#Human Enhancement

Future Shock: Wo sind die Debatten zur Zukunft?

von , 27.11.09

Können Sie sich vorstellen, künstlich gezüchtetes Fleisch zu essen? Was nach ferner Zukunft oder Science Fiction klingt, wird schon im nächsten Jahrzehnt Marktreife erlangen und damit schneller auf unseren Tellern landen als wir es heute noch für möglich halten.

In-vitro produziertes Fleisch ist aber nur eine von mehreren erstaunlichen Entwicklungen, die schon bald unseren Alltag prägen könnten, aber trotz ihrer teilweise weitreichenden ethischen und wirtschaftlichen Folgen bislang kaum in die öffentlichen oder politischen Debatten Eingang gefunden haben.

In-vitro Fleisch

An der In-vitro-Produktion von Fleisch scheiden sich die Geister: Während manche Forscher damit große Hoffnungen verbinden – etwa eine umweltfreundliche und Ressourcen schonende Produktion von Nahrungsmitteln – sind andere Zeitgenossen schon vom bloßen Gedanken daran einfach nur entsetzt. Fakt ist jedoch, dass die technischen Grundlagen dazu weitgehend erforscht sind und es jetzt praktisch nur noch um die Übertragung auf die Ebene einer industriellen Fertigung geht.

Noch ist die Herstellung von Laborfleisch exorbitant teuer. Sobald sich aber die Produktion skalieren und im Preis signifikant senken lässt, ergeben sich für Teile der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie große Herausforderungen, weil sich die Produktions- und Wertschöpfungsketten radikal ändern werden. Der Designer James King nähert sich dem Thema von der künstlerischen Seite (aktuell in einer Austellung in Dublin):


Video: WHAT IF…Meat could be grown in laboratories without harming animals?

In-vitro Medizin

Wer sich partout nicht an das Konzept des in Petrischalen gezüchteten Fleisches gewöhnen will, bedenke, dass es einen verwandten Forschungsbereich gibt und diese beiden sich gegenseitig befruchten können: In der Medizin wird intensiv an In-vitro-Organen und -Gewebe geforscht, erste Entwicklungen daraus kommen bereits an Menschen zum Einsatz.

Auf diesem Gebiet ist man weitaus weniger wählerisch, geht es hier doch um Leben und Tod von Menschen. Insbesondere die Transplantationsmedizin setzt große Hoffnungen auf diese Forschung. Experten gehen davon aus, dass im nächsten Jahrzehnt einfacheres In-vitro-Gewebe routinemäßig operativ eingesetzt wird, während der Ersatz vollständiger Organe auf breiter Basis vermutlich erst ab 2020 folgen könnte.

Human Enhancement

So ein “Ersatzteilservice” ist schon eine interessante Entwicklung, wenngleich er natürlich nicht dazu reichen wird, uns über unsere natürlichen Grenzen hinaus zu bringen. Dafür ist der Bereich des Human Enhancement zuständig, bei dem es um die Steigerung der menschlichen Leistung in physischer und psychischer Hinsicht geht. In Vorstufen kennen wir das bereits hinlänglich: Doping im Sport, Potenzmittel und die kosmetische Chirurgie zählen dazu.

Auch der Bereich der virtuellen Welten kann hier zugeordnet werden: Spiele wie World of Warcraft oder die frei gestaltbare Erlebniswelt Second Life öffnen neue Dimensionen, deren Grenzen im Prinzip nur von den Rechenkapazitäten der Computer bestimmt werden.

Einen vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung setzt die Verbindung von Mensch und Technik über implantierte Chips, die als Schnittstelle zur Steuerung technischer Geräte dienen. Intel arbeitet an einem solchen Chip und will ihn noch im Laufe des nächsten Jahrzehntes zur Serienreife entwickeln. Man soll dann seinen Computer allein mit Gedanken steuern können.

Robotik

Aller Leistungssteigerung zum Trotz, wird es jedoch immer Dinge geben, die Menschen nicht tun wollen oder einfach nicht können. Dann müssen Roboter heran. In der Industrie leisten Roboter lange schon nützliche Dienste. In den kommenden Jahren werden sie aus den Fabrikhallen heraustreten und uns im häuslichen Bereich oder auf der Straße begegnen.

Wissenschaftler der Stanford University befassen sich deshalb schon mit den Rechtsfragen für den Fall, dass es zu Unfällen (mit Personenschaden) zwischen Mensch und Roboter kommt:


Video: Stanford Expert Considers Robots and the Law

Virtuelles Geld

Weitreichende Veränderungen wird es auch im Umgang mit Geld geben, das Internet bietet dazu die Grundlage. Heute noch sind Kunstwährungen wie etwa der Linden Dollar in Second Life eher eine Randerscheinung. Wenn demnächst aber Facebook seine virtuelle Währung einführen wird, tangiert dies die Zahlungsgewohnheiten von sehr viel mehr Menschen.

Daneben gibt es heute schon im Internet Ansätze zu neuen Formen von Kredit (etwa bei smava), während Konzepte für Micropayments (für die Paid-Content-Strategien von Verlagen) noch in Arbeit sind. Die klassischen Banken und auch die Zentralbanken werden aufpassen müssen, dass sie von diesen Entwicklungen nicht überrollt und an den Rand gedrängt werden: Vordenker wie Douglas Rushkoff gehen in ihren Überlegungen nämlich schon so weit, dass sie die Monopolstellung von klassischem Zentralbankgeld in Frage stellen (wie hier in einem Vortrag vom November 2009).

Zivile Raumfahrt

Kein neues Geld, sondern harte US-Dollar wird man auf den Tisch legen müssen, will man in den Weltraum fliegen. Was bislang nur sehr wenigen Menschen vorbehalten war, wird bald eine neue Dimension des Tourismus sein, wenn auch vorläufig nur für relativ begüterte und nervenstarke Personen.

Ab 2012 möchte das Unternehmen Virgin Galactic kurze Flugreisen in den Weltraum zu einem Preis von 200.000 $ pro Person und Flug anbieten. Das wird der Einstieg in die zivile, privatwirtschaftliche Raumfahrt sein. Das Video zeigt Bilder eines erfolgreichen Testflugs (Mai 2009) der Trägerkomponente, die das eigentliche Raumschiff in den Luftraum bringen wird.


Video: Virgin Galactics Test Flight

Mehr Veränderung war nie zuvor

Die hier vorgestellten Entwicklungen sind natürlich nur ein Ausschnitt aus einem sehr viel größeren Spektrum. Sie sollen hier stellvertretend deutlich machen, dass wir vor weitreichenden Entwicklungen stehen, über die in unserer Gesellschaft nur wenig diskutiert wird.

So sehr in Deutschland immer wieder die Bedeutung von Innovationen in Reden von Politikern beschworen wird, so wenig sprechen wir über konkrete Perspektiven, Szenarien und Wunschbilder. In einer Welt, die sich immer schneller verändert, haben wir keine Vision von der Zukunft.

Zudem fehlt es uns an der kumulierten Betrachtung verschiedener, parallel ablaufender Entwicklungen. In den Medien fokussiert sich die Berichterstattung meist auf einzelne Aspekte oder Technologien. Wie aber bereitet man eine Gesellschaft auf ein ganzes Set an neuen Möglichkeiten vor?

Die Frage ist auch, wie sich Deutschland in diesem Kontext positionieren möchte: Soll es eine technologisch führende Nation bleiben – wie einst der “Exportweltmeister” Bundesrepublik mit ihrer starken D-Mark in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war? Oder spielt es nur die Rolle des kritischen “Zaungasts“, wie Peter Kruse die Haltung von Frank Schirrmacher zum Internet in der SZ beschrieben hat.

Alternativ können wir auch einfach abwarten und uns eines Tages überrascht und empört zeigen – wenn wir erfahren, dass das eben verspeiste Fleisch nicht vom echten Rind, sondern von einer Petrischalen-Nachzucht stammt. Carta wünscht schon mal Guten Appetit.

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