von Roland Ernst, 12.9.10
Der Sommer ist vorbei. Doch das Klima wird erst einmal bleiben. Denn von Mai bis jetzt hat sich dieses Land mehr verändert, als wir bisweilen ahnen.
Köhlers Rücktritt löste eine Diskussion um die politische Kultur dieses Landes aus, die durch den Bundespräsidentenkandidatur Joachim Gaucks noch gesteigert wurde.
Die berühmte Frage Richard von Weizsäckers in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Grundgesetzes, ob im Verfassungsstaat auch „der Bürger, wie er oft glaubt, lediglich als Zuschauer beteiligt und dann und wann als Schiedsrichter“ fungiert, kann nach fast vier Monaten von Bürgersinn und Politikernervosität klar beantwortet werden: Die “schweigende Mehrheit” in diesem Lande findet durch Gauck und Sarrazin populäre Fürsprecher und Unterstützer. Sie wirken medial und natürlich – gerade auch durch ihre Unzulänglichkeiten.
Beide sind keine Politikertypen. Sie lassen sich nicht einfach inszenieren. Sie wirken selbst wie eigenständige Marken in einem außer Kontrolle geratenen Politmarkt, in dem Meinungen – mit starken Bildern verknüpft – dennoch zu abgestumpften Pointen verpuffen.
“Das Charakteristische der sogenannten fortgeschrittenen Gesellschaften ist dies: sie konsumieren heute Bilder und nicht mehr, wie die früheren Gesellschaften, Glaubensinhalte; sie sind daher liberaler, weniger fanatisch, dafür aber auch ‘falscher’ (weniger ‘authentisch’)”, bemerkte Roland Barthes in seinem Essay „Die helle Kammer“.
Was wir jetzt in diesen Monaten erlebt haben, war der heimliche Aufstand gegen diese empfundene Falschheit und eine Flucht vor der Bilderflut inszenierter Politikinhalte.
Dass die Bundesregierung ohne klares Leitbild agiert, ist ein weiteres Manko. Die eigentliche Authentizität, also die Glaubensinhalte, von denen Barthes spricht, liegen derzeit tatsächlich im Außerparlamentarischen.
Eine Emnid-Umfrage ergab vergangene Woche, dass 18% sich vorstellen könnten, eine von Sarrazin geführte Partei zu wählen. Sogar 25% könnten sich dies für eine Gauck-Partei vorstellen und der einst von Merkel geschasste CDU-Fraktionschef Friedrich Merz käme mit einer Gruppierung seiner Couleur auf satte 20%.
Würde man die meisten Politiker als Paartherapeut in Augenschein nehmen, wäre schnell ersichtlich, worin die Ursachen für die massive Kommunikationsstörung zwischen Wählern und Politikergilde liegen: Insbesondere Mittelstand und Bürgertum fühlen sich von Merkel & Co. hinters Licht geführt.
Etappensieger sind vorläufig die Grünen, die aus dieser Vertrauenskrise den Umfrage zufolge als Gewinner hervorgehen. Sie haben sich als eine Partei der Bürgerrechte und einer menschlichen Wirtschaft etabliert. Mit Cem Özdemir und Claudia Roth haben sie eine Spitze, die zusammen auch eine Schwarzwälder Wellness-Oase führen könnte. Aber traut man ihnen auch zu, kraftvoll eine Gesellschaft neu auszurichten und mit ihrer Politik ein neues Leitbild zu geben? Beide sind rhetorisch nicht sonderlich begabt.
Immer ist es der „Staatsmann als Rhetor“, wie der große Dolf Sternberger bereits 1967 feststellte, den man sich wünsche. Wehner, Strauß, Brandt, Schmidt – sie alle waren die herausragenden Rhetoriker der alten Bundesrepublik, mit Unterhaltungswert und starken, griffig formulierten Botschaften – und bisweilen genauso glaubwürdig auf einem amoralischen Pflaster zuhause.
Selbst Gerhard Schröder konnte noch den größten Unsinn jedenfalls eine Zeitlang halbwegs aromatisiert verpacken. Aber wenn die Verpackung verspricht, was der Inhalt nicht hält, entlarvt es einmal mehr den Politiker, der als Designer angetreten ist, seine Politik entsprechend zu gestalten. Mit ihm fing das Unglück an.
Die SPD entdeckte die Mitte und gab damit später Lafontaine und Gysi unweigerlich das Signal zur Zielgruppenübernahme enttäuschter Linker. Den klassischen Mittelstand und das Bürgertum konnten die Sozialdemokraten nicht langfristig an sich binden. Und die CDU verstieß unter Merkel unweigerlich die Konservativen.
Als Unsicherheitsfaktor der Bundesrepublik etablierte sich eine fünfte Fraktion im Parlament. Dass eine der beiden Volksparteien dadurch heute noch über 40% kommt, ist illusorisch. Dass in dieser Situation auch darüber hinaus noch eine selbstgefällige, aber sehr unsicher wirkende Politikergeneration mit Philipp Rösler, Kristina Köhler und anderen angetreten ist, verstört viele.
Kinder an die Macht – was für ein fürchterlicher Gedanke. Sie wirken völlig fehlbesetzt und setzen in der Sozialpolitik höchstens eher kabarettistische Akzente als durchsetzbare, verbindliche Richtlinien, die in die Zukunft weisen. Doch dass sich Politiker von ihrer Wählerklientel entfernen, hat eine lange Tradition.
Bereits ganz am Ende des neunzehnten Jahrhunderts schrieb der über 80jährige Theodor Mommsen in einem testamentarisches Bekenntnis, er sei – obgleich er nie eine politische Stellung gehabt habe – „in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten, was in mir ist, stets ein animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt.“
Theodor Mommsen, sicher eine der größten deutschen Geistesgestalten und Begründer einer der bedeutendsten Historiker-Dynastien hierzulande, litt unter dem Wilhelminismus seiner Zeit. Ihn widerten die geistfernen Repräsentanten dieses Staates an. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch heute der Bürger eben unter dem „politischen Fetischismus“ still vor sich hin leidet. Die Anlässe haben sich geändert, die psychologischen Gründe kaum. Die meisten sogenannten Eliten sind fast in jeder Staatsform verwendbar.
In eine Kaste, die sich beinahe selbst anzubeten scheint, finden daher authentische Charaktere wie Gauck, Merz und zuletzt Thilo Sarrazin nicht nur Gehör – sie werden gefeiert. Man mag Sarrazin verteufeln, das aber seine Thesen ein Produkt verfehlter Politik sind, ist nicht von der Hand zu weisen.
Gauck personifiziert das, was immer eine absolute Tugend im demokratischen Staat ist: Leben gegen Gewaltherrschaft. Humanistische Ideale gegen boulevardeske Plattitüden. Und dass Friedrich Merz unter vielen Leisetretern der letzte lautstarke Kämpfer für den Wirtschaftsmittelstand war – wer würde das ernsthaft bezweifeln wollen?
Die Parteien sind aber unfähig, solche Persönlichkeiten als starke Eckpfeiler ihrer eigenen Ausrichtung langfristig zu akzeptieren – geschweige denn, sie als Ideengeber für Politikwechsel, neue Bündnisse und politischen Avantgardismus einzusetzen und in ihren Reigen zu integrieren.
Allerdings taugen Gauck, Merz, Sarrazin & Co andererseits auch nicht zur Vereinsmeierei. Für alle Parteien geht es also in erster Linie darum, neue Strukturen zu entwickeln, wenn sie eine neue Akzeptanz erleben wollen. Und die haben sie bitter nötig, wenn sie wirklich verhindern wollen, dass sich das Bürgertum zu Gänze von ihnen abwendet.