#Bassam Tibi

Diesseits der Prinzipien

von , 6.5.17

Eine Leitkultur müsste, sofern sie Erfolg haben soll, den Alltag beeinflussen. So hat das ja der Bundesinnenminister Thomas de Maizière auch gemeint, als er von Händeschütteln und anderem mehr („Wir sind nicht Burka“) im Zusammenhang mit einer Leitkultur sprach. Das wäre also etwas, das weniger die Feuilletons in Aufruhr brächte als Eindruck bei Kevin und Sophie, Maximilian und Emma, Leon, Luca und Marie oder Anna Normalbürger machte.

Das Wort „Leitkultur“ spielt nun seit 1996 in Deutschland eine Rolle. Erfunden hat das Wort der Politikwissenschaftler Bassam Tibi. Der wollte etwas entwickeln, das die Europäer, nicht allein die Deutschen, selbstbewusst sein lässt, wenn sie auf andere Kulturen treffen. Kein schlechter Ansatz damals.

Erst der CDU-Politiker Friedrich Merz, seit wenigen Wochen auf der Pay Role des weltgrößten Anlageverwalter BlackRock zu finden, hat wenige Jahre nach Tibi der Leitkultur-Diskussion den verbissen deutschen Akzent verpasst. Solche Debatten bekommen in Deutschland leider rasch etwas Ehernes, etwas für die politische Ewigkeit. Als Angebot an die Bürgerschaft sind sie zu leichtgewichtig, als Forderung zu eng und selbstgewiss.

Am besten wirft Mensch einen Blick zurück, um anschließend die Gegenwart in den Blick zu nehmen.

Wie war das damals eigentlich mit der „Leitkultur“, als wir Oldies, noch während des zweiten Weltkrieges oder kurz danach geboren, in kurzen Hosen, knöcheldeckenden, „hohen“ Schuhen und mit einem überall üblichen Haarschnitt (einmal einfach“) auf den Straßen herumliefen? In den katholischen Gegenden der Republik war eine Frau unten durch, falls sie ihrer Liebe folgte und einen evangelisch getauften Mann heiratete. Der Fama nach soll es Brikett-Händler (im Rheinland: „Klütten“) gegeben haben, die nur katholische Familien belieferten. Fama wie gesagt. Und falls der Bergassessor durch eine „Proleten“-Straße schritt, gab der dann dem ihm zufällig entgegen kommenden Bergarbeiter freundlich die Hand? Ich kann mich daran partout nicht erinnern. Es soll damals in manchen Familien so gewesen sein, dass die Kinder die Klappe zu halten hatten, wenn und solange die Erwachsenen das Wort führten. In meiner Familie war’s am Sonntagmorgen, wenn es zum Frühstück duftendes weißes Brot, einen „Stollen“ gab, so, dass ich zuerst eine Scheibe Schwarzbrot zu essen hatte, bevor ich nach dem weißen Weizenbrot greifen durfte. All das hat sich verloren, überlebt. War das damals das, was wir heute unter „Leitkultur“ diskutieren?

 

Solche Debatten bekommen in Deutschland leider rasch etwas Ehernes, etwas für die politische Ewigkeit. Als Angebot an die Bürgerschaft sind sie zu leichtgewichtig, als Forderung zu eng und selbstgewiss.

 

Während meiner Kleinkindzeit wurden Flüchtlinge aus dem Osten im Rheinland ganz ungeniert „Pimocken“ genannt – eine Verballhornung des Wortes Nepomuk, des Brückenheiligen; also gemünzt auf die über die Rheinbrücken ins Linksrheinische geflüchteten Menschen. Eine leitende Bezeichnung? Im April 1968 wurde in München Rainer Werner Fassbinders Drama „Katzelmacher“ aufgeführt. „Katzelmacher“ nannte man im Alpenraum damals verächtlich Gastarbeiter, vornehmlich Gastarbeiter italienischer Herkunft. 1968 wurde übrigens Marie Le Pen geboren. Waren solche rassistischen Bezeichnungen damals Teil der „Leitkultur“, jedenfalls in einem Teil der westdeutschen Bevölkerung?

Offenbar sind manche gesellschaftlich leitenden Bezeichnungen und Regeln ziemlich zeitbedingt. Sie meinen beruhigend, das liege weit zurück?

Du bist schwul, das ist heute nicht nur Bezeichnung für eine sexuelle Orientierung, sondern es wird von Kindern wie Jugendlichen vielfach genutzt, um jemanden abzuwerten, der nicht im Jugend-Mainstream mitschwimmt. Du „Asi“ – abgeleitet von Asozialer – wird ebenfalls mit dieser Intention genutzt. „Du bist ja behindert“ – auch ein verächtlich machendes Wort, das nicht auf eine wie auch immer geartete Einschränkung zielt, sondern auf irgendwie abweichendes Verhalten. Vielleicht kennen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, weitere aktuelle „Wortschöpfungen“, die das Ziel haben, verächtlich zu machen, auszugrenzen, zu demütigen.

Vielleicht sollte die Diskussion über eine Leitkultur damit beginnen, dass Programmacher und die in den öffentlich-rechtlichen Programmen Aufsicht Führenden, die Aufkäufer von Filmen sich verabreden und durchsetzen, nur das der Öffentlichkeit zu präsentieren, was auf Demütigungen und Einschüchterung verzichtet. Also: Weg mit der auf die an Kopf oder Rumpf gesetzte mit dem Tod drohende Pistolenmündung; weg mit erschreckenden und demütigenden, gestellten Drohungen, zu vergewaltigen. Weg mit den blutigen Erniedrigungen, die Film-Opfer zu erleiden haben. All diesen Szenen ist eigen, dass darin Menschen gedemütigt werden und Demütigung so zum Teil der Ereigniswelt wird wie das Blaulicht auf dem Streifenwagen. Eine derartige Verabredung, gefolgt von klaren Regeln – das wär doch etwas? Oder war die Leitkultur-Debatte nicht so gemeint?

Ohne Streit würde das nicht abgehen. Aber das würde ein produktiver Streit.

Ein zweiter Aspekt: Wir wäre es, der als völlig unbefriedigend und unzureichend beklagten politischen Bildung mehr Gewicht zu verschaffen? Eine Woche sehr gut aufbereitete, diskussionsgeladene und durch Planspiele ergänzte politische Bildung statt der von einem großen Teil der Lehrerschaft sowieso in ihrem Sinn bezweifelte Abiturfahrt nach Rom oder London. Lassen sich die Tarifverträge über Bildungsurlaub zum Zweck der besseren beruflichen Ausstattung nicht um die politische Bildung ergänzen?

Wie wäre es mit einer deutschen Hall of Fame? Eine ständige Präsentation der Menschen, die allgemein anerkannt Herausragendes geleistet haben, die Vorbilder sein könnten. Tom Mutters, der Gründer Lebenshilfe; Lea Ackermann, die Gründerin von SOLWODI, der Solidarity with Women in Distress; mit Elisabeth Selbert, Böll, Niemöller, Galinski, Bleicher, Ernst Deutsch, Hermann Kesten und Ernst Benda. Bitte, diese Vorschläge sind nicht mehr als ein Versuch. Also sollte nun niemand darüber herfallen, um den einen oder die andere zu zausen.

Aber über eine solche Idee könnten wir sehr ernsthaft diskutieren. Und es gibt sicher weitere, noch bessere Ideen, um aus der hin und her gerissenen Leitkultur-Debatte etwas Fruchtbares zu machen.

Strengen wir uns an.

 


 

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