von Hans-Jürgen Arlt, 8.2.13
Der vierte regierungsamtliche Armuts- und Reichtumsbericht innerhalb von zwölf Jahren – der erste erschien im April 2001, war rot-grün und ebenso wie der aktuelle schwarz-gelbe ein parteipolitisch durchgestyltes Dokument – liegt im Entwurf seit vielen Monaten vor. Vom Bundeskabinett beschlossen werden soll er, nach zigfachen Verschiebungen, am 6. März 2013. Er wiederholt und verstärkt eine bekannte Information: der soziale Fahrstuhl bedient nicht mehr alle Etagen. Wer im Keller ist, kommt nicht mehr hoch. Wer die Party mit Panoramablick und Feinkost-Käfer-Service auf der Dachterrasse feiert, bleibt oben. Auf den Etagen dazwischen, sagen Soziologen, herrsche Statuspanik, weil nicht nur die physikalische, sondern in Krisenzeiten auch die soziale Schwerkraft nach unten ziehe; und irgendeine Krise haben wir gegenwärtig immer.
Das rechte Ufer redet nicht gerne über Armut oder Reichtum. Unsere Gesellschaft dürfe als beste aller möglichen gelten, die Chancen seien im großen und ganzen gleich verteilt, die Leistungen würden in aller Regel gerecht belohnt bzw. bestraft. In den Unterschieden des Einkommens und Vermögens, die so dramatisch auch wieder nicht seien, kämen eben unterschiedliche Fähigkeiten und Bereitschaften zum Ausdruck. Die einen wollen zwar, können aber nicht; das habe die Natur leider so vorgesehen. Andere könnten, wollen aber nicht, das sind die Schlimmen, ihre Zahl scheint zuzunehmen. Dann gebe es eben noch diejenigen, die sowohl können als auch wollen, weshalb sie entsprechend erfolgreich seien. Am rechten Ufer gelten die Armen als unbegabt oder faul oder beides; die Reichen sind strebsame und sparsame Wohltäter, die Arbeit schaffen, stiften und spenden, die globale Lebensqualität voran bringen.
Am linken Ufer sind Armut und Reichtum Skandal- und deshalb Dauerthemen. Arme Opfer und reiche Täter beherrschen die Szene einer Gesellschaft, die nur über zwei Schubladen verfügt: eine mit Benachteiligungen und eine mit Privilegien. Die jeweilige Regierung mache gemeinsame Sache mit den Privilegierten, die Opposition speise die Benachteiligten mit Versprechungen ab, die stets gebrochen würden. Am linken Ufer sind die Armen diskriminierte Gutmenschen, die keine Chance bekommen; die Reichen gelten als luxurierende Schurken, die Arbeitsplätze vernichten, raffen und ausbeuten, soziale wie ökologische Risiken anhäufen und Richtung Katastrophen treiben.
Beide Seiten können zahlreiche empirische Phänomene für ihre Sichtweise in Anspruch nehmen. Doch statt die Leute zu lobpreisen oder zu beschimpfen, kann man den Versuch machen, unsere Gesellschaft zu begreifen. Sie proklamiert Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit in der Tat als Leitziele – eine Zielsetzung, auf die Feudalgesellschaften nie gekommen wären. Auf diese Weise entsteht überhaupt erst die Möglichkeit, ungerechte Zustände zu kritisieren. Es ist wichtig, eine Gesellschaft als Summe ihrer Zustände und ihrer Ziele zu sehen. Schöne Ziele sind nicht einfach nur Täuschungen, aber schlimme Zustände auch nicht nur Entgleisungen.
Auf den Fahnen der Moderne prangt die Gleichheitsforderung. Welchen Sinn kann es haben, Gleichheit auf die politischen Fahnen zu schreiben, wenn zum einen offensichtlich ist: Menschen sind älter oder jünger, schneller oder langsamer, schöner oder hässlicher, stärker oder schwächer, etc.? Und wenn zum anderen klar ist, dass sich in jeder Sozialordnung unterschiedliche Rollen und Positionen herausbilden – Häuptling und Indianer, Patientin und Ärztin, Pförtner und Präsident -, welche nicht nur ungleichartig sind, sondern auch als ungleichwertig gelten.
Der Sinn der modernen Gleichheitsforderung liegt darin, Grenzen zu ziehen, die verhindern sollen, dass Vorteile in einem Teilbereich zugleich Vorteile in einem anderen bringen; oder Schwächen hier zu einer Schwächung dort führen. An der Wahlurne sollen nicht die Reichen, an der Kasse nicht die Gebildeten, vor Gericht nicht die Schönen größere Chancen haben. Die Note soll dem Wissen, die Bezahlung der Leistung, das Urteil dem Vergehen entsprechen – ohne Ansehen der Person. Das ist der Unterschied zum Feudalismus, wo die Geburt über alles entschieden hat. Es genügte, in der Wiege eines Großgrundbesitzers geboren zu werden und Mann – mit den Frauen hat es seine eigene Bewandtnis – war reich, mächtig, im Recht, gebildet und sexuell erfolgreich ein Leben lang, das allerdings meist kurz war.
Wie heute schon ein städtischer Spaziergang zeigt, der an Unternehmen, Parteizentralen, Gerichtsgebäuden, Sportplätzen, Museen, Rundfunksendern, Kirchen, Schulen, Wohnhäuser etc. vorbeiführt, gliedert sich die moderne Gesellschaft in gut unterscheidbare Teilbereiche – von der Wirtschaft über die Politik bis zur Bildung und zur Familie. Die Grundidee des Gleichheitsbegriffs ist es, dass in jedem dieser Funktionsfelder davon abgesehen wird, was die Einzelnen auf anderen Feldern (nicht) erreicht haben. Wir sprechen von Korruption, wenn Geld die Entscheidungen der Politik beeinflusst, wenn Macht das Recht beugt oder Sex die Noten wissenschaftlicher Leistungen aufbessert. Diese Grenzziehungen verhindern nicht, und das sollen sie auch nicht, dass es innerhalb des einzelnen Funktionsfeldes zu beachtlichen Unterschieden kommt. Aber sie sollen dafür sorgen, dass sich diese Unterschiede nicht kumulieren, denn sonst haben am Ende einige alles und viele nichts.
Diese Grundidee hatte immer schon zwei Sollbruchstellen, zum einen am Übergang zwischen Familie und Bildungssystem, und zum anderen beim Wechsel vom Bildungssystem in die Erwerbsarbeit. Weshalb haben sich diese Sollbruchstellen in Kluften verwandelt? Weshalb hat sich ganz unten ein Gefängnis für Arme und ganz oben eine geschlossene Gesellschaft der Reichen entwickelt? Es ist der große Gleichmacher Geld, der die Ungleichheiten vergrößert und zementiert. Die Mutter des Geldes, die Wirtschaft, hat unter den gesellschaftlichen Funktionsfeldern eine Vorherrschaft errungen. Nicht deshalb, weil sie irgendwie bedeutender wäre; das redet sie uns Leichtgläubigen nur ein.
Gesundheit, Wissen, Liebe sind mindestens genau so wichtig. Um sich möglichst frei entfalten zu können, muss die Wirtschaft Käuflichkeit durchsetzen – in der politischen Debatte nennt man es Privatisierung. Das begann historisch mit Grund und Boden und ging weiter mit der Arbeit und deren Verwandlung in „doppelt freie“ Lohnarbeit. Käuflichkeit setzen wir entweder mit Entwürdigung gleich und folgen dabei Immanuel Kant: „Was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde”. Oder wir freuen uns über die damit verbundene Zugänglichkeit und Bequemlichkeit, wenn wir uns im Supermarkt für das Wochenende versorgen.
Worauf es hier ankommt: Zugänge zu Lebenschancen werden hierzulande immer mehr und immer öfter über Geld geregelt. Allerdings nicht nur hier. Will man Globalisierung an einem Einzelaspekt festmachen, wäre es wohl genau diese Monetarisierung, eine Tochter der Ökonomisierung. Werden Zugänge zu Lebenschancen monetarisiert, stellt sich als entscheidende Frage: Wie findet man Zugang zu Geld? Chronisches Nichthaben von Geld heißt Armut, nachhaltigen Geldüberfluss nennt man Reichtum. Wie wird man arm, wie reich? Arm wird, wer keine oder nur eine schlechte Erwerbsarbeit hat, reich wird, wer Geld hat.
Die Möglichkeiten, über Erwerbsarbeit an Geld zu kommen, waren und bleiben prekär, weil sie – man nennt es Kapitalismus – weitgehend wirtschaftlich organisiert ist. Die Arbeit wird deshalb als Kostenfaktor behandelt, möglichst billig bezahlt oder gleich ganz an die Technik übergeben. Um nicht immer wieder ohne Einkommen dazustehen, hat die Arbeiterbewegung den Sozialstaat durchgesetzt. Der Sozialstaat macht für die Menschen eine Wirtschaftsordnung akzeptabel, welche Arbeitslosigkeit, sprich: Rationalisierung, und Ungleichheit, die laufende Produktion von Gewinnern und Verlierern, als ihren Motor nutzt. Nicht nur die finanziellen Kosten des Scheiterns, auch die ökonomisch erzeugte Angst und Empörung werden beim Sozialstaat abgeladen und am Ende der Politik in die viel zu großen Schuhe geschoben.
Mit Arbeit mehr Geld zu machen, als man braucht, also reich zu werden, das klappt nicht. Reich wird nur, wer aus Geld mehr Geld, aus mehr viel und aus diesem Vermögen dann viel mehr Geld macht. Früher haben das Unternehmer am besten gekonnt, heute können es die Spekulanten besser. Neben dem Geld wirkt sich inzwischen auch die Prominenz stark aus, weil das Öffentlichkeitssystem große gesellschaftliche Bedeutung gewonnen hat. Die massenmedial erzeugte Prominenz schwappt in andere Funktionsfelder hinein, und plötzlich ist ein schauspielernder Muskelprotz Gouverneur von Kalifornien oder Günther Jauch der Präsidentschaftskandidat der Herzen. Große Bekanntheit strebt nach großem Geld; dass großes Geld vor Bekanntheit eher flüchtet, macht deutlich, wer die Schlüsselgewalt hat, das Geld, nicht die Prominenz. Geld macht den Weg frei zu sozialem und kulturellem Kapital. Filme wie „Pretty Woman“ und „Schmalspurganoven“ demonstrieren, dass es kein leichter Weg, sondern ein Hindernislauf ist. Aber es läuft allemal schneller und bequemer als auf der Gegenspur; Kultur und Soziales in Geld zu verwandeln, kann mühsam werden und erfolglos enden.
Zusammengefasst ergeben sich drei Befunde: Erstens. Unsere Gesellschaft öffnet dem Geld Tür und Tor und verletzt dadurch die Grenzen, die sie um der Chancengleichheit willen zwischen ihren einzelnen Funktionsbereichen eingerichtet hat. Politik, Wissenschaft, Sport, Gesundheit, Öffentlichkeit, Kultur – überall versucht das große Geld das Sagen zu bekommen. Zweitens. Die Arbeit hat es in den zurückliegenden zweihundert Jahren geschafft, gesellschaftsfähig zu werden, den Arbeitskräften Bürgerrechte und Konsumentenfreiheiten zu erkämpfen. Von Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit, krankmachenden Arbeitsbedingungen und Hungerlöhnen bleibt sie dennoch bedroht, national wie international. Drittens. Als zivilisatorisches Minimum brauchen wir nicht nur den Mindestlohn, sondern vor allem ein garantiertes Grundeinkommen für alle, national wie international.