#Das andere Kap

Ohne Headline

von , 5.11.14

Wenn wir heute von den Enthauptungen vor laufender Kamera durch Dschihadisten des IS angewidert sind, dann stellen wir uns unwillkürlich die Frage, wie Menschen zu derartigen Taten überhaupt fähig sein können. Wir neigen meist dazu, das Motiv darin zu suchen, dass ein solcher Ausdruck der Verrohung dazu dienen würde, ein größtmögliches Ausmaß an Abschreckung zu erzeugen. Die Enthauptung vor laufender Kamera soll uns aus diesem Verständnis heraus zeigen, wozu entschlossene Kämpfer in der Lage sind.

Angesichts dessen, was durch den damaligen US-Präsidenten Georg W. Bush im Kampf gegen den Terrorismus bis heute ausgelöst wurde, könnte diesen Bildern auf der symbolischen Ebene allerdings noch eine weitere Interpretation zukommen, die bereits 1992 in dem Essay „Das andere Kap“ von Jacques Derrida vorweggenommen wurde.

Zu dieser Zeit kämpften die USA unter George Bush senior im ersten Golfkrieg und befreiten gemeinsam mit einer Allianz aus europäischen und arabischen Verbündeten Kuwait von der Besetzung durch den Irak. Die USA begnügten sich mit diesem militärischen Schlag und sahen damals ihr Mandat nicht in der Einnahme von Bagdad bzw. in der Entmachtung von Saddam Hussein.

Derrida, der Europa genau zu dieser Zeit mit einem Kap, mit einem Fortsatz des asiatischen Kontinents verglich und daraus kulturell auch einen kapitalen Diskurs ableitete, verwies darauf, dass der Golf gleichzeitig das Kehrbild eines Kaps oder das „andere des Kaps“ verkörpere. Fast zeitgleich verkündete Francis Fukuyama, ein Berater des Weißen Hauses, unter großer medialer Resonanz das „Ende der Geschichte“, das für Derrida darauf zurückgeht, dass das vom Ursprung her „wesentlich europäische Modell der Marktwirtschaft und der liberalen, parlamentarischen und kapitalistischen Demokratien im Begriff ist, sich in ein allgemein anerkanntes Modell zu verwandeln“. Derrida zufolge würden sich alle Nationalstaaten der Erde bemühen, in die nächste Nähe des Kaps zu gelangen und ebenfalls an der Spitze zu stehen.

Verflachung und Provinzialisierung des Krieges

Rund zehn Jahre später sprach der Sohn des damaligen US-Präsidenten angesichts der schmerzlichen Erfahrungen von 9/11 nun von einem Krieg gegen den internationalen Terrorismus. Eine der ersten Lektionen aus dieser neuen Dimension des Krieges war wohl jene, dass es nicht damit getan ist, die Zentren von Staaten wie Afghanistan oder dem Irak einzunehmen. Denn durch die Machtübernahme in Kabul und Bagdad konnten die Sicherheitsinteressen der USA nicht wirklich gewahrt werden. Insofern galt es, einen Krieg zu führen, der sowohl zeitlich als auch territorial völlig unbegrenzt ist. Um ihre Interessen zu verteidigen, behielten sich die USA als letzte verbliebene Großmacht das Recht vor, jederzeit und überall intervenieren zu dürfen. Der Krieg wurde so weit „verflacht“ und provinzialisiert, dass er im hinterletzten Tal, in den abgelegendsten Winkeln dieser Welt stattfinden konnte. Zudem gelingt es dank modernster Technologie wie Drohen und anderen Lenkwaffen, dass dieser Krieg zunehmend zentral von einem Headquarter aus gesteuert werden kann und so gut wie keine Bodentruppen mehr notwendig sind.

Wenn sich heute ein neuer „Schurkenstaat“ wie das IS-Kalifat etabliert, dann darf es daher nicht wundern, dass er so weit wie möglich auf zentralistische Strukturen verzichtet, sich die Macht über das eroberte Territorium zerstreut, in lokalen Allianzen aufteilt, in Netzwerken verflüchtigt und sich nicht in gewohnter Weise in einer Kapitale repräsentiert. Das Fehlen des Zentrums verweist darüber hinaus auch darauf, dass es im Welt-Krieg gegen den Terrorismus auch keine lokalen oder regionalen Kriege mehr geben kann, sondern die Konflikte stets Teil eines immer schwerer zu durchschauenden Gewebes von Verflechtungen internationaler Interessen sind.

Die eigentliche „Leistung“ der selbsternannten Gotteskrieger besteht genau genommen darin, trotz des Krieges gegen den internationalen Terrorismus bzw. trotz einer zentral verorteten technologischen Übermacht über ein beachtliches Territorium zu verfügen. Darin liegt auch ein Teil der Faszination, den der IS auf seine Rekruten ausübt.

Das Köpfen vor laufender Kamera wäre insofern auch eine Kriegserklärung an das Zentrum. In den Anmerkungen zu seinem Essay über das andere Kap knüpft Derrida einmal mehr an den Autor und Philosophen Paul Valèry an, der in Œuvres II beschreibt, was er als kapitales Ereignis sieht: „Das Auge, der Taktsinn und die Handlungen treten in eine solche Wechselwirkung, daß (!) sie eine Tabelle mit mehreren Eintragungen schaffen, bei der es sich um die sinnliche Welt handelt; nun kann es geschehen – ein kapitales Ereignis! –, daß (!) ein bestimmtes Korrespondenzsystem notwendig und ausreichend ist, um alle Farbeindrücke mit allen sinnlichen Empfindungen der Haut und der Muskulatur abzustimmen.“

Nichts repräsentiert so sehr die Logik der militärischen Doktrin des Westens wie der Kopf

Dieses Ereignis, das von Derrida auch als das Ereignis des Kapitalen selbst oder als Kopf bezeichnet wird, lässt sich heute auch auf den Kampf gegen den Terrorismus übertragen, der auf Überwachung, den Abgleich von Informationen, das Überprüfen von Mustern und das Auslösen militärischer Interventionen geprägt ist. Nichts repräsentiert so sehr die Logik der militärischen Doktrin des Westens wie der Kopf. Der Sinn des Körpers verdichtet sich in der Nähe zum Kap, zum Haupt. Dort setzen die IS-Kämpfer medienwirksam an. Und nicht, weil sie einfach ungebildet und unkultiviert wären, sondern, gerade weil sie auch Kenntnis einer Kultur haben, deren Kapital in der Akkumulation von Informationen, in der Schaffung eines Gedächtnisses besteht. Deshalb gilt es den Akt des Köpfens nicht bloß zu vollziehen, sondern ihn auch aufzuzeichnen. Damit antizipieren (antecapere) die Täter auch die Logik und das Wissen ihres Gegners, und sie versuchen darüber hinaus sich selbst zu schützen, indem sie ihren Kopf möglichst unkenntlich für die technischen Verfahren der Bilderkennung machen.

Die Geste des Köpfens vor laufender Kamera zielt demnach nicht nur darauf ab, Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie richtet sich gegen eine Form zentralistischer Überwachung und nährt damit auch jenen Mythos, dass es tatsächlich noch „Reservate“ gäbe, in denen es möglich wäre, sich gegen den „bösen Blick“ des Westens zu schützen. So als gäbe es entsprechend dieser romantischen Vorstellung tatsächlich noch ein Jenseits des Medialen und dessen Omnipräsenz. Der Krieg gegen den internationalen Terrorismus hat in vielen westlichen Ländern auch die eigene Bevölkerung zu Opfern gemacht, die eine Einschränkung demokratischer Grundrechte hinnehmen müssen bzw. in Abwägung mit der versprochenen Sicherheit hingenommen haben. Umgekehrt findet heute jenes Phänomen statt, das man als Demokratisierung des Krieges bezeichnen kann, wenn das Töten in Syrien und im Irak zunehmend nicht bloß staatlich besoldeten Truppen, sondern auch fundamentalistischen Gruppierungen, frustrierten Jugendlichen und Motorradgangs etc. überlassen wird.

 

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