#Digitalisierung

Missverständnisse 4.0

von , 14.4.15

Stellen wir uns einmal vor, wir lebten an einer Küste und ein Tsunami wäre angekündigt. Wir haben genügend Zeit, uns vorzubereiten, vielleicht sogar ein paar Jahre. In unserer Siedlung können wir nun beobachten, wie sich alle optimistisch geben. Der eine jedenfalls sagt, er wolle die zusätzliche Wassermenge nutzen, um seinen Pool zu füllen und sein Auto mal richtig zu waschen. Der andere will die Pflanzen seines Gartens versorgen. So hat jeder seine Prioritäten und freut sich darauf, alles wie immer zu machen, nur eben ein bisschen besser und intensiver. Naiv und kurzsichtig? Optimistisch? Oder voller Vertrauen und Zuversicht in die eigene Stärke? Womöglich eine Mischung aus alledem, in jedem Fall sollten sie sich über die Dimension des Begriffs „Tsunami“ klar werden.

Der Tsunami, der Wirtschaft und Gesellschaft gerade durcheinander wirbelt, ist die Digitalisierung und Globalisierung aller Arbeits- und Lebensbereiche. Die deutsche Industrie hat sich für ihre Rolle in diesem Epos den Markennamen „Industrie 4.0“ auserkoren, er bezieht sich auf historische Phasen der Industrialisierung und wird seit einigen Jahren von Politik, Forschung und Wirtschaft hyperventiliert.

Laut dem „Deutschen Industrie 4.0 Index“, in Auftrag gegeben von der Unternehmensberatung Staufen, wollen Unternehmen zukünftig Entwicklungszeiten verkürzen, die Produktion verschlanken oder ihre Entwicklungsabteilung aufpeppen.

Zwar haben sich 34 Prozent aller befragten Unternehmen noch gar nicht mit dem Thema beschäftigt oder sehen sich eher in einer „Beobachterrolle“ (39 Prozent), beanspruchen aber dennoch die globale Führung beim Thema Digitalisierung für sich. Thomas Rohrbach, Business Unit Leiter der Unternehmensberatung, formuliert es zur Veröffentlichung der Studienergebnisse freundlich: Bisher haben nur wenige „Pionierunternehmen“ ihr „Zutrauen in die eigene Stärke schon in operative Projekte umgesetzt“.

Dominic Schwickert und Nils Heisterhagen haben an dieser Stelle bereits das Spannungsfeld zwischen technischer Neuerung und damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen beleuchtet (Die Wende zur Industrie 4.0 – sechs Vorschläge für ihr Gelingen). Dass die Digitalisierung in der Praxis vieler Unternehmen eher zögerlich angepackt wird, kann mit mehreren Missverständnissen zusammenhängen, die ständige Begleiter des Begriffs „Industrie 4.0“ sind.

Missverständnis Nummer eins: Digitalisierung ist ein Werkzeug, das wir anwenden können.

Das stimmt zwar, greift aber viel zu kurz. Als das Auto erfunden wurde, werden sich die klugen Köpfe unter den Bossen gesagt haben: „Super, wir schaffen unsere Kutschen ab und liefern in Zukunft mit Lastkraftwagen aus.“ Den Visionären unter den Unternehmern aber wurde schnell klar, dass sie bald alles, jeden Arbeitsbereich auf das System Straße ausrichten müssen. Lieferanten brauchen Anfahrtsrampen, bald würden auch Kunden und Mitarbeiter mit Autos kommen, sie benötigen Parkplätze. Das Einzugsgebiet wird sich erweitern. Automobil, Straßensysteme, Raffinerien und Tankstellen verändern die Welt. Visionäre fragen sich also, welche Rolle sie, ihr Unternehmen und ihre Angebotspalette in der Welt von morgen spielen können und wollen. Einen LKW anzuschaffen ist richtig, reicht aber nicht.

Die Digitalisierung vereinfacht nicht nur unsere Produktion, sie verändert das Zusammenleben aller Menschen, unsere Kommunikation, unsere Interaktion, unsere Wertvorstellungen und den Umgang mit unserer Umwelt. Wie werden wir in Zukunft arbeiten? In globalen Teams, zusammengestellt aus Menschen, die sich nicht kennen? Welche Rolle spielen feste Arbeitsverhältnisse, wo lösen sich Arbeits- und Lebensmodelle auf und wie formieren sie sich neu? Wo bewirkt der Trend der Globalisierung den Gegentrend der Regionalisierung – und was heißt das für mich, für meine Mitarbeiter und meine Kunden? Entwicklung ist niemals linear und nur eingeschränkt berechenbar. Sie lässt sich aber nutzen, wenn wir sie erkennen und uns auf das einstellen, was wir bereits wissen und ahnen. Unsere Intuition ist destillierte Erfahrung, sie wird uns helfen beim Umgang mit der Zukunft.

Missverständnis Nummer zwei: Wir haben alles unter Kontrolle.

Natürlich kann ein Fußballer den Spielverlauf bestimmen, aber seine 21 Mit- und Gegenspieler sowie vier Schiedsrichter tun das eben auch. Das Spielfeld „Leben und Arbeiten“ ist voller Akteure, je umfassender wir sie als Einflussfaktoren wahr- und ernst nehmen, desto besser sind wir auf die Zukunft vorbereitet. Und eines sollten wir nie vergessen, es ist nicht „unsere“ Zukunft, wir besitzen sie nicht. Sie besitzt morgen uns, wir gestalten sie heute, und wir alle werden in ihr leben müssen.

Digitalisierung, oder eben Industrie 4.0, nur als Verschlankung oder Effektivierung von Prozessen zu betrachten, lässt wichtige Akteure außer Acht. Sie zu vernachlässigen ist nicht unfair, sondern dumm, denn sie werden sich melden. Kunden bleiben weg und wenden sich ab, wenn wir nicht die richtigen Produkte über die richtige Ansprache auf dem richtigen Weg ausliefern. Das gleiche gilt für Lieferanten und Mitarbeiter. Aber was ist morgen „richtig“? Unternehmen müssen die „Wir-sagen-Euch-wo’s-langgeht-Haltung im Verhältnis zu Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern in einen Dialog und im nächsten Schritt in eine Zusammenarbeit umwandeln. Das setzt einen Kulturwandel im Unternehmen voraus, denn bisher wurden Produkte ausschließlich in der Entwicklungsabteilung ersonnen. Facebook macht es vor: Wir denken, wir seien Kunden, dabei sind wir das Produkt. Nun baut Facebook keine Autos, aber lernen können wir immer über Branchen hinweg.

Eine Analogie: Wir könnten jederzeit die Fähigkeit unserer Leber und Nieren, das Blut zu reinigen, medikamentös unterstützen. Warum tun wir es dann nicht einfach? Weil wir wissen, dass Leber und Nieren neben der Blutreinigung zahlreiche andere Funktionen haben, die wir damit eben auch beeinflussen würden. Und das Medikament wirkt sich, da es durchs Blut transportiert wird, auch auf alle anderen Organe aus. Den erwünschten Effekt nennen wir Wirkung, alles andere Nebenwirkung. Völlig zu recht also gehen wir mit der Komplexität unseres Körpers umsichtig um. Ebenso wenig wie unsere Physiologie ist auch die global vernetzte Industrie keine Was-passiert-dann-Maschine, die den Kindern in der Sesamstraße so anschaulich das lineare Ursache-Wirkung-Prinzip erklärte (und Ernie zum Helden unserer Kindheit werden ließ). Digitalisierung und Globalisierung sind zwei Begriffe für einen komplexen Vorgang, der keinen Menschen und keinen Lebensbereich unbeeinflusst lässt. Wirkungen und „Nebenwirkungen“ der Digitalisierung verlaufen nicht linear, sondern sind in komplexen Szenarien erfassbar:

  • Was passiert mit unseren Daten, wenn jedes Auto mitdenkt und jeder Fernseher seinen Schöpfer über das informiert, was im Wohnzimmer geredet wird?
  • Wie schützen wir Unternehmens- und Lebensbereiche vor unberechtigtem Zugriff, vor Datenmanipulation, Diebstahl und Hackerangriffen?
  • Wie geht Industrie 4.0 mit dem wachsenden Anspruch von Kunden bei Transparenz, Mitbestimmung und Nachhaltigkeit um?
  • Wie trennen wir Arbeit von Freizeit, wenn der Zugriff auf den digitalen Arbeitsplatz jederzeit möglich ist?
  • Wie entlohnen wir Vorgänge, die sich nicht mehr in Stunden und Minuten abgrenzen lassen?
  • Welchen Einfluss haben 3-D-Drucker und andere individuelle Fertigungsverfahren auf Konsummuster und Geschäftsmodelle? Wollen Kunden zukünftig Lizenzen zum Selberdrucken erwerben? Oder Dinge mieten und teilen?
  • Und wo auf der Welt wird morgen produziert, wo entwickelt und entschieden? Und wo wird entsorgt, was nicht mehr benötigt wird?

All das und noch viel mehr können und müssen wir bedenken, wenn wir über Industrie 4.0 reden.

Missverständnis Nummer drei: Wir brauchen schnellere Pferde.

Fast alle kennen das Zitat von Henry Ford, dem Erfinder der Fliessbandproduktion: „Hätte ich meine Kunden gefragt, was sie haben wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“ Das ist der menschliche Umgang mit Zukunft, wir denken unsere Gegenwart linear ein paar Schritte weiter und stellen uns vor, wie wir bald die gleichen Autos fahren wie immer, nur eben umweltfreundlicher. Dass sich stattdessen ganz neue Formen von gemeinsamer und individueller Mobilität entwickeln werden, ist schwer vorstellbar – aber sicher.

Statt also Pferde schneller und Kutschen kostengünstiger zu machen, schenkte Ford ab 1908 mit seinem „Model T“ (auch liebevoll Tin Lizzy/ Blechliesel genannt) den Menschen 15 Millionen Autos und die Fließbandproduktion. Er löste Probleme und schuf dadurch neue. Sein unbestrittener Verdienst aber bestand darin, erkannt zu haben, dass wir nicht ewig das Alte besser machen können, sondern manchmal einfach die Dinge völlig neu denken und anpacken müssen.

Fazit: Schlanke Produktion ist wichtig, aber in Prozessoptimierung sind wir ohnehin seit Jahrzehnten Weltmeister. Die Digitalisierung bringt ganz andere Umwälzungen mit sich, ob wir sie nun begrüßen, oder nicht.

Die Küstenbewohner sollten sich jedenfalls im ersten Schritt zusammenschließen, um zu schauen, wie sie sich gemeinsam auf den Tsunami vorbereiten können. An Mut und Optimismus mangelt es nicht einmal; und das anstehende Ereignis für eigene Zwecke sowie zum Wohle aller nutzen zu wollen, ist die richtige Intention. Es gilt nun, gemeinsame Strategien zu entwerfen, Risiken zu minimieren und strategische Partner für zukünftige Projekte zu finden. Experten können uns helfen, Lehren aus ähnlichen Vorgängen der Vergangenheit zu ziehen. Neuorganisation der Landwirtschaft, Industrialisierung und Automobilisierung sind Beispiele dafür, wie Engpässe und Probleme gelöst und neue geschaffen wurden. Auch damals blieb gesellschaftlich kein Stein auf dem anderen, daraus können wir lernen.

Nur an effizientere Produktion oder engere Entwicklungszyklen zu denken, greift zu kurz. Auf keinen Fall sollte die Wucht der eintretenden Veränderungen unterschätzt werden, das Leben nach der vierten Industrialisierung wird nicht dasselbe sein.

 


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