#14. Juli

Die Verheißungen des 14. Juli

von , 15.7.16

Drei Nachrichten durchzogen den französischen Nationalfeiertag, die Bergung des Flüchtlingsschiffes mit 675 Toten, die Reaktionen auf die Ankündigung eines Politikwechsels durch die neue britische Premierministerin Theresa May und in den letzten Stunden des Tages die anschwellenden Eilmeldungen zum Anschlag in Nizza. Bei allen drei Nachrichten geht es letztlich – Zufall der Geschichte – um die seit 1789 propagierte Losung der französischen Revolution: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Während öffentlicher Aperitifs auf den Marktplätzen Frankreichs und mit Feuerwerken wird dieser Verheißung des 14. Juli jedes Jahr mehr oder weniger inbrünstig gedacht.

Es sind diese Werte und die sich zu ihnen bekennenden Staaten und Gesellschaften, die sie zum Ziel einer Völkerwanderung werden ließen, seitdem Satellitenfernsehen und Internet die Unterschiede, zu leben, bis in die fernste Ecke brachten. Oft verstärken Terror und Krieg die Wanderung oder lösen sie aus. Dabei mögen sich die hehren Werte der französischen Revolution im Alltag auf die schlichte Erwartung reduzieren, dass es dem Einzelnen zumindest ein wenig besser gehen möge.

Dass der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi darauf bestand, die Toten des Flüchtlingsschiffes durch die Marine bergen zu lassen, ehrt ihn. Seine Entscheidung wirkt zumindest ein wenig der Gewöhnung entgegen, die in der Öffentlichkeit längst eingetreten ist. Wie bei den Wehrmachtsberichten in Kriegszeiten werden die beinahe täglichen Opfermeldungen von Flüchtlingen zur Kenntnis genommen. Sie lösen kaum noch politisches Handeln aus.

Eine ähnliche Gewöhnung schleicht sich bei den Terroranschlägen ein. Sicher erhalten sie noch Sondersendungen und Eilmeldungen. Opfer und Täter haben Namen. Nachdem der französische Präsident abends das Ende des Ausnahmezustandes ankündigte, verlängerte er ihn wenige Stunden später um weitere drei Monate. Alle wissen, dass es sich um hilflose Ersatzhandlungen anstelle von Politik handelt.

Sicher berührt die Meldung, dass noch 50 Kinder in den Krankenhäusern von Nizza behandelt werden, zwei am Freitagmorgen bei Operationen starben, zutiefst. Wie lange wird die Betroffenheit währen? Was geschieht, wenn sie sich mit wachsender Angst vermischt? Langsam verbreitet sich die Ahnung, dass diese Anschläge nicht aufzuhalten sind. Denn sie richten sich längst nicht mehr gegen auserwählte oder vermeintliche Feinde, sondern nur noch gegen das menschliche Leben schlechthin.

Und die Waffen werden immer alltäglicher. Wenn nach Nizza das Verleihen von Lastwagen erschwert werden sollte, werden sie eben gestohlen werden. Mörderische Alternativen gibt es zudem zuhauf. Dabei verschwimmt das Bild der Attentäter zur Urkenntlichkeit. Im jüngsten Fall ist sein Motiv noch ungeklärt. Ist er Islamist? Oder nur verrückt? Oder politisch und verrückt? Die zurück liegenden Terroranschläge haben die öffentliche Schwelle für die Verachtung menschlichen Lebens gesenkt.

Flüchtlinge und Terroristen verbindet nicht, dass vielleicht der eine oder andere Attentäter auf den Flüchtlingsrouten einreist. Beide signalisieren der Öffentlichkeit unmissverständlich, dass die vorherrschende Weltordnung aus den Fugen gerät. Deshalb wird es nicht reichen, den Terrorismus polizeilich zu bekämpfen. Das ist als Erste-Hilfe-Maßnahme unabdingbar und zwingend geboten, hat die Ausbreitung des Terrors jedoch allenfalls verlangsamt.

Die Terroristen stärkt die innere Schwäche der Staaten, die sich den Werten der französischen Revolution verpflichtet wissen. Diese befinden sich von den USA über Großbritannien bis nach Europa in den vielleicht schwersten gesellschaftlichen Krisen seit dem zweiten Weltkrieg. Kerstin Kohlenberg hat in der neuen ZEIT eine zutiefst beunruhigende Titelgeschichte über den inneren Zerfall der USA geschrieben („Die Wut der Amerikaner: Bleiben die USA stabil?“, 30/ 2016). Die Neigung der Bürger wächst, sich auf sich selbst zurück zu ziehen. Vielleicht müssen sie erst am eigenen Leib nach den Wahlen erfahren, dass Trump und Le Pen keinen Ausweg bieten, sondern nur neue Gefahren.

Das sind historische Konstellationen, in denen ein großer Krieg wahrscheinlicher wird. Als Antwort auf einen möglichen nuklearen Terroranschlag oder einen mit Giftgas könnte ein Krieg die Hoffnung wecken, die Infrastrukturen des Terrors weltweit und nicht nur in Afghanistan zu zerschlagen und die Demütigungen der Bürger in den westlichen Staaten durch wachsende Angst vor Terroranschlägen zu beenden. So wie einst der zweite Weltkrieg neben der Vernichtung des nationalsozialistischen Regimes die Befriedung Westeuropas in einer Ordnung einleitete, die jetzt zu bröckeln beginnt, und weltweit die letzte Phase der Entkolonialisierung einleitete. Vielleicht reicht auch schon eine neue iranische Radikalisierung nach einem möglichen Scheitern von Präsident Hassan Rouhani bei den Wahlen im nächsten Jahr als Anlass. Die Opfer des letzten Krieges sind Geschichte, die Erinnerung an sie nimmt naturgemäß ab. Die Reden vom Krieg gegen den Terrorismus pflegen rechte wie linke Politiker. Um den angenehmen Nebeneffekt, innere Krisen auf diesem Wege zu kompensieren, wissen nicht nur Politiker wie Trump, Le Pen und Putin.

Darum kommt der unerwarteten Ankündigung von Premierministerin Theresa May, der dritten Meldung des vergangenen Nationalfeiertages, eine so große Bedeutung zu. In der Stunde des Brexit-Triumpfes hatte die konservative Politikerin die Ursachen dafür analysiert und schon vor ihrer unerwartet schnellen Ernennung in ihrer Kandidatenrede für den Wahlkampf in der eigenen Partei, angekündigt, eine Politik für die Verlierer der Globalisierung zu entwickeln. Das hatten niemand erwartet, obwohl es Anzeichen gab. Sie spricht vom „Dienst an der arbeitenden Bevölkerung“: „Wir glauben nicht nur an Märkte, sondern auch an Gemeinschaften. Wir glauben nicht nur an Individuen, sondern auch an die Gesellschaft“. Sie kündigt Investitionen für Wohnungsbau, Infrastruktur und Stromnetze an, will Mitbestimmung einführen und kündigt ein entschlossenes Vorgehen gegen steuerflüchtige Unternehmen wie Amazon, Google oder Starbucks an. Vielleicht gelingt hier konservativer Politik, woran die Linke scheitert. Es ist ein kleiner Lichtblick.

Niemand weiß, ob Theresa May über die Entschlossenheit und das politische Geschick einer Margret Thatcher verfügt, um ihre Vorstellungen auch umzusetzen. Gelänge ihr eine Wende im eigenen Land, könnten sich USA und Europa den weltweiten Globalisierungsverlierern zuwenden. So irreal eine Art neuer Marshallplan erscheint, er bleibt die einzige Alternative zum Krieg, dieses Mal vor dem Krieg. Ob die Zeit dafür reicht, ist ungewiss.

Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit bleiben immer Ideale. Das ist auch in Ordnung. Aber so lange Politiker Annäherungen versuchen, gibt es noch Anlass zur Hoffnung.

 


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