von Robin Meyer-Lucht, 18.5.09
Das amerikanische Townhall-Format wurde erfunden, um der Politik etwas von ihrer Abgehobenheit und Berechenbarkeit zu nehmen. Die Townhall soll einen sehr konkreten Parcours von unberechenbaren, fordernden und realitätsnahen Momenten bieten. Rodeo für die politische Rhetorik, sozusagen.
Die RTL-Sendung “2009 Wir wählen: Zuschauer fragen – Bundeskanzlerin Merkel antwortet” vom Sonntagabend bot von all dem nichts. Sie taugte nicht einmal als Wahlkampfauftakt, sondern verkam zur zahmen Bürgersprechstunde mit Angela Merkel.
Die Sendung bestand im Kern aus nichts anderem als der Verlängerung der Anne-Will-Betroffenheitscouch auf ein einstündiges Format. Politik wurde auf die Probleme und Ansichten von Betroffenen heruntergebrochen, die sich mit authentischer Geste an die Kanzlerin wenden durften.
Der Betroffenheitsansatz banalisierte die politischen Probleme ganz erheblich: Die Fragenden trugen ihr Problem als Einzelfall vor. Dabei gerieten nicht nur die größeren politischen Linien völlig aus dem Blickfeld. Merkel konnte sich den Fragen auch nach Belieben entwinden, indem sie den weiten Raum zwischen Einzelfall und politischer Gemengelage bespielte. Kritische Nachfragen durch die Moderatoren zur Unterstützung der überforderten Laien-Befrager gab es nahezu nicht.
Die Sendung war ein Armutszeugnis des politischen Journalismus. Statt Merkel mehr zu fordern, geriet das Townhall-Format nach RTL-Prägung zur Kuschelshow. Man konnte sich des Eindrucks nicht verwehren, dass hier vor allem eine Kanzlerin als kompetente Einzelfallberaterin der Nation dargestellt werden sollte. Die Sendung wirkte über weite Strecken wie eine “Rechtsberatung mit der Kanzlerin” (Moderator Kloeppel) — so sehr ging die Kanzlerin auf die Fragen von Arbeitslosen oder Lehman-Geschädigten ein — und so wenig redete sie über ihre politischen Visionen.
Die Kanzlerin wirkte bestens vorbereitet — eigentlich zu gut. Sie kannte offenbar vorher alle Themen und sogar die Profile der fragenden Zuschauer. So antwortete Merkel der Religionslehrerin Lamya Kaddor mit Verweis auf ihren Arbeitsort Nordrhein-Westfalen, ohne dass dies vorher in der Sendung genannt worden war (so habe ich es zumindest in Erinnerung, etwas zu kurzer Ausschnitt hier).
Die Sendung wurde zudem geschnitten und unvollständig gesendet: In seinem Artikel für DerWesten erwähnt Dirk Hautkapp in seiner Beschreibung der Aufzeichnung, dass ein Zuschauer eine Frage nach Peer Steinbrücks Zukunft als Minister einer schwarz-gelben Koalition gestellt habe. Die Frage fehlte in der endgültigen Fassung der Sendung. Auch an der einen oder anderen Stelle fielen Schnitte auf.
RTLs Versuch einer Rückkehr auf die politische Bühne mit einem talkähnlichen Format scheiterte hier grandios.
Merkel hingegen nahm die Chancen des Kuschelformats souverän wahr. Sie blieb stets unaufgeregt und gelassen. Bei der Beantwortung der Einzelfälle fand sie einen wohltaxierten Weg zwischen Verständnis, Erklärmodus und Verweis auf von ihr getroffene Maßnahmen.
Neben der Schwäche von RTL zur kritischen Zuspitzung zeigte die Sendung vor allem auch, dass Angela Merkel in ihrer Kanzlerschaft eher noch gewachsen ist. Sie hat ihre Kunst der schnellen Anpassung weiter perfektioniert. Ihr Hauptproblem der “geringen visionären Begabung” (Merkel-Biograf Langguth) kann sie an diesem Abend grandios überspielen.
Die RTL-Sendung geriet letztlich auch zur beeindruckenden Demonstration der technologischen Kapazität von Twitter. Während der Sendung konnte man simultan und im Sekundentakt sehr kurzweilige und kompetente Kommentare zum Merkelauftritt mitverfolgen. Die Grünen-Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke twitterte fast minütlich und wunderte sich, dass die Kollegen von der SPD gar nicht dabei waren (was noch an geringfügigen Tashtag-Verwirrungen gelegen haben muss, siehe Text von Christoph Bieber).
Das Gezwitscher gab so dem lauen, wohl kontrollierten Theater wenigstens ein paar Dimensionen mehr.