dass fremdenfeindliche Ressentiments wieder massiv ausbrechen. Die Situation könnte insofern vergleichbar mit der zögerlichen Corona-Politik der Ampel-Koalitionsverhandler sein, die sich zu sehr durch das Querdenker-Milieu einschüchtern lassen. Tatsächlicher aber ist, wie die Verfasser dieses Beitrags im Sommer in »FAZ-Einspruch« näher beschrieben haben, eine größere Sichtbarkeit von Zuwanderern, vor allem von People of Color in den Top-Etagen deutscher Unternehmen ein probates Mittel, dem bis in die Mittelschicht hinein verbreiteten Klischee des »unqualifizierten Ausländers« entgegenzuwirken. 

Ohnehin ist diese thematische Zurückhaltung auch deshalb falsch, weil Rechte mit ihrer maßlosen zuwanderungskritischen Haltung offenbar nicht durchdacht haben, wie sehr auch ihr eigener Wohlstand ohne eine ausreichende Arbeitsmigration gefährdet ist. Das gilt etwa für die AfD, die nur eine qualifizierte Einwanderung nach dem äußerst restriktiven Vorbild des japanischen Einwanderungsrechts zulassen will, aber auch für viele sonstige (Neue) Rechte.

Es war Jakob Augstein, der im Mai 2019 bei einem Streitgespräch mit dem neurechten Vordenker Karlheinz Weißmann auf Schloss Ettersburg bei Weimar genau diesen Punkt luzide zum Thema Wohlstandsverlust aufbrachte und Weißmann vorhielt: »Wenn Sie die Leute vor die Wahl stellen: mehr Ausländer oder höherer Wohlstandsverlust, um es einmal herunterzubrechen, denn in Wahrheit läuft es darauf hinaus: dann bin ich auf die Antwort gespannt. Denn so wird es sein: am Schluss müssen Sie sich entscheiden, weil Sie gefragt haben, was wir mit den ganzen Migranten sollen. Die brauchen Sie, um hier den Wohlstand zu halten, weil es zu wenige Deutsche gibt. (…) Dass wir Zuwanderung brauchen in diesem Land, um den Level zu halten, das sage nicht ich Ihnen, sondern das sagt Ihnen die Handwerkskammer oder der Industrieverband und die verstehen etwas davon (…).«

Blaue Karte: Liberaler Rechtsrahmen, geringer Erfolg.

Immerhin hat wie erwähnt die FDP erkannt, wie wichtig die Zuwanderung von Hochqualifizierten ist. Auch FDP-Parteichef Christian Lindner hatte beim »Politischen Aschermittwoch« dieses Jahr auf die Notwendigkeit qualifizierte Zuwanderung hingewiesen. 

Allerdings verengen die Liberalen die Thematik zu sehr auf den rechtlichen Rahmen, wenn sie in ihrem Wahlprogramm auf ein »modernes Zwei-Säulen-System« aus einer »überarbeiteten ›Blue Card‹ als Kerninstrument der Fachkräfteeinwanderung mit Arbeitsplatzangebot, die auch für nicht-akademische Fachkräfte geöffnet werden muss, und der Einführung einer Chancenkarte für ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild«, setzt, »um für Fachkräfte die Möglichkeit zu schaffen, auch ohne Arbeitsplatzangebot zur Arbeitssuche nach Deutschland zu kommen«. 

Die »Blaue Karte«, die auf eine EU-Richtlinie zurückgeht, gibt es bereits seit 2012. Ihr Regelungsrahmen ist äußerst liberal. Es genügt bei Akademikern ein konkretes Arbeitsplatzangebot mit einem Jahresgehalt von mindestens zwei Dritteln der jährlichen Bemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung (sogenannte »Regelberufe«, aktuell EUR 56.800). Bei »Mangelberufen« wie »Naturwissenschaftlern, Mathematikern, Ingenieuren sowie Spezialisten in der Informations- und Kommunikationstechnologie« ist sogar schon ein Jahresgehalt von 44.304 Euro ausreichend. Die »Blaue Karte« ist auf vier Jahre befristet, aber bereits nach 33 Monaten kann eine permanente Niederlassungserlaubnis beantragt werden, bei ausreichenden Sprachkenntnissen sogar schon ab 21 Monaten. Eine solche Bleibeperspektive ist zentral für die Gewinnung von Hochqualifizierten.

Nun hat die EU die »Blaue Karte« mit einer neuen Richtlinie vom 20. Oktober »über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hoch qualifizierten Beschäftigung« sogar nochmals liberalisiert. Darin werden die Gehaltsschwellen weiter abgesenkt und zudem wird der Familiennachzug erleichtert. 

Doch das dürfte nicht viel verbessern. Das Regelungsregime ist auch jetzt wie beschrieben schon sehr liberal. Dennoch sind die bisherigen Zahlen enttäuschend. Trotz eines Anstiegs von 17.362 Hochqualifizierten im Jahr 2016 auf 31.220 im Jahr 2019 (vor allem Inder und Chinesen) kann man wohl kaum von einem Erfolg sprechen. Offensichtlich gibt es, wie einer der Verfasser dieses Beitrags gerade im »Deutschlandfunk Kultur« ausgeführt hat, große Mängel im Bereich der »soften Faktoren«, die Deutschland besonders im Vergleich zu den USA, Kanada und Australien so unattraktiv machen. Hier ist dringender Handlungsbedarf gegeben, auch und gerade für die kommende neue Regierung.

Politik erschöpft sich nicht in legislatorischen Maßnahmen. Sie muss sich auch für ein gesellschaftliches Klima einsetzen, in dem Migranten sich willkommen fühlen. Es gibt weiterhin viel gegen Fremdenfeindlichkeit zu tun. Dass diese sich im Ausland herumspricht, darf nicht unterschätzt werden. In Indien etwa ist nach wie vor bekannt, wie Jürgen Rüttgers als nordrhein-westfälischer Spitzenkandidat der CDU bei der Landtagswahl 2000 mit dem Spruch »Statt Inder an die Computer müssen unsere Kinder an die Computer« gegen indische IT-Experten Stimmung mache, woraus in der öffentlichen Debatte schnell »Kinder statt Inder« wurde.

Zudem muss das staatliche Marketing verbessert werden. Gerade die USA werben aktiv im Ausland, etwa in Tech Hubs wie Bangalore in Indien um Mitarbeiter. Auch die Universitäten müssen gemeinsam mit Unternehmen dringend Weichen stellen. So schreibt das IW in der eingangs erwähnten Studie, dass »neben dem zuwanderungsrechtlichen Rahmen für die gesuchten Zuwanderer – die sich aktuell größtenteils noch im Teenageralter befinden – Bildungswege entwickelt werden (sollten), die bereits in den Herkunftsländern beginnen, sich in Deutschland fortsetzen und in eine qualifizierte Tätigkeit einmünden.« Zudem müssten, was vollkommen zutreffend ist, »die Verwaltungsprozesse bei den Zuwanderungswegen verbessert werden, damit die Potenziale der demografiestarken Drittstaaten für eine Zuwanderung nach Deutschland besser gehoben werden können«. Konkret ist dabei an »fast lanes« in den Immigrationsbehörden und eine gute Betreuung in den Konsulaten vor Ort zu denken.

Unternehmen müssen attraktive Gesamtpakete entwickeln, vor allem außerhalb der Metropolen

Auf Unternehmensebene wiederum gilt es, attraktive Gesamtpakete zu entwickeln, gerade auch, um eine Top-Position bei Weltmarktführern außerhalb der großen Städte attraktiv zu machen. Dazu müssen wiederum die Länder den Aufbau internationaler Schulen stärken. Jüngst vertrat eine Kommentatorin im »Handelsblatt« die These, die »Blaue Karte« sei deshalb unattraktiv, weil Bewerber »bereits einen Arbeitsvertrag unterschrieben haben« müssen, »bevor sie kommen dürfen«, doch wer finde »mal eben von Indien oder Russland aus, einen Job in Deutschland?«. Diese Stoßrichtung geht an der Realität vorbei. Es ist der deutsche Staat, es sind die deutschen Unternehmen, die sich aktiv um Hochqualifizierte bemühen müssen. Es ist ein Arbeitnehmermarkt. In der Regel sind Hochqualifizierte außerhalb der EU derart umworben, dass sie es gar nicht nötig haben, selbst auf die Suche nach einem Job zu gehen. 

Es gibt also viel zu tun. Und gerade eine Ampel-Koalition sollte das Thema der Zuwanderung von Hochqualifizierten nicht mit spitzen Fingern anfassen. 

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