#AfD

Für das Gegenteil lebe ich

von , 29.8.18

Was macht man wohl so, Abends um zehn nach neun, wenn man sich nach einem langen Tag hinsetzt und nachdenkt? Ich denke nach, weil ich wieder ein paar Seiten gelesen habe. Georg Schmidt, Die Reiter der Apokalypse. Das Buch handelt vom ersten 30jährigen Krieg. Der begann vor 400 Jahren. Es wird ja in diesen Tagen an so Vieles erinnert. 1918, 1938, bald schon 1949. Doch an den Beginn eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte nicht. Eine der Kapitelüberschriften lautet: „Krise oder wie der Krieg zur Option wurde.“ Wie treffend. Überhaupt reicht ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, um diese seltsame Parallelität zwischen diesem dunklen Gestern und unserem Heute zu erkennen. „Freiheit und Vaterland“, „Wachsende Ungleichheit“, „Der Hexenwahn“, „Der prekäre Religionsfrieden“, „Friedensappelle“, „Grenzüberschreitungen“ und „Eine instabile Ordnung“. Weiter habe ich in dem Buch noch nicht gelesen (und gestern Abend versehentlich ein Eselsohr als Lesezeichen hinein geknickt). Man denkt: Wäre der Mann keiner der Großen der Geschichtsschreibung, man könnte zu dem Schluss kommen, dass er zu sehr aus dem Heute auf die Vergangenheit blickt.

Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht. Aber es kehren Inhalte wieder. Es ist etwa gewiss kein Zufall, dass Alexander Gauland in manchen seiner Reden Bezug nimmt auf diese Zeit, die Kriege gegen „die Türken“ etwa, blutige Schlachten, um das Abendland vor dem Islam zu retten. Oder die deutsche Freiheit, die sich ja nicht nur gegen Türken wendet sondern gegen eine universelle, katholische Ordnung, nach welcher die Habsburger Kaiser strebten. Diese Angst der deutschen Fürsten, ihre Selbstständigkeit und Macht zu verlieren. Ist es das, was sich da rührt? Deutsche Freiheit? Heute von Europa? Von der Universalität der Menschenrechte?

Ich schalte kurz von Facebook zu den Bildern von gestern aus Chemnitz um, betrachte mir zum wiederholten Mal, was ich gar nicht glauben mag. Jagdszenen aus Sachsen. Die so nur kleiner seit Jahren deutscher Alltag sind. Dieser Ausbruch der Gewalt, Durchstoß durch den dünnen Firniss der Humanität. Ich bin aufgewachsen in einem Land, das wohl die Gewalt kannte. Aber niemals doch diesen Hass. Es stimmt schon: die RAF oder die Revolutionären Zellen pflegten diese kalte Sprache des Hasses. Aber die Verbindung der RAF oder der RZ als Teil der Linken löste sich bald auf. Auch ich hatte meinen Flirt mit der Gewalt. Aber dann schreckten wir vor dem Hass zurück, irgendwas hielt uns damals ab, Menschenfeinde zu werden. Andere zu jagen, … bei wenigen riss der Faden. Die Trennung zwischen uns und denen vollzog sich scheinbar wie von alleine. Noch eine Weile hielten wir den Draht, wegen „Isohaft ist Folter, Isohaft ist Mord“. Ja, das war schon so. Aber die Trennung war da. Die falschen Genossen erklärten, man werde nun bourgeois. Inzwischen weiß ich es besser, der Hass ist eine bourgeoise, unpolitische Haltung einer Stammesgesellschaft.

Ich würde jetzt gerne Zwiesprache halten. Mit Georg K. Glaser. Einem Schriftsteller aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, aus dem ich ja auch komme (man vergisst das bisweilen). Den Rheinhessen Glaser hat die Geschichte als jungen Arbeiter zur KPD und dann hinaus ins Exil, in die Kriegsgefangenschaft und dann nach Frankreich gespült, ohne Partei. Der schrieb ein Buch über diese Jahre. Glaser starb 1995. In Paris. Ich hätte ihn noch besuchen können, damals, als ich in den 80ern öfter Gast in der Adresse 145, rue Amelot war. Glaser wohnte nicht weit von dort, hatte sein Werkstatt im Marais. Kupfer hat er getrieben und Silber. Ich aber war zu schüchtern, zu jung, um Dir zu begegnen. „Geheimnis und Gewalt“ hieß das Buch, durch das ich Dich kennenlernte. Du schriebst: „Ich lief fünf oder sechs Tage durch die Straßen. Ich erfragte meinen Weg… Ich sah allen Vorübergehenden voll ins Gesicht, denn ich war überzeugt davon, daß ein Auge, das einmal über die Barrikade gespäht hatte, für alle Zeiten anders blicken musste.“ Für alle Zeiten, immer, die Barrikade. Das waren so Wortfetzen, die sich in meine Erinnerung an Dich einbrannten. „Weißt Du, wie viele heute fallen? Alle, alle sind unschuldig.“ Ja, Du hast auf Deine Zeit geblickt und geschrieben: „Verführung durch Sprache; Bevormundung; Menschenhaß;…“ In Deinem Drama über den armen Marinus van der Lubbe, an dessen Einzel-Täterschaft Du geglaubt hast, als Du über ihn das Drama „Die Passion des Menschen“ verfasst hast, schriebst Du: „Hier ist ein Mensch, der aus seinem flammenden Glauben an den Messias unserer Zeit, das welterlösende Proletariat, eine Tat allein erdacht und allein ausgeführt hast“… Die Ahnung, das Geheimnis. Das Streben nach Erlösung, diese Verschworenheit mit der angeblichen Wahrheit.

Ich lese diesen unfassbar dummen Beitrag des AfD-Abgeordneten Markus Frohnmaier zu dem Mord in Chemnitz: „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen sie auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach!“ Deutsche Freiheit, nicht wahr? Diese Lust an der Gewalt. Da ist sie wieder. „Ganz einfach!“ Zuschlagen, Hexenjagd. Instabile Ordnung. Lust am Autodafé. Da also die guten, im übrigen sehr hässliche weil durch ihren Hass aus physisch entstellte Menschen, und ihr Held, ein ermordeter Deutscher kubanische Herkunft, dem der Pöbel gerade auch über mitspielen würde. Der kann sich ja nicht mehr wehren gegen seine faschistische Trauergemeinde.

Vor nun auch schon 25 Jahren hatte mich eine Ahnung beschlichen, weil das ja so seltsam ruhig von Statten ging, dieser ganze Umbruch, die Auflösung der DDR, die schleichende Auflösung der Gewissheitsorganisationen, deren Satzungen gleich Nebenverfassungen des Grundgesetzes waren. Böckenfördes Diktum begann mich zu begleiten: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit Willen, nicht garantieren kann.“ Seine Substanz zehrt sich innerlich auf. Die Aufklärung hat es zu Recht verabsäumt, Kultstätten oder Glaubenstempel zu erschaffen. Jeder also muss erwachsen werden, irgend wie aus sich selbst. Die Hetzjagden, die ja nicht nur in Sachsen statt finden, legen Zeugnis davon ab, wie diese Auszehrung des Humanen in unserer Gesellschaft wirkt, wie sie die, ach Georg, wieder in die Welt lässt.

 

Was ist das für ein Land geworden? Und was soll werden, wenn das vorüber ist?

 

Ist Frieden nur die Abwesenheit von Gewalt? Oder eine eigene Kategorie? „Wir sind“, hast Du in Deinem Buch geschrieben, „in einem unerbittlichen Krieg“. Aber wie ist das mit diesem Krieg? Ich habe vor 25 Jahren ehemalige Soldaten befragt, die im zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Ich wollte wissen, wie das so ist, auf einen Menschen anzulegen und ihn zu erschießen. Ob einem da nicht das Blut in den Adern gefriert? Und erntete nur sehr abgeklärte Antworten erhalten. Etwa in der Form, dass man schneller sein müsse als der andere…

Und da war noch dieses späte Geständnis eines einstigen Hauptmanns in der „Festung Breslau“, danach lange in russischer Kriegsgefangenschaft. Der sagte, er habe es noch nie jemanden erzählt, aber er habe junge Kerle per Funk verpfiffen, die sich als scheinbar Kranke in Lazarett-Flugzeuge schmuggelten in der Hoffnung, dem Wahnsinn der Verteidigung Breslaus zu entkommen. „Die wurden gleich nach der Landung“ dank seiner Funksprüche „umgebracht. Heute“, fügte er an, „tut es mir leid“. Um hinzuzufügen (er lehnte sich in seinem Sessel zurück), „der Krieg ist nun einmal so, junger Mann.“

„Als es den Krieg als weitverbreitetes Großunternehmen noch nicht gab, erschloß sich die Erfahrung des Transzendenten – dieses Größer-als-wir-Erlebnis des begeisterten Patrioten bei der Massenkundgebung – den Menschen wahrscheinlich durch rituelle Tötung“, schrieb Barbara Ehrenreich in ihrem Buch „Blutrituale“ (1997). Krieg und Opfer, das (vermeintlich) Heilige und seine Erfahrung sah Ehrenreich ineinander verschwimmen. Dazu zitierte sie René Girard (Das Heilige und die Gewalt). Der vermute, dass Krieg und Opfer (wahrscheinlich) ursprünglich dem selben Zweck gedient haben: die aggressive Energie einer Gemeinschaft, die diese sprengen könnte, zu dämpfen und auf ein äußeres Ziel umzuleiten, nämlich auf das Opfer (im Ritus) bzw. „im Krieg auf den fremden Feind“.

Das Opfer ist der andere. In Chemnitz sind Menschen mit gelaufen, die sich bekanntlich gegen den Islam aussprechen und für sich in Anspruch nehmen, das (christliche) Abendland zu schützen. Was für ein Abendland, das in schwarz-rot-gold minder modisch gekleidet doch sehr national daher kommt. Ehrenreich schrieb: „Der Nationalismus ist aber notwendigerweise eine Stammesreligion und kann seinem Wesen entsprechend nicht den geringsten Anspruch auf (abendländischen) Universalismus erheben.“ Glatzen und Brüllmänner, Reenies, gefolgt von besorgten Mittelstandsbürgern wegen eines Mordes, einer Messerstecherei zu viel, ja. 2017 gab es in Deutschland 405 Mordopfer. An manchen Tagen mehr, wenn wieder einmal eine Familie einem Angehörigen zum Opfer fiel. An manchen Tagen keinen. Aber dieser eine junge Deutsche mit Migrationshintergrund, der angeblich Punkmusik mochte, wird nun vom rechten Mob und seinen verbalen Einpeitschern zum Blutzeugen, zu einem Opfer erhoben, das eine Wut-Gemeinschaft begründet.

Was ist das für ein Land geworden? Und was soll werden, wenn das vorüber ist? Wird es vorüber sein? Oder ist diese Angriffsmasse, zu der sich die rechten Antidemokraten wieder und wieder verdichten, zu denen sie alle erdenklichen emotionale (Schein-)Anlässe aufbauen, auf dem Weg dazu, die alte Ordnung der Bundesrepublik zu zertrümmern, deren Repräsentanten seltsam leer und unbeholfen wirken, wie in die Jahre gekommene Familien, den Buddenbrooks ähnlich?

Wer widersteht? Die alte Familie? Oder jene Opfermutwilligen, die sich nun von links aufmachen, Einigkeit im anderen Lager stiften zu wollen. Längst ist man verhakt in Wörterkriege auch hier im Internet.

Wird Zeit, wird Zeit, dass sich die Demokraten und die Demokratie kümmern, die eine demokratische und soziale sein muss, welche die Lebensgrundlagen erhält wie die Freiheit, die wir wie die Luft zum atmen brauchen und die offene Gesellschaft. Wo ist der eigene Beitrag? Wie könnte man über das, was man tut hinaus dazu beitragen, dass die Gewalt nicht durchbricht, Politik nicht Opfermut erfordert und die Jagdmeuten, wie Elias Canetti sie in Masse und Macht bezeichnete, ins Leere laufen, ihren Schwung verlieren ohne ihr Opfer reissen zu können und sich aufzulösen beginnen. Nein, kein neues Blutvergießen. Aber ausgeschlossen ist es nicht. Es liegt in der Logik dessen, was begonnen hat.

Als ich Ehrenreich gelesen hatte und sich dieses post-1948er Gewissheitsnetz aufzulösen begann, brach in Jugoslawien, diesem netten Urlaubs-Karl-May-Filmland plötzlich ein Bürgerkrieg aus, den ich noch ein Jahr zuvor so in Europa nie mehr als möglich angesehen habe. Als das Schießen an den Plittwitzer Seen 1991 begann, stand mit einem Mal auch die Gewissheit in Frage, dass die Gewalt in staatlicher Macht vernünftig gebannt und gebunden ist und das gegenseitige Töten in Europa als überholt anerkannt wird. Heute haben sich die beiden Rassisten Orban und Salvini gegenseitig zu ihrer Politik gewordenen Menschenverachtung gratuliert.

Das ist die Krise, die den Krieg möglich macht. Ein furchtbares Gebräu aus falschen Nachrichten, dreister Propaganda, Verleumdungen und Hetze. Deutschland steht vor einer ungeheuren Probe. Und mein Europa, in dem ich einst hoffte, dass die Nationalstaaten untergehen und die Regionen ohne Grenzen auferstehen würden, auf dass nie mehr ein Krieg möglich wäre, ist an einer Zeitenwende, nach der wir wieder hinter Rom zurückfallen könnten. Für das Gegenteil lebe ich.

Mein Tee ist über die fliegenden Gedanken kalt geworden. Nun ist es halb zwölf. Es wird Zeit, das Licht zu löschen. Schade, denke ich, dass die Legionen des Varus nicht siegreich waren. Es wäre uns doch Vieles vielleicht erspart geblieben.

 

 

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