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Drop outs: John Savage über Teenage-Revolten und die Erfindung der Jugend

von , 10.12.08

Die Soziologen bieten als Erklärung für diese Erscheinungen vielfach nur Tautologie, sprechen von missglückter Integration und sozialer Isolation ohne Perspektive. Man kann jugendliche Gewalttätigkeit aber auch anders verstehen, so wie Jon Savage in seinem Buch über die Erfindung des Teenager. Der Autor, Jahrgang 1953, mit bürgerlichem Namen Jonathon Sage, ist als Musikjournalist und insbesondere als Begleiter der Punk-Bewegung bekannt geworden und hat eine intime Kenntnis von der Dynamik neuerer Jugendbewegung. Er betrachtet nun das hohe Gewaltpotential und eine gewissermaßen unsachliche Brutalität dieser Altersgruppe als Zeichen dafür, dass Konsum als Hauptinstrument moderner gesellschaftlicher Integration unwirksam wird.

Überschießende Aggression zumal männlicher Jugendlicher hatte es auch in früheren Zeiten schon gegeben im Rahmen begrenzter Phasen, in denen jungen Leuten ein Freiraum für allerlei Riten der aggressiven und sexuellen Überschreitung zugestanden wurden. Das traf vor allem für die ländlichen Gebiete zu, in denen die große Mehrzahl der Menschen lebte. Mit der Industrialisierung und der Landflucht aber fielen diese traditionellen Möglichkeiten eines vorübergehenden ‚drop out’ fort und mit ihnen die Instanzen, die dieses Verfahren garantierten. Es entstanden Klassen von Jugendlichen an beiden Enden der sozialen Skala, bei denen die biologische Wandlung mit innerer und äußerer Entwurzelung einherging. Die Jugendzeit wurde zu einem Alter der Rebellion ohne Wiederkehr. Hierfür gab es keine Spielregeln mehr und es fand nicht mehr routinemäßig mit Beruf und Heirat ein Ende. Schon während der Französischen Revolution war das städtische Jugendproletariat den Revolutionären selbst nicht geheuer, und es wurden in der Assemblée ernstlich Vorschläge gemacht, sich dieser Jugendlichen in ihrer übergroßen Zahl auf die ein oder andere Weise zu entledigen. Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert war Jugendkriminalität international zu einem ernsten gesellschaftlichen Problem geworden. Auch wenn die Mehrheit der Jugendlichen den Wegen folgte, die ihnen die Erwachsenen wiesen, so beunruhigte und bedrohte die radikale Minderheit doch die Gesellschaft als ganze. Es entstand über die sozialen Klassen und Schichten hinweg eine Gruppe Jugendlicher, die durch das Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit zu potentiellen Amokläufern geworden waren. Die Fälle von extremer Aggression und Kriminalität waren nicht zu individualisieren, sondern wiesen auf eine innere Zerreißprobe hin, der man sich ausgesetzt sah. Es drohte eine Gefahr, deren Gesicht jung, aber nicht unschuldig wirkte.

Hier setzt das bemerkenswerte Buch von Jon Savage über die Erfindung des ‚Teenagers’ ein. Seine These lautet: Die modernen Gesellschaften fanden zwei Wege, die überschießende Jugendlichkeit zu kanalisieren und gesellschaftlich zu domestizieren: entweder durch Militarisierung, wie sie im Deutschen Reich, in Großbritannien oder auch in den Vereinigten Staaten  seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts parallel gefordert und zum Teil auch durchgesetzt wurde. Oder aber der sozial-biologische Sonderstatus der Adoleszenz wurde im Konsum aufgefangen und ökonomisch genutzt. Diese Entwicklung setzt in Amerika während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs ein und springt bei Kriegsende bald auf Europa über. Savages’ Studie umfasst den Zeitraum von 1875 bis 1945 und stützt sich auf autobiografische und literarische Zeugnisse sowie auf Untersuchungen der entstehenden Massenkultur. Dabei gelingen Savage beeindruckende Einblicke in das Leben jugendlicher outcasts.

Das Buch beginnt mit einem Doppelporträt: mit der exaltierten Marie Bashkirtseff, der Tochter wohlhabender russischer Exilanten. In ihrem Tagebuch hält sie ihre Gefühlsschwankungen und wechselnden Ansichten detailliert fest. Ein ungeheueres Ungenügen an sich und den Aussichten, die ihr die Gesellschaft bietet, und zugleich ein grenzenloses Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Im Unterschied zur Selbstbetrachtung des achtzehnten Jahrhunderts, zu den Bekenntnissen Jean-Jacques Rousseaus etwa, mit denen Maries Tagebuch oft verglichen wurde, handelte es sich bei Maries Tagebuch, so unterstreicht Jon Savage, um etwas ganz neuartiges. Denn erstens stammten die Tagebücher von einer heranwachsenden Frau, und zweitens waren sie ein ungefilterter Empfindungsausdruck. Der britische Premier William Gladstone bezeichnete die Autorin der Tagebücher als „wahrhaftiges Genie“, weil es der Stimmungslage einer ganzen Altersgruppe über die sozialen Grenzen hinweg formulierte. Marie kehrte ihren Eltern und dem provinziellen Nizza bald den Rücken zu und ging nach Paris, wo sie mit ihren Bildern einige Anerkennung fand. Die Tuberkulose raffte sie dann mit Mitte zwanzig hinweg, aber Marie wusste, dass ihre Tagebücher sie postum berühmt machen würden.

Im scheinbaren Gegenbild zur reichen und kreativen, dem vierzehnjährigen Serienkiller, Jesse Pomeroy, der Mitte der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts Amerika schockierte, finden sich gleichwohl ähnliche Motive der Selbstwahrnehmung. Die Kälte mit der sich dieser Gewaltverbecher betrachtete, aber auch die affektfreie Barbarei, die er mit seinen Morden und Verstümmelungen beging, weisen auf eine eigentümliche Selbstbezogenheit, die doch den Ruhm verlangt – und damit gesellschaftliche Anerkennung. Ein nicht aufzulösendes Paradox, das der amerikanischen Gesellschaft wie ein Vexierbild der eigenen Ideale erschien.

Dieser Spur folgt Savage über die diversen Jugendbewegungen von den Wandervögeln über die Swing-Bewegung, die „Zoot-suiters’ und den ‚Victory Girls’ bis hin zu dem Punkt, als die Gründung der ersten amerikanischen Jugendzeitschrift „Seventeen“ den Jugendlichen ein eigenes  Medium gab und ein neues Geschäftsfeld für die Wirtschaft entstand. Diese Geschichte scheint heute an ihr Ende zu gelangen. Nicht nur deshalb ist dieses Buch gerade auch denen zu empfehlen, die schon mit dem Fernglas auf ihren siebzehnten Geburtstag schauen.

Jon Savage, Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875 – 1945), Campus Verlag, Frankfurt/New York 2008. 29,90 €, 522 S. Hier bei Amazon zu bestellen.

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