#Internationales

Ein Killer-Argument zur Kenntnisnahme

Es gibt ein Zeitfenster, das sich schließt. Lässt man die Sache weiterlaufen wie in den letzten 20 Jahren, stellt sich Frage bald nicht mehr, den globalen Einfluss Chinas eindämmen zu wollen. Nach Yan Xuetong sind wir dort längst angekommen. Für ihn befindet sich die Hegemonie Amerikas unaufhaltsam im Niedergang.

von , 22.3.21

Ein Gespräch über eine Welt, die weder Insel noch Dorf ist, und in der fast alles an den Daten hängt.

Carta: Wir waren verabredet, uns über einen Text des chinesischen Politologen Yan Xuetong zu unterhalten, dann kam vor ein paar Tagen diese Killer-Geschichte dazu.

Alex Meyer: Viel gibt es dazu nicht zu sagen. Man hat ja gehofft, dass sich derartige Peinlichkeiten mit dem Abgang des letzten US-Präsidenten erledigt haben. Eins steht fest: die Sprache der Diplomatie ist das nicht mehr. Es könnte ein Ausrutscher gewesen sein, was ja bei Biden nicht so selten vorkommt. Es könnte aber auch sein, das Nicht-Diplomatie genau das Schauspiel ist, was vor großem Publikum aufgeführt werden soll.

C: Inwiefern das?

AM: Vor dem Hintergrund einer Diskussion, die es kürzlich innerhalb des Atlantic Council gab, macht Bidens Ausfall durchaus Sinn. Dort hatten kürzlich zwei Autoren argumentiert, es wäre im Interesse Amerikas, sich mit Russland ins Einvernehmen zu setzen, anstatt auf Konfrontation. Das hat offenbar zu scharfen Diskussionen geführt. Vor dem Hintergrund sendet Biden ein deutliches Signal. Einen ähnlichen Vorfall gab es kurz darauf mit China, beim dem Treffen in Alaska. Alle diplomatischen Gepflogenheiten wurden beiseite zu lassen, um erst einmal öffentlich einen Konflikt auszutragen. Was danach besprochen wurde wissen wir nicht, aber immer wenn derartige Konflikte öffentlich ausgetragen werden, ist davon auszugehen, dass der Adressat nicht mit am Tisch sitzt.

C: An wen richten sich ihrer Ansicht nach die Botschaften?

AM: Zum Beispiel an Europa.

C: Warum Europa? Ist Europa nicht gerade die kranke Frau am Bosporus, nur auf der anderen Seite, um das Bild aufzugreifen.

AM: Europa ist das Zünglein an der Waage in der größeren Auseinandersetzung, die vermutlich leider das ganze nächste Jahrzehnt prägen wird. Es sei denn, es gelingt doch noch das, was am Vernünftigsten wäre: nämlich die geopolitischen Konflikte beizulegen, um gemeinsam gegen die Klimakatastrophe vorzugehen. Das hieße allerdings, die verfügbaren Kräfte für das 1,5-Grad-Ziel zu mobilisieren, und nicht für das 2-Prozent-Ziel, also Rüstungsausgaben.

Die Hegemonie des Westens, oder je nachdem wie man es sieht: der USA oder des Dollars, lässt sich nur halten, wenn Europa bei der Stange bleibt. Sollte sich aber in Europa die Erkenntnis breit machen, dass dieser Konflikt ganz und gar nicht den hiesigen Interessen dient, würde die alte Hegemonie des Westens sehr schnell einer anderen Weltordnung weichen. Für die Anhänger eines weltbeherrschenden Westens drängt die Zeit, zumal die Corona-Krise die Position Chinas beträchtlich gestärkt hat. Nun scheint sich die Regierung in Washington darauf festgelegt zu haben, die Hegemonie zu verteidigen. Und das verlangt, Europa von Russland und China soweit zu entkoppeln wie möglich, mit ganz beträchtlichen wirtschaftlichen Einbußen, speziell für den Exportweltmeister Deutschland.

C: Welche Optionen gibt es denn nun in Europa?

AM: Drei verschiedene. These und Antithese und, in dem Fall gar nicht hegelianisch, Non-These. Man könnte die Hegemonie in westlicher Tradition verteidigen, was zugleich ein altes koloniales Projekt fortsetzt. Oder man könnte neutralen Grund suchen, übrigens ohne damit westliche Werte wie Menschenrechte und Freiheiten aufzugeben. Das Ziel wäre dann, zu zeigen, dass ein Mehr an Freiheit und Gleichheit eben doch für ein besseres Leben sorgt. Da haben wir nach der jämmerlichen Corona-Bilanz einiges an Überzeugungsarbeit vor uns. Oder man kann das weitermachen, was Europa und vor allem Deutschland seit langem tun.

C: Was wäre das?

AM: Eine Art von Appeasement. Nämlich das eine zu sagen und etwas anderes zu tun. Also lautstark wirkungslose Sanktionen gegen Russland zu beschließen, die im Endeffekt sogar die dortige Industrie schützen, und gleichzeitig zu investieren und Pipelines fertig zu bauen. Oder Menschenrechtsverletzungen in China hier anzuprangern, und gleichzeitig dort ein Wirtschaftsabkommen zu schließen. Diese Art von Irrealpolitik hat sehr lange sehr gut funktioniert. Speziell in Deutschland hat das den seltsamen Effekt, dass hierzulande über geopolitische Fragen sehr ungern geredet wird. Sie gelten als unfein und grobschlächtig, ein vermintes Spielfeld von Verschwörungsanhängern. Im gepflegten politischen Diskurs unterhält man sich lieber über Werte. Oder über humanitäre Fragen. Mein Eindruck ist, dass es sich bei dieser Verdrängung um einen Effekt genau dieser Appeasement-Politik handelt. Die irrealpolitischen Widersprüche zwischen Reden und Handeln sollen unter dem Teppich bleiben, wo man sie hingekehrt hat.

C: Nun wächst gerade in jüngster Zeit die Kritik an der europäischen Unentschiedenheit.

AM: Natürlich. Denn es gibt ein Zeitfenster, das sich schließt. Lässt man die Sache weiterlaufen wie in den letzten 20 Jahren, stellt sich Frage bald nicht mehr, den globalen Einfluss Chinas eindämmen zu wollen. Nach Yan Xuetong sind wir dort längst angekommen. Für ihn befindet sich die Hegemonie Amerikas unaufhaltsam im Niedergang. Wobei er da sehr chinabezogen argumentiert und vielleicht deshalb übersieht, dass die USA keine monolithische Einheit von Wirtschaft und Staat wie China darstellen, sondern ein vielfältiges und deshalb auch sehr bewegliches Gebilde. Das ist übrigens eine Stärke des Westens, wenn man so will: die Zerbrechlichkeit und die Vielfalt. Und auch der Erneuerungswille, speziell in den USA.

C: Aber ist nicht gerade da China dabei, den Westen zu überholen?

AM: So sieht es aus. Mit etwas historischem Weitblick stellt sich die Lage aber etwas anders dar. Der chinesische Staat nennt sich zwar kommunistisch, aber eigentlich setzt er ein monolithisches Herrschaftsmodell fort, das keine Erfindung Maos ist, sondern eine seit Jahrhunderten bestehende Kaderbürokratie. Derartige Regierungsformen tendieren immer dazu zu versteinern. In einem solchen Riesenkristall dauerhaft Dynamik zu erhalten, ist nahezu unmöglich.

C: Spricht das für Europa?

AM: Leider nein, denn alle drei Weltpole sind auf unterschiedliche Weise von der Tendenz zur Versteinerung betroffen. Die EU ist im Lauf der letzten Jahrzehnte immer chinesischer geworden. Demokratische Prozesse wurden zurück gedrängt und durch intransparente Verwaltungsabläufe ersetzt. Nur da, wo offener Wettbewerb die staatliche Macht untergräbt, nämlich in Steuerfragen, hat man eine ruinöse Vielfalt zugelassen.

Die Versteinerung in den USA kommt aus einer anderen Ecke. Nämlich aus dem Zusammenspiel von Plattform-Monopolen und Finanzindustrie, deren Hauptinteresse darin liegt, bestehende Verhältnisse zu erhalten. Historisch gesehen ist das fatal. Das europäische Modell wurde ja gerade deswegen so erfolgreich, weil es aus lebendiger Konkurrenz eine produktive Vielfalt schuf. Sonst hätten die Europäer den technologischen Vorsprung, den China noch im frühen Mittelalter hatte, nie eingeholt.

C: Dazu passt die Mahnung vor der Stagnation, die Reckwitz neulich vorbrachte.

AM: Mit der Warnung hat er natürlich recht, aber seine Diagnose greift leider sehr kurz. Sie leidet an dem unter Soziologen weit verbreiteten Hang, ökonomische Hintergründe nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen. Der Westen stagniert ja nicht aus einer Zeitgeist-Laune der Gesellschaft heraus. Da sind sowohl Yan als auch der US-Ökonom Michael Hudson zwei Schritte weiter. Hudson mag manchmal radikale Positionen einnehmen, aber seine Diagnose, warum der Westen stagniert, ist ebenso scharf wie klar. Letztlich sieht er den Hauptgrund in der Finanzialisierung. Wenn möglichst viel Einkommen aus Rente und Vermögenswerten gezogen werden soll, erlahmt der produktive Teil der Wirtschaft. Gewinne werden nicht mehr investiert, sondern ausgeschüttet. Das System treibt einem neuen Finanzfeudalismus zu. Die monopolistischen Plattformen, die sich im Netz breit gemacht haben, verschärfen diese Tendenz zur Versteinerung nur. Technofeudalismus, wie Cédric Durand sagt.

C: Wobei China ja, im Gegensatz zu Europa, die US-Plattformen so gut wie ausgeschlossen hat.

AM: Plattformen haben sie dort auch, aber immerhin die eigenen. Mit strategischer Voraussicht, wie Yan Xuetong deutlich macht, wenn er feststellt »dass die digitalstrategische Mentalität in 20 Jahren die geopolitische Mentalität ersetzt haben wird«. Damit sagt er nichts völlig Neues, aber die Implikationen sind gewaltig, wenn man sie genauer bedenkt. Das bedeutet nämlich, dass die geopolitische, auf die Beherrschung von Land und Territorien ausgerichtete Machtform vergeht. Historisch wäre das ein riesengroßer Einschnitt. Es gibt ja schon länger Stimmen wie Benjamin Bratton, die sagen, dass die Westfälische Ordnung, also die staatliche Verfasstheit der Welt, wie sie nach dem 30jährigen Krieg zustande kam, zu Ende geht. Aber das meint Yan nicht. Zwar verabschiedet er die Herrschaft über Territorien und Raum, aber ansonsten gehen Staat und Technologie bei ihm immer noch zusammen. Im Ergebnis denkt er eine Art von Daten-Staat. In dieser neuen Weltordnung trifft das FANG-Imperium auf das Reich von Alibaba-Tencent, mit dem Unterschied, dass der chinesische Staat Alibaba nicht aus der Höhle raus auf Raubzüge gehen lässt.

C: Und wo bleibt Europa?

AM: Digital? Da hat der alte Kontinent die Daten leider am Wegesrand liegen lassen. Das ist umso erstaunlicher als das WWW in Genf erfunden und auch viele Standards in Europa gesetzt wurden. Aber was digitale Kultur angeht, ist der Anschluss leider erst einmal verloren. Nicht zuletzt, weil hier die analoge Rechteindustrie auf der Bremse steht. Das ist ungefähr so, als hätte man im Mittelalter den Buchdruck zwar technisch hoch entwickelt, seinen Einsatz aber untersagt, um die Handkopisten in den Klöstern zu schützen. So wäre Europa technologisch nie an China vorbei gezogen. Vollkommen undenkbar, dass unter derart rückwärts gerichteten Bedingungen etwas Fortschrittliches erwächst. Dabei gäbe es durchaus gute Chancen, an die Stelle der Plattform-Monopole ein anderes, progressives Modell zu setzen. Ich fürchte, es wird noch eine ganze Weile dauern und viel Geld kosten, bis man auch hier versteht, dass es bei den Daten nicht nur um Maschinen und effizientere Produktionsverfahren geht, sondern um das Zusammenleben von Milliarden von Menschen.


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