von Klaus Vater, 19.8.16
Die Debatte über ein Verbot der Vollverschleierung in Deutschland wird auf eine erstaunlich merkwürdige Weise geführt. Die Burka (in die sich in Deutschland lediglich Frauen aus Afghanistan kleiden, die also äußerst selten ist) wird vom Publizisten Jakob Augstein als „Zeichen der Freiheit“ eingeordnet. Andere stützen sich auf die Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Angelika Nussberger, die eine komplette Verschleierung als die „Freiheit, Außenseiter zu sein“, bezeichnete. Wieder andere wie der Bundesinnenminister sagen, man könne nicht alles verbieten, „was man ablehnt“. Das ist eine Klausel, die nichts besagt, etwa so wie: Nachts ist es kälter als draußen. Jens Spahn, CDU-Präsidiumsmitglied, wiederum möchte Burka-Trägerinnen am liebsten auf der Straße nicht begegnen: „Ich bezweifle, dass es sich bei der Vollverschleierung wirklich um eine freie Entscheidung handelt“, schrieb er in der FAZ. Am selben Tag bezeichnete Leitartikler Patrick Bahners in derselben Ausgabe der Zeitung die Burka als „Probe auf die liberale Gesellschaft“. Die Süddeutsche orakelte, man könne ein Verbot der Verhüllung zwar verfassungsrechtlich „kaum begründen“, aber für „konkrete Verbote“ reiche die Rechtslage in Europa.
Jedenfalls ufert die Debatte aus, obwohl die wenigsten aus eigener Anschauung städtische Gesellschaften mit einem auffallenden Anteil an Frauen kennen, die sich bis auf einen Sehschlitz (Niqab) oder komplett (Burka) verschleiern. Das Verbotsthema ist absolut kein bundesweit induziertes Thema.
Die meisten kennen eine solche Bekleidung lediglich aus Film, Fernsehen, Zeitung. In einigen Städten und Stadtteilen sind vollverschleierte Frauen häufiger anzutreffen, weil es dort nennenswerte Communities aus Staaten der arabischen Halbinsel, aus Afghanistan, Pakistan oder aus dem Maghreb gibt. Da ich derzeit überwiegend in Bad Godesberg wohne, bin ich den Anblick verschleierter Frauen gewohnt – und ich versichere hier: Sie bringen den Himmel nicht zum Einstürzen, der Mond über dem ehemaligen Regierungsviertel weint keine Tränen.
Wenn wir einen Augenblick nachdenken, stellen wir fest, dass uns sprachlich gesehen die Verschleierung so fremd nun wieder nicht ist. Wir reden von der „tief verschleierten“ Witwe am Grab ihres Mannes, von der „tief verschleierten“ Braut am Altar, Arthur Schnitzlers „Reigen“ enthält eine tiefverschleierte Emma. Friedrich de la Motte Fouqué erzählt in seiner Undine von einer tiefverschleierten Wassernixe, die mit einem Kuss einen Ritter umbringt. Und so weiter. Unser Sprachgebrauch signalisiert Distanz und Neugier. Der spannendste Versuch: Die Illustratorin Eva Schwingenheuer hat vor Jahren einen Band mit Zeichnungen im Eichborn Verlag vorgelegt. Titel: Burka. Das Cover ist schwarz, lediglich durchbrochen von einem weißen Sehschlitz. Sie hat versucht, sich auf ironische Weise dem Alltag der tief- und komplett verschleierten Frauen anzunähern. Das Ergebnis war größere Distanz zu dieser Art zu leben.
Wir alle schauen freilich von außen auf die Verhältnisse, in denen sich die verschleierten Frauen bewegen. Im Allgemeinen und grundsätzlich wissen wir praktisch nichts. Ich weiß nicht, ob die so verhüllten Frauen glücklich sind oder nicht, ob sie mit freudig klopfendem Herzen auf ein sommerliches Leben schauen, auf Radfahrende, Eis schleckende, sich lächelnd grüßende Menschen. Vielleicht halten sie unser Alltagsverhalten im Stillen für einen Vorhof der Hölle, weil die fortwährende Veränderung von städtischem Leben prinzipiell abgelehnt wird und gleichwohl mitgelebt werden muss. In ihre Köpfe schauen kann ich Gott sei Dank nicht. Ich frage mich, was vollverschleierte Frauen tagsüber tun.
Na das, erklärte mir ein sehr weitgereister Mensch, was in einem Haushalt eben anfällt. In ihren vier Wänden gingen die ja unverschleiert daher. Und wenn der Postbote klingelt? Dann verschleierten sie sich eben oder öffneten die Tür nicht. Kinder könnten dem Postboten ja auch öffnen. „Mach aus solchen Alltagsgeschichten keine Dramen“, sagte er unwillig. „Was glaubst du, welche Ängste die beherrschen, wenn die in ihren schwarzen Klamotten durch unsere Städte gehen“, erklärte er.
„Ist das so?“
„Davon kannst du ausgehen.“
In Zeitungsberichten las ich, es sei ein großer Vorteil für diese Frauen, in Deutschland verschleiert aber ungehindert umher gehen zu dürfen, weil sie sonst in ihren vier Wänden bleiben müssten. Eingeschlossen. Denn die Männer wollten nicht, dass ihre Frauen von anderen Männern angeguckt würden. Angucken sei eine Art Kontamination in deren Augen. Bereits die Kinder lernten, dass den Ungläubigen keine Sicht auf die Schönheit der Frau gestattet werden dürfe. Daher würden ja auch die Mädchen bereits vor Pubertätsbeginn strikt angehalten, sich zu verschleiern. Und die Jungen lernten, dass der so auf ihre Schwestern ausgeübte faktische Zwang durchzusetzen sei. Erziehung zur Unfreiheit.
Sich unbehindert in den Städten des Westens bewegen können, das könnte für diese Frauen ein Stück Freiheit sein. Zweifellos. An warmen Sommerabenden sitzen viele zusammen im Godesberger Stadtpark. In schwarze Kleidung gehüllt, auf ausgebreiteten Decken, um sich zu unterhalten. Manche lassen ihr Gesicht frei, andere nicht. Auguste Renoir hätte sie vielleicht so gemalt. Ein eigenartiges, friedliches Bild während die Dämmerung zu fallen beginnt.
Wer diesen Frauen in Geschäft oder Arztpraxis und „auf dem Amt“ oder anderswo begegnet, dort wo es auf Kommunikation ankommt, stellt fest: An der Theke, am Counter, Empfang, an der Rezeption reden die dazu gehörenden Männer. Die Frauen stehen stumm hinter ihren „Granden“, beobachten schweigend, was sich tut. Das soll es auch in „bio-deutschen“ Lebensgemeinschaften geben: Eine (einer) schweigt, der andere redet. Allerdings unverschleiert. Ferner habe ich gelesen, dass die volle Verschleierung von Frauen mit dem Vordringen extrem traditionalistischer muslimischer Auffassungen zu verdanken sei. Es sei eben auffällig, dass in Ländern wie Marokko, Algerien und Tunesien die Zahl der vollständig verschleierten Frauen gleichzeitig mit dem Erscheinen dieses sogenannten muslimischen Fundamentalismus angewachsen sei.
Ich weiß nicht, ob das stimmt. Möglich ist es. In Godesberg hängt die Zahl der verschleierten Frauen und Mädchen auch damit zusammen, dass sich in der Region um Bonn und in Bonn wahabitische Gemeinden entwickeln. In unregelmäßigen Abständen wird in lokalen Medien über das Auftreten oder Verschwinden gefährlicher salafistisch eingestellter Personen berichtet. Näheres weiß dann wohl der Verfassungsschutz.
Kann ich, der Beobachtende, sagen, all das lasse sich bestens voneinander trennen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun? Hier die verschleierten Frauen, über welche ich nichts weiß. Dort die dazu gehörenden Männer? Die erwähnte Illustratorin schrieb: „Die Burka ist kein folkloristisches Lokalkolorit. Sie wird mit einem religiösen Gebot begründet, letztendlich ist sie aber mit keiner Begründung zu rechtfertigen, denn sie verstößt schlicht und einfach gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Gleichberechtigung ist keine westliche Erfindung und auch nichts, worüber man verhandeln kann, sondern sie ist ein universelles, unteilbares Menschenrecht.“
Die Erziehung zur Unfreiheit muss aufhören. Mädchen werden gedrängt, ihr Gesicht zu verhüllen. Es wird Druck ausgeübt, so zu werden, wie bereits Mutter und Großmutter sind. Und die Jungen werden darauf trainiert, dass es a) so ist, und dass sie b) dafür zu sorgen, dass es so bleibt. Das geht nicht.
Aufschlussreich fand ich folgendes: Der humanistische Pressedienst berichtete, nach Angaben der ägyptischen Zeitung Egypt Independent arbeite das ägyptische Parlament derzeit am Entwurf für ein Gesetz, das Frauen das Tragen eines Niqabs in staatlichen Einrichtungen und an öffentlichen Orten untersage. Die Zeitung berufe sich hierbei auf eine Aussage von Amna Nosseir, Mitglied des ägyptischen Parlaments und Professorin für Vergleichende Rechtswissenschaft an der islamischen Al-Azhar Universität in Kairo, während eines Interviews mit dem Fernsehsender ONTV. Nosseir sagte, dass der Niqab, ein Vollschleier, der lediglich die Augenpartie der Frau unbekleidet lasse, nach islamischem Recht nicht notwendig sei und dass er seinen Ursprung nicht im Islam habe.
Offenbar gibt es auch andere Tendenzen als die Zunahme der Vollverschleierung.
Ob die Stimme der, wie ich während meiner folgenden Sucherei feststellte, angesehenen Professorin an der Al-Azhar Universität von den deutschen Fachleuten wahrgenommen wird, die sich an der Burka-Debatte beteiligen, bezweifle ich. Eher nicht. Der Menschenrechtsverein für Migranten e.V. berichtet von einer größeren Zahl iranischer Frauen, die Opfer entsetzlicher Säureattentate wurden, weil sie sich nicht tief genug verschleiert hatten.
Seit 1979 sind die Frauen im Iran gesetzlich verpflichtet, enge Kleidung zu meiden und Kopf und Nacken in der Öffentlichkeit zu bedecken. „Tugendwächter“, so lese ich, jagten Frauen im schiitischen Staat Iran, wenn sie meinen, das Gesetz werde verletzt. Und andere Länder? Einer Untersuchung der Universität Michigan zufolge halten über 50 Prozent der saudischen Männer eine Verschleierung bis auf einen Sehschlitz für angemessen.
Dort wird die Verhüllung des Frauenkörpers bis auf Gesicht und Hände auch rigoros durchgesetzt. Hinweise des Auswärtigen Amtes für Reisende nach Saudi Arabien sind also nichts zum Vergessen: „Das kaum kodifizierte saudi-arabische Strafrecht beruht auf der islamischen Scharia hiesiger Auslegung mit den bekannten, ggf. bis hin zu Prügel- und sonstigen Körperstrafen und Amputationen reichenden Strafsanktionen.“
Auf Tagesschau.de las ich dieser Tage: „Im Bericht eines Fernsehsender sind Bilder von Frauen ohne Gesichtsschleier auf den Straßen zu sehen und von Männern, die sich öffentlich die Bärte abschneiden. Der Sender steht der kurdischen Miliz nahe, die als Hauptkraft bei den „Syrischen Demokratischen Kräften“ gilt. Diese Allianz hat heute nun wohl auch noch die letzten Kämpfer des „Islamischen Staats“ aus der Stadt Manbidsch vertrieben. Eine Frau …ruft: „Wir sind glücklich, wir danken Gott…“. Eine andere Frau ergreift das Wort: „Ich fühle mich so glücklich. Es ist, als würde ich träumen.“
Meine Quersumme:
- Wir müssen einen Weg finden, der diesen komplett verschleierten Frauen unsere Mehrheitsgesellschaft öffnet. Würden diese Frauen zu den ersten und einzigen Opfern eines sogenannten Burka-Verbots, hätten wir das falsche getan. Denn die beinharte patriarchalische Männergesellschaft, die für diese Frauen entscheidet, die würde nicht getroffen.
- Wir müssen sehr genau bestimmen, wo und unter welchen Bedingungen Burka und Niqab zu untersagen sind. Im sogenannten „öffentlichen Raum“ gibt es manche Gelegenheiten, bei welchen ein Gesicht nicht bedeckt sein darf. Das gilt auch für den Personenverkehr. Vollverschleierung am Steuer, in Godesberg durchaus Usus, geht nicht. Vollverschleierte Frauen in Kitas, auf die Kinder angstvoll schauen, gehen auch nicht.
- Und damit bin ich bei meiner dritten und wirklich unaufschiebbaren Notwendigkeit: Die Erziehung zur Unfreiheit muss aufhören. Mädchen werden gedrängt, ihr Gesicht zu verhüllen. Es wird Druck ausgeübt, so zu werden, wie bereits Mutter und Großmutter sind. Und die Jungen werden darauf trainiert, dass es a) so ist, und dass sie b) dafür zu sorgen, dass es so bleibt. Das geht nicht. Aber aus welchem Grund auch immer spielen die Kinder in diesem Zusammenhang keine Rolle, weder bei Herrn Augstein noch Herrn Bahners oder Spahn. Ändert das, aber rasch!
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