#Digital Natives

Eroberungsfeldzug im achten Kontinent: Skalpprämien im Internet

von , 17.5.10

Egal ob Internet, neuer Kontinent und seine Kulturen oder die jeweils aktuelle Jugendbewegung: die Reaktion der westlichen Zivilisationen ist einfach immer wieder dieselbe. Das Neue wird nicht als Objekt der Inspiration erlebt, sondern als Bedrohung empfunden. Bestenfalls erfährt es den Versuch der Integration in das bereits vorherrschende System. Voraussetzung ist, dass dessen Spielregeln übernommen werden. Die Möglichkeit, das neue Phänomen als Anlass zur Hinterfragung oder Erweiterung zu nutzen, lässt man meist verstreichen.

Als die Europäer nach Amerika kamen und dort auf Ureinwohner mit anderen Sitten und Gebräuchen, anderen Formen von Gesellschaft und Ackerbau stießen, versuchte man diese entweder zu christianisieren oder zu eliminieren. Die Durchsetzung der eigenen Regel und Kultur gegenüber Dritten galt als Segen, selbst wenn sie für diese todbringend war. Nur eine winzige Minderheit der weißen Eindringlinge beschäftigte sich mit ihrem ökologisch-holistischen Weltbild und dem daraus resultierenden Umgang mit Flora und Fauna, versuchte es zu verstehen und davon zu lernen.

Als die Hippies sich lange Haare wachsen ließen, freie Liebe machten und dabei bewusstseinserweiternde Drogen nahmen, verfolgte man erstmal vehement den Konsum. Ziel war, das existente Recht bei ihnen durchzusetzen um den jungen Menschen so den Weg zurück in die Gesellschaft zu weisen. Nur eine Minderheit von Intellektuellen fragte sich, in wie weit diese Bewegung zur gesamtgesellschaftlichen Erneuerung beitragen könnte, was man von ihren Werten lernen könne. Letztlich fühlte diese Ignoranz des Establishments zu Frustration und schließlich zu Gewalt auf beiden Seiten.

Der Publizist Peter Glaser bezeichnete das Internet unlängst als den Achten Kontinent. Nachdem dieser lange von der analogen Welt ignoriert wurde, dringen nun ihre Siedler in Massen ein, so wie es die westlichen Zivilisationen über 200 Jahre nach deren Entdeckung in die Weiten Nordamerikas zogen. Sie bringen Recht und Ordnung aus ihrer Welt mit und wollen es hier durchsetzen. Die einen fühlen sich bedroht von der Anarchie, die dort herrscht, andere wittern gigantische Chance und Gewinne. Viele aus Politik und Wirtschaft treibt beides bei ihrem Eroberungs-Feldzug im Netz an.

Man kann in dem Digital Native aber auch den neuen Hippie entdecken: „Die haben schon eine merkwürdige Moral“, wusste ein Journalist der Zeit im Rahmen des politischen Symposiums „Recht 2.0“ zu berichten. Unerschrocken hatte er sich zuvor auf die „Hackermesse“ re:publica getraut. „Man fällt auf, die akzeptieren kaum einen über 30.“ Der Vergleich mit einer Jugendbewegung schmeichelt, aber er beruht auf dem weitverbreiteten Missverständnis, dass jeder Irokesen-Haarschnitt auch einen jugendlichen Körper unter sich hat.

Konfrontiert mit dem Neuen, dem Fremden und dem Revolutionären, also mit alle dem, was anders ist, sitzt der Schlagstock seit eh und je lockerer oder ist der Finger sogar schneller am Abzug. Wer den vermeintlichen Gegner nicht wirklich kennt schlägt härter zu – und sei’s aus Angst. Für tote Indianer gab es bis 1890 in Mexiko und Amerika noch mancherorts Skalpprämien, Spaßguerillas des „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ wurden beim Versuch, Polizeiautos Zweck zu entfremden, in Berlin erschossen, Friedensdemonstranten auf dem Hamburger Heiligengeistfeld fast einen ganzen Tag eingekesselt und gedemütigt. Angesichts der unverstandenen Kulturen verliert sich Verhältnismäßigkeit.

Im Internet gelten auch härtere Regeln als in der wirklichen Welt, zumindest dann, wenn es nach dem Willen der Player des analogen Marktes geht. Die Musikwirtschaft war als erstes mit dem Tun der neuen, digitalen Gemeinschaft konfrontiert. Die Datenmenge ihres Gutes (Musik) war gering, eine vernünftige Kompressionstechnologie mit MP3 verfügbar. 1998 entstand deshalb mit Napster das erste umfangreiche Angebot, welches sich ihrer Logik und Kontrolle entzog. Statt diesem etwas entgegen zu setzen, was die endlosen Möglichkeiten des digitalen Marktes nutzt, wurde auf Durchsetzung des analogen Rechts gedrängt. Die Musikindustrie feiert Frankreich und Großbritannien, wo nach dreimaligem Missbrauch der Nutzer gänzlich aus dem Netz vertrieben werden soll. „Three-Strikes-Out“ heißt das Modell, was so funktioniert, als dürfe jemand der CDs klaut nie wieder irgendeinen Laden betreten.

Wer jedoch ein legales Angebot im Netz aufbauen will, sieht sich mit Behinderungen konfrontiert, die es im analogen Markt nicht gibt. Für Downloadshops muss man Vorschüsse in Höhe von 10.000 und mehr pro Major bezahlen. Wer hingegen einen ganz normalen Plattenladen eröffnen willen, muss bestenfalls seine Kreditwürdigkeit beweisen um beliefert zu werden. Ähnlich verhält es sich bei dem Umgang mit digitalen Medien: Zu Recht beklagen die Plattenfirmen, dass Radios meist nur bereits etablierte Hits spielen und im Fernsehen Newcomer so gut wie keine Chance haben. Will man das aber ändern und einen alternativen Videokanal im Netz anbieten, wird das Geschäftsmodell torpediert. Statt moderate Anteile der Werbeerlöse an GEMA und GVL zu zahlen, sollen plötzlich Beteiligungen von bis zu 50% gezahlt werden. Gerne auch mit Garantien vorab. Die Anlieferung der Ware wird zudem digital absurderweise teurer, als sie physisch war. Schweizer Independent-Radiostationen, welche die sogenannten MPN Gebühren nicht mehr zahlen konnten, wurde deshalb gerade von den Majors die Zusammenarbeit aufgekündigt.

Nicht nur in der Wirtschaft gilt aber, dass die Netzwelt härter anzufassen ist als die analoge Realität. Der Bundesgerichtshof hat diese Woche bestätigt, dass derjenige für den Missbrauch haftet, der sein W-LAN nicht ausreichend sichert. Wird über diesen, wie im Fall des Beklagten geschehen, von Dritten illegal downgeloaded, haftet der Inhaber des Anschlusses. Analog betrachtet wäre das so, als würde der Besitzer eines Telefons haften, wenn er es einem Freund leiht und dieser Telefonterror verbreitet oder seine Gesprächsteilnehmer beleidigt. Es ist so, als wäre derjenige für einen Unfall verantwortlich, der im Sinne von Carsharing seinem Wohnblock das Gefährt zur Verfügung stellt…

Urteile wie das des BGH, oder ein Marktverhalten wie das der Musikwirtschaft zeigen, dass die Verhältnismäßigkeit aus den Fugen gerät, wenn Richter und Manager über etwas entscheiden, was sie bestenfalls intellektuell, aber nicht emotional begriffen haben. Es soll geregelt und verhindert werden, anstatt die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die im Netz entstehen. Die Logik und Moral einer alten Welt wird der neuen übergetopft, deren eigene Werte und Errungenschaften werden ignoriert. Damit vergibt man Chancen.

Selbstregulierung ist eine solche. In Form von Wikipedia kann man das wahrscheinlich jedem verdeutlichen. Deshalb wird dieses Beispiel auch immer wieder bemüht. Im Sinne des Vergleichs mit einer Jugendbewegung hat Wikipedia deshalb die Rolle der Beatles: Die Plattform ist Mainstream, aber deshalb ein wichtiges Element für alle, um zu verstehen, worum es in Sachen Netzkultur vielleicht geht. So wie die Beatles halfen, mit häufig bei Johann Sebastian Bach entlehnten Harmoniefolgen den Rock’n’Roll zu vermitteln, kann der gelernte, enzyklopädische Gedanke vielleicht die Brücke zur Schwarmintelligenz sein und helfen, die notorische Angst vor dem Neuen, dem Unregulierbaren zu nehmen.

Sobald die analoge Welt Wikipedia als Regel und nicht als Ausnahme versteht, könnte dies gelingen. Hoffentlich dauert das nicht so lange, dass Marktführer, Legislative und Exekutive schon die ein oder andere Skalpprämie zur Praxis oder Gesetz gemacht und die fröhlichen Internet-Hippies von einst in den Untergrund getrieben haben…

Dieser Text von Tim Renner erscheint auch im Motorblog.

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