#US-Demokratie

Lost in Transition #2: »Better Call Saul« und die »Georgia Situation«

Je näher das Ende seiner Amtszeit rückte, desto aggressiver, schamloser agierte Trump.

von and , 20.1.21

Zum heutigen Ende seiner Amtszeit seiner Amtszeit lobte sich Ex-Präsident Trump nicht nur nochmals ausgiebig selbst, in den Tagen und Wochen zuvor stellte er auch unter Beweis, wie gefährlich und unprofessionell zugleich er bis zur letzten Minute war.

Man muss vielleicht daran erinnern: Am 3. Januar veröffentlichte die Washington Post den Mittschnitt eines längeren Telefonats, das Präsident Trump mit dem für die Wahlaufsicht zuständigen Innenminister Georgias führte, Brad Raffensperger. Trump drängt in dem Gespräch unter anderem darauf, man möge doch 11.780 Stimmen »finden« – exakt die Anzahl also, mit denen er den Staat doch noch für sich entscheiden würde. Das könne (»fellas!«) so schwierig doch nicht sein. Knapp zwei Monate nach der Präsidentschaftswahl kulminierte die Stop-The-Steal-Kampagne des Trump-Lagers mit einer bunten Collage aus Verdächtigungen und Drohungen in einem offenen Betrugsversuch. Und wenngleich man in den USA schon längst einiges gewohnt war, stellte der Anruf doch einen neuen Tiefpunkt dar. »Breaking Dad« titelte Der Spiegel und knüpfte an die Rationale der Erfolgsserie Breaking Bad an. Dort gerät der Protagonist – es ist nicht zu glauben – immer übler in eine Kriminalitätsspirale ganz eigener Art. Doch während der Serien-Charakter Walter White seinen Seelen-Verfall offen mitteilte (»I am the danger!«), gefiel sich Donald Trump bis zum Ende in der Rolle des (falschen) Hüters der Demokratie. Dennoch ist das Bild gut gewählt: Entgegen jeder Evidenz agierte Trump immer aggressiver, schamloser, je näher das Ende seiner Amtszeit rückte.

Einigermaßen folgerichtig hatte die Analogie eine erstaunlich kurze Halbwertzeit – jedenfalls hinsichtlich des Telefonats. Das Breaking-Bad-Prinzip bewährte sich, denn schlimmer geht immer: Zwei Tage später und nur einen Tag, nachdem nun auch die Nachwahlen zum Senat in Georgia für die Republikaner verloren gingen, hielt Trump am 6. Januar in Washington die vielleicht denkwürdigste Rede in einer mit denkwürdigen Reden gewiss nicht armen Präsidentschaft. Über Twitter – da durfte er noch – als »wild« angekündigt, entpuppte sich die Veranstaltung als Get Together eines aufrührerischen Mobs, den Trump mit Sätzen wie »You have to show strength!«, »You are allowed to go by very different rules« und »If you don’t fight like hell, you’re not going to have a country anymore« (vgl. die Darstellung der New York Times) dazu anheizte, das Kapitol zu stürmen. Was als die Präsidentschaft alternativer Fakten und mit der Rede vom american carnage – einem amerikanischen Blutbad – begann, endete mit einer tödlichen Dosis anti-demokratischer Hetze. Es folgte das historische zweite Impeachment-Verfahren gegen Trump – das mehr ist, als nur ein symbolischer Akt, den Präsidenten zur Verantwortung zu ziehen.

Diese Dramaturgie lässt sich – wie so vieles in der Trump-Präsidentschaft – gut mit den Mitteln der Film- und Fernsehforschung beschreiben. So kennt etwa das klassische Hollywoodkino neben dem narrative closure als erzählerischem Schluss noch ein zusätzliches Ende, das ending. Die Hauptfunktion des ending ist der Versuch, den Zuschauer vergessen zu lassen, dass zahlreiche Handlungsstränge der Episode nicht vollständig aufgelöst wurden. Genau diese beiden Stilelemente kennzeichnen nun das Finale der vierjährigen Amtszeit: Die Ereignisse des 6. Januar markieren das faktische Ende der Präsidentschaft, denn seitdem ist @realDonaldTrump (zwangsweise) verstummt, langjährige Haus- und Hofberichterstatter wie FoxNews wenden sich von ihm ab, und auch der Briefing Room im Weißen Haus bleibt irritierend leer. Dem zuvor so mitteilungsbedürftigen Präsidenten scheint viel an einem stillen Auslaufen seiner Amtszeit gelegen – das soll den Bürgerinnen einen Blick auf die vielen offenen Fragen und noch immer ungelösten Probleme erschweren. Doch genau dagegen wendet sich das neuerliche Impeachment: Die demokratische Partei (diesmal unterstützt von einigen Republikanerinnen) wird den allzu leisen Abgang verhindern und zieht Trump mit dem zweiten Amtsenthebungsverfahren zurück auf die Vorderbühne der US-Politik. Doch bevor man ihn neuerlich in den Angeklagtenstand erhob, hatten sich zwei andere demokratische Institutionen dem Übernahmeversuch von Trump entgegengestellt: die Gerichte des Landes und die Wählerinnen und Wähler Georgias.

MyElection

Trumps Attacke auf die demokratische (Ab-)Wahl begann schon während des Wahlkampfs, in dem er ständig ankündigte, die Demokraten könnten die Präsidentschaft nur durch Betrug gewinnen. Gegen diesen Biden könne er unmöglich verlieren. Was anfangs vielleicht noch als rhetorische Überheblichkeit firmierte, las sich in den Wochen nach der Wahl zusehends als coup d’etat oder als autogolpe: ein in Südamerika verbreiteter Begriff für den Staatsstreich eines ursprünglich demokratisch gewählten Politikers, der nach einer späteren Wahlniederlage mit illegalen und autoritären Mitteln versucht, an der Macht zu bleiben.

Wenn es nicht so ernst und fatal wäre, man könnte die Versuche des Noch-Präsidenten und seines Lagers, die verlorene Wahl nachträglich umzudrehen, als unterhaltsame Miniserie verfilmen (man darf gespannt sein, wer sich dieser nicht allein populärkulturell wichtigen Aufgabe schließlich annehmen wird). Das beginnt bei dem schlichten Versuch, gegen alle Auszählungen einfach anzubehaupten, man habe gewonnen. Und es bleibt auch nicht bei einem gesichtswahrendem Narrativ, Trump verarbeite mit seinen Eingebungen (»we won by a landslide«) so etwas wie einen Wahl-Schock. Als läge eine vorübergehende Autoimmunreaktion gegen Stimmergebnisse vor. Was der Präsident und seine Umgebung in den Wochen nach dem 3. November unternahm, war in einem technischen Sinn wohl nur deshalb nicht der Versuch eines formidablen Staatsstreichs, weil das Militär außen vor gelassen wurde. Und selbst das war nicht klar: Als gerüchteweise aufkam, man plane frei nach Bertolt Brecht, sich in Form eines neuerlichen Wahlgangs einfach ein neues Volk zu wählen, sollte das Militär dieses Wahl-Sequel sichern. Jedenfalls gaben alle noch lebenden ehemaligen Verteidigungsminister der USA vorsorglich eine gemeinsame Erklärung heraus, man möge die Truppe aus der kapitalen Kabale heraus halten.

Trumps Anruf bei Raffensperger war nicht das einzige »informelle« Telefonat. Bekannt ist, dass er die republikanischen Gouverneure von Georgia und Arizona gleich mehrfach »ansprach«; die parlamentarischen Führer der republikanischen Partei in Michigan wurden zu einem beeindruckenden Besuch ins Weiße Haus eingeladen. Und auch den republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses in Pennsylvania ließ er sich mehrfach auf die Leitung legen. Es half alles nichts – auch eigene Parteigänger in zentralen Positionen ließen sich mangels Beweisen nicht zu, nun ja, unüberlegten Handlungen hinreißen. Die Wahlleiter der Staaten, sein eigener Justizminister: kein Erfolg. Die schöne Volte Trumps, man bedrohe die Demokratie nicht, sondern beschütze sie nachgerade (vielleicht sollte man den Notstand ausrufen?), war nicht jedem ersichtlich. Und so musste dann Mike Pence, immerhin Vizepräsident, als Letzter eine Attacke überstehen, weil er tatsächlich den formellen Weg der Bestätigung der Ergebnisse im Kongress nicht sabotieren wollte. »The ›Surrender Caucus‹ within the Republican Party will go down in infamy as weak and ineffective ›guardians‹ of our Nation, who were willing to accept the certification of fraudulent presidential numbers!« – so formulierte es ein Tweet des Präsidenten zwei Tage vor dem kapitolen Ereignis des 6. Januars. Da wärmte er sich gerade auf.

A nonzero number, oder: Rudy Giuliani ist nicht Saul Goodman

Die Vorwürfe der Trump-Kampagne zum Wahlbetrug konzentrierten sich auf sechs Swing-States: Michigan, Georgia, Wisconsin, Pennsylvania, Arizona und Nevada. Am Ende beschäftigten sich der Supreme Court und nicht weniger als 96 Richterinnen aus Bundesgerichten und diversen State Courts mit sehr unterschiedlichen Vorwürfen zur Administration der Auszählung selbst, zu Wahlmaschinen und mehr. Es gab also nicht den einen zentralen Klagepunkt, sondern eigentlich so ziemlich jeden denkbaren – mit einer Gießkannenstrategie sollte die Wahl gedreht werden. Das Unternehmen scheiterte vollumfänglich mit der unrühmlichen Bilanz von 1 zu 96: einzig in einem völlig marginalen, allein verwaltungstechnischen Fall (es ging um eine Frist, in der Wählerinnen in Pennsylvania Fehler korrigieren konnten) war Team Trump erfolgreich. Alle Vorwürfe zu Stimmfälschungen oder Manipulationen wurden zurückgewiesen; es gab schlicht keine Belege und keinerlei vernünftigen Hinweis. Um ein weiteres Mal die Verbindung zum US-amerikanischen Serien-Universum zu bemühen: Mag Donald Trump selbst auch in einer Liga mit dem Breaking Bad-Bösewicht Walter White spielen, sein Anwaltsteam unter der Leitung von Rudy Giuliani hätte besser mal bei Saul Goodman angerufen, dem eigenwillig-genialen Serien-Rechtsbeistand aus Albuquerque. Vielleicht wären dann einige Richtersprüche im Sinne der Anklage ausgefallen.

Den Beginn machten Versuche, die Auszählungen selbst zu stoppen – und damit den offenkundigen, live in den Kabelnachrichten beobachtbaren und entscheidenden Trend zugunsten Bidens. Ein erster Ansatz war, vornehmlich in Pennsylvania, Wahlbriefe nicht zuzulassen, die drei Tage nach der Wahl eintrafen (aber den »richtigen« Poststempel aufwiesen). Man wollte also im Nachhinein eine Regel ändern – was sofort von den Gerichten abgewiesen wurde. Die Klage sei, so das Urteil, schon sehr bemerkenswert, extraordinary. Eine weitere frühe Strategie zielte ab auf die in den USA üblichen Wahlbeobachter der Parteien, die in den Hallen die Auszählung verfolgten. Hier wurden Abstände mokiert, versperrte Sicht oder dass (regelfremd) nicht jeder, der wolle, Zutritt erhielte. In Philadelphia versuchte man, die Zählung mit der Behauptung zu verhindern, es wären keine republikanischen Beobachter zugelassen worden. Auf die Nachfrage, wieviele Personen denn gerade tatsächlich im Raum sein, verbog sich der Anwalt Trumps zu der Antwort: »There’s a nonzero number of people in the room.« Es folgte ein trendsetzender Seufzer von Judge Paul Diamond. Es seien also Repräsentanten der Kläger vor Ort und beobachteten. Das sei so. »I’m sorry«, so der Richter dann: »What’s your problem?«

Trendsetzend zum einen, weil die Anwälte nun dazu übergingen, den Dienst zu quittieren; in den Medien und auf den sozialen Plattformen zu behaupten, was einem gerade in den Sinn kommt, ist möglich bis üblich; dasselbe in einem amerikanischen Gerichtssaal zu tun, eher schwierig bis strafbewährt. Zum anderen ließen die Richter angesichts der bunten Collage an unbelegten Vorwürfen nun durchscheinen, was sie von den Behauptungen hielten.

Nicht fehlen konnte zum Beispiel (und warum auch) das amerikanische Sujet der Toten, die zur Wahl gehen. So hatte die Trump-Kampagne längere Zeit einen gewissen James Blalock als Beleg angeführt: der sei 2006 verstorben und habe auf wundersame Weise in Georgia abgestimmt. Blalock ist tatsächlich schon lange verschieden, und er hat auch nicht gewählt; das tat seine Witwe, die sich unter seinem (und nicht ihrem eigenen) Namen in die Wahlliste eingetragen ließ – in einem sicher nostalgischen, aber vollkommen legalen Verfahren. »I’m denying the request and dismissing the petition«, so die knappe Urteilsfindung. Die Beispiele ließen sich stapeln. Namensverwechselungen oder -Doppelungen einmal ganz außen vor gelassen.

In Nevada gaben Trumps Anwälte eine Pressekonferenz und behauptete einen in die Tausende gehen Betrug: Lasterweise seien da Stimmzettel in den Staat gekarrt worden – wie sich herausstellte, vor allem vollkommen legale Stimmen des Militärpersonals. Von den riesigen Zahlen, die da kolportiert wurden, blieb am Ende exakt ein einziger problematischer Fall. In Arizona sollen in Trump-affinen Wahlkreisen zu spitze Bleistifte eingesetzt worden seien, so dass dort Wahlzettel von den Automaten systematisch ungültig erklärt worden. Davon allerdings ließ sich kein court überzeugen. In Pennsylvania musste sich die Trump-Anwaltschaft von der Richterbank sagen lassen, dass das, was in der Öffentlichkeit behauptet werden kann, Gerüchte zum Beispiel, in einem ernsthaften Verfahren keinen Platz hätten. »Charges require specific allegations and then proof. We have neither here.« In Pennsylvania verglich das Gericht die von Rudy Giuliani vorgetragenen Klagen mit dem »Frankenstein Monster« – eine zusammengestrickte, vollkommen künstliche Figur. »This Court has been presented with strained legal arguments without merit and speculative accusations, unpled in the operative complaint and unsupported by evidence. (…) Our people, laws, and institutions demand more.«

Der Vollständigkeit halber müssten einige weitere Vorwürfe genannt werden. Natürlich noch die Supreme Court-Klage des Staates Texas, der dazu aufforderte, die Stimmen von gleich vier Swing-States für ungültig zu erklären. Diese Klage ohne jede Aussicht wurde erst gar nicht zur Anhörung zugelassen. Oder zum Dominion Voting System, von dem Trump behauptetet, ohne dazu irgendetwas vorlegen zu können, es habe systematisch Stimmen für Trump in Stimmen für Biden verwandelt. Gleich am selben Tag schon widersprach ihm diesbezüglich das Department of Homeland Security: »The November 3rd election was the most secure in American history.« Die Dominion-Theorie wurde dennoch wiederholt verschiedenen Gerichten vorgelegt – und stets zurückgewiesen. Andere Fehlschläge des Trump-Lagers betrafen Formfehler (Eingaben bei Gerichten, die es gar nicht gab; Fehlinterpretationen und mehr) oder Vorlagen, die keine Klagegründe beinhalteten: In Michigan legte man den dicksten Stapel auf den Richtertisch (was sich kameratechnisch eindrucksvoll umsetzen ließ): mehr als 230 Erklärungen an Eides statt: »Shocking allegations« – so die Trump-Kampagne auf Twitter. Freilich enthielt praktisch keine dieser Erklärungen einen tatsächlich klagefähigen Vorwurf; zu laut sei es gewesen, unfreundlich sei es zugegangen, durch Blicke und Worte. Und man sei sich sicher, dass betrogen worden sei – das habe man gehört. Das hatte in etwa die Kategorie eines Vorwurfs aus Detroit. Dort schöpfte ein republikanischer Wahlbeobachter Verdacht und erhob Klage: praktisch jeder Stimmzettel, den er überprüft habe, sei eine Stimme für Biden gewesen. Was Wunder: Der Bezirk wählt traditionell um die 90 Prozent demokratisch.

Die Georgia-Situation

Eingepfercht zwischen zwei massiven Skandalereignissen zum politischen Jahresauftakt haben die Senatswahlen in Georgia am 5. Januar weniger Aufmerksamkeit erhalten als ihnen eigentlich zugestanden hätte – ihre Wirkung ist auf jeden Fall dauerhafter als Trumps erpresserischer Telefonanruf bei Secretary of State Brad Raffensperger. Und der Ausgang ist ebenfalls historisch, wenngleich nicht auf einer Stufe mit dem desaströsen »Sturm auf das Kapitol« nur einen Tag später. Hatten zuvor die Gerichte ihre institutionelle Funktion erfüllt, hatte nun Georgia neuerlich die Wahl – mit möglicherweise weitgehenden Folgen für die Präsidentschaft Biden.

Die doppelte runoff election war notwendig geworden, weil im ersten Wahlgang kein Kandidat die erforderliche Mehrheit hatte erzielen können – bei einem Zwischenstand von 50:48 Senatssitzen für die Republikaner waren die Stichwahlen zu einem überraschenden »Nachspiel« der Wahlen vom November geworden. Mit zwei Sitzen würden die Demokraten also ein Patt erreichen und die kommende Vizepräsidentin Kamala Harris könnte die entscheidende Rolle des tie-breaker übernehmen. Die Aussicht auf ein unified government, bei dem das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses in der Hand einer Partei liegen, hatte Georgia in die Position eines super battleground state versetzt. Dementsprechend hoch waren die Einsätze der Wahlkämpfer – nicht nur die mediale Aufmerksamkeit richtete sich auf den Empire State of the South, natürlich flossen auch Unmengen von Wahlkampf-Spenden in den Südosten der USA. Kombiniert hatten beide Parteien mehr als 800 Millionen Dollar zur Verfügung für eine Sprint-Kampagne, die keine zwei Monate lang dauern sollte. Zum Vergleich: für den Bundestagswahlkampf 2017 hatte das Statistische Bundesamt die Ausgaben aller Bundestagsparteien zusammen auf weniger als 100 Millionen Euro beziffert.

Im Vergleich zur Präsidentschaftswahl vom November zeigte sich ein ganz ähnliches voting pattern im als konservativ geltenden Bundesstaat – schon damals hatte Georgia als swing state für Aufsehen gesorgt und einen wichtigen Beitrag zum Wahlerfolg der Demokraten geleistet. Mit weniger als 12.000 Stimmen Unterschied gingen die 16 Stimmen im Electoral College an Joe Biden – erstmals seit 1992 hatten die Demokraten hier wieder einmal gewinnen können. Die grundverschiedene Stimmverteilung in städtischen (demokratischen) und ländlichen (republikanischen) Gegenden im Verbund mit einem allmählichen demografischen Wandel kennzeichnet auch die Stichwahlen zum Senat – für Raphael Warnock und Jon Ossoff, die beiden Neu-Senatoren aus dem demokratischen Lager, machte sich der Rückenwind aus der Präsidentschaftswahl bemerkbar. Kelly Loeffler und David Perdue mussten dagegen mit dem Gegenwind von Donald Trump leben – er kam zwar zu zahlreichen Rallyes nach Georgia, nutzte die Veranstaltungen aber stets nahezu ausschließlich als Abwurfstelle für Lügen über den angeblichen Wahlbetrug der Demokraten.

Die Stichwahlen spiegeln die Zerrissenheit der USA nahezu perfekt – und sie geben erste Hinweise auf kurzfristige Nachwirkungen der Präsidentschaftswahl vom November. Das Eintauchen in die Ergebnisse zeigt, dass Warnock und Ossoff bei den black voters noch etwas besser abgeschnitten haben als Joe Biden – möglicherweise ein Impuls, der auf vice president-elect Kamala Harris zurückgeht. Die unterlegenen Loeffler und Perdue mussten mit einem Rückgang der Wählerstimmen in den Republikaner-Hochburgen leben – der Name »Trump« auf dem November-Stimmzettel hatte offenbar starke Mobilisierungseffekte, die nun gefehlt haben. Insgesamt verblieb die Wahlbeteiligung jedoch auf einem hohen Niveau, gut 60% der Stimmberechtigten machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch, das ist für Nachwahlen keineswegs üblich.

Der für die Demokraten auf den ersten Blick sehr erfolgreiche Wahlausgang in Georgia birgt allerdings auch das Potenzial für eine Art politischen Rebound-Effekt – und er bringt (oder: drängt) Kamala Harris in eine überaus wichtige Position für die kommende Legislaturperiode. Der Zugewinn der beiden Senatorenposten liefert zunächst einmal das von den Demokraten ersehnte Patt in der kleineren Kammer des Kongresses. Die Vizepräsidentin ist qua Verfassung mit dem Recht ausgestattet, einen möglichen Gleichstand aufzulösen – dabei ist zu erwarten, dass Harris dann im Sinne der Exekutive agiert und den presidential politics zum Erfolg verhilft.

Ein genauerer Blick auf die Mechanismen der Macht zeigt aber, dass das nicht immer ganz einfach sein dürfte und schon gar nicht automatisch der Fall sein wird. Zum einen steht ihre Loyalität zum Präsidenten auf dem Spiel – es wird erwartet, dass Harris eher zeremoniell agiert, die »Richtlinienkompetenz« des Weißen Hauses stützt und gegenüber dem Senat verteidigt. Aber: die Politikinhalte benötigen die vollständige Unterstützung des demokratischen Lagers – und hatten die demokratischen Vorwahlen vor gut einem Jahr nicht auch diverse Meinungsverschiedenheiten zwischen Harris und Biden zu Tage gefördert? Überhaupt: wie geschlossen ist die demokratische Partei wirklich? Sicher sind die Senator*innen etwas homogener aufgestellt als die Fraktion im Repräsentantenhaus, aber es finden sich auch hier einige progressive Stimmen, die es zu überzeugen gilt. Es braucht also ein gewisses Fingerspitzengefühl, wenn das unified government nicht gleich wieder Gräben in der durchaus unter Spannung stehenden demokratischen Partei aufreißen soll.

Kamala Harris fällt so unmittelbar die Rolle einer mehrfachen Veto-Spielerin zu: Sie könnte die Sonderrolle im Senat auch als Druckmittel für ihr eigenes Agieren im Weißen Haus nutzen – wo sie aber vermutlich ohnehin stärker in die aktive Regierungsarbeit eingebunden sein wird als die meisten ihrer Vorgänger. Und auch in Richtung der Partei kommt Harris eine Leuchtturm-Funktion zu, denn ihre Nähe zu gleich zwei politischen Entscheidungsräumen verschafft ihr die Möglichkeit, Einfluss auf die programmatische Ausrichtung der Partei zu nehmen. Dies wiederum wird wichtig mit Blick auf die Zwischenwahlen in 2022, bei denen sich ein Drittel der Senator*innen und das gesamte Repräsentantenhaus der Wählerschaft stellen muss. Schließlich folgen daraus Weichenstellungen für die nächste Präsidentschaftswahl in 2024 – bei der ein dann 81-jähriger Joe Biden vermutlich nicht noch einmal antreten würde.

Die ohnehin schon als Hoffnungsträgerin markierte Vizepräsidentin könnte also vom Start weg eine überraschend starke Position im neuen Washingtoner Machtgefüge einnehmen – doch damit ist nicht nur große Verantwortung, sondern auch eine mehrfache Bürde verbunden. Harris muss sehr genau abwägen, wie ihre Entscheidungen in den unterschiedlichen Arenen aufgenommen werden: im Weißen Haus gegenüber dem Präsidenten und seinem Kabinett, im Kongress als »Botschafterin der Exekutive« und in der Partei als eine Leitfigur für deren künftige ideologische Ausrichtung. Und all das geschieht zu einer Zeit, in der die USA in aller Welt mehr als kritisch beäugt werden, da es nach den vier verlorenen Trump-Jahren auch darum geht, sich wieder als verlässlicher Partner auf der weltpolitischen Bühne zurückzumelden. Auch als verlässlicher Repräsentant demokratischer Prozesse.

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