»Die große Gereiztheit«: Von fallenden und aufsteigenden Heroes und Sheroes

Wir reagieren auf die Enttäuschung mit schäumender Wut, was jedoch relativ schnell in Gleichgültigkeit oder vielleicht noch einen zynischen Blick auf Eliten umschlägt. Zeitgleich entdecken wir aber neue Heroes und Sheroes, die wir frenetisch feiern und auf unseren digitalen Händen tragen. Statt analoge Helden digital zu entmystifizieren, erwecken wir digitale Heldinnen zum Leben.

von , 10.9.19

Das Internet offenbart uns die hässliche Fratze der Menschheit in einer gnadenlosen Direktheit und Unmittelbarkeit. Kreischen, Empörung und Wutschnauben belagern unsere Timelines. Irgendjemand hat irgendwo irgendwas über irgendwen gesagt, worüber es sich aufzuregen gilt. Namen, Ereignisse und Buzzwords trenden und dienen als Kompassnadeln der öffentlichen Aufregung. Und bisweilen ist die große Gereiztheit, so der Titel von Bernhard Pörksens überaus lesenswertem Buch, ob der hässlichen Skrupellosigkeit, den Beleidigungen und Unverschämtheiten, die wir uns gegenseitig zumuten, sehr berechtigt. 

Zwar wissen wir um diese menschliche, abstoßende Seite und doch blicken wir, zumindest für einen kurzen Moment, entsetzt auf jene Hässlichkeiten. Treten sie offen zu Tage oder zutreffender, wenn sie mit der Gewalt öffentlicher Enthüllungen ans Licht gezerrt werden und damit in unseren Blick geraten, schütteln wir den Kopf oder geben selbst empörte Reaktionen in die Social-Media-Aufregungsmaschinerie ein. Ein Präsidentschaftskandidat, der die Eltern eines gefallenen Soldaten oder einen gehandicapten Journalisten verspottet. Ein ausgerechnet deutscher Politiker, der Millionen Opfer des Dritten Reichs verhöhnt, indem er die Zeit des Holocaust als Vogelschiss der Geschichte einordnet. Ein Aufsichtsratsvorsitzender eines traditionsreichen Fußball-Clubs, der gleich einem ganzen Kontinent eine archaische Lebensweise unterstellt und rassistische Vorurteile nicht nur bedient, sondern mit Spiritus befeuert.

Neben jenen »eineindeutigen« Geschmacklosigkeiten gibt es aber auch kleinere Fehltritte. Eine jugendliche Frechheit, betrunkene Geschmacklosigkeit oder adrenalinübersteuerte Torheit – wir alle liegen ab und an daneben. Mal landen wir mit einer gewaltigen Arschbombe im Fettnapf, ein anderes Mal stippen wir nur die Zehen ins fettige Näpfchen. Unser aller Verhalten zeugt hier und da von unsensibler Hybris, ignoranter Eitelkeit oder stumpfer Dummheit. 

Doch besonders aufmerksam und unnachgiebig sind wir bei jenen Entgleisungen, die von Personen des öffentlichen Lebens begangen werden. Eine Affäre mit der Büroleiterin, die in einem gemeinsamen Kind mündet. Eine Naziuniform auf einer College-Party. Unrechtmäßig Flugmeilen sammeln, Putzfrauen schwarz beschäftigen, Montblanc-Füller auf Kosten der Steuerzahler bestellen – die Liste ist lang. Dies sind alles Zeugnisse schlechten Geschmacks, der Geschichtsvergessenheit und schlicht von grober Blödheit. Es sind kleine und größere Stachel im Reputationsfleisch öffentlicher Personen und sie führen zu der Entmystifizierung von Autoritäten, wie es Bernhard Pörksen nennt (S. 103 ff). Insbesondere Eliten werden aufgrund solcher Vergehen vom Thron geschubst und verfügen über das Potential, uns zu enttäuschen.

Diese Enttäuschung um die Entthronisierung unserer Autoritäten und Helden sollte uns gleich doppelt anfassen: die Taten und Aussagen selbst schocken uns und zugleich sollte uns das Phlegma schockieren, mit dem mittlerweile auf derlei abtrünnige Unverschämtheiten reagiert wird. Kurzfristig schieben wir eine Empörungswelle vor uns her, sie türmt sich vielleicht zum Tsunami auf, dann bricht sie und das Wasser beruhigt sich zügig wieder, bis es vor sich hinplätschert, als wäre nichts geschehen. Bernhard Pörksen befüchtet bei dieser Entidealisierung bisheriger Autoritäten einen um sich greifenden Gewöhnungseffekt. »Denkbar ist schließlich, dass sich im Laufe der Zeit, schon allein aufgrund von Gewöhnungseffekten auf Seiten des Medienpublikums, eine weniger anspruchsvolle, entidealisierte Idee von Autorität herausbildet und die Fülle der Fehlleistungen irgendwann zum unspektakulären Regelfall und zum achselzuckend akzeptierten Dauerereignis mutiert, weil die Abweichung längst zur Normalität geworden ist.« (S. 113) Unsere Helden können sich nicht mehr sicher sein, dass ihre Fehltritte unerkannt und unkommentiert bleiben. Wir reagieren auf die Enttäuschung mit schäumender Wut, was jedoch relativ schnell in Gleichgültigkeit oder vielleicht noch einen zynischen Blick auf Eliten umschlägt. 

Zeitgleich entdecken wir aber neue Heroes und Sheroes, die wir frenetisch feiern und auf unseren digitalen Händen tragen. Statt analoge Helden digital zu entmystifizieren, erwecken wir digitale Heldinnen zum Leben. So wie Instagram, Facebook und Twitter Galionsfiguren zu Fall bringen, so setzen die Nutzer jener Plattformen einzelnen Personen erst die Krone auf. Um sie herum entstehen ganze Bewegungen wie etwa »Fridays for Future«, deren Wirkkraft längst nicht aufs Digitale beschränkt ist, sondern bis weit ins analoge Leben reicht. Ohne Zweifel sticht Greta heraus, sie provoziert Reaktanzen und Vergötterung, sie dient als Projektionsfläche für Hoffnungen aber auch für Ablehnungen. Instagram und Co bringen aber auch längst alltäglichere Stars und Sternchen hervor. Scheinbar durchschnittliche amerikanische Familien können 8 Mio. Follower hinter sich vereinen und ihre YouTube-Challenges tragen sicherlich ordentlich zum Familieneinkommen bei. Verliebte Traveler-Pärchen, die um die Welt reisen. Stets gut gebräunt, mit flachem Bauch und glückseligem Lächeln auf den vollen Lippen. So inszeniert diese Accounts auch sein mögen, sie dienen dem Betrachter dazu, eigene Wünsche und Vorstellungen zu projizieren. Wenn die das schaffen, kann ich das auch erreichen.

Wir haben es mit zwei widerstreitenden Bewegungen und Entwicklungen zu tun. Auf der einen Seite fallen unsere Eliten in Ungnade und in unserer Gunst. Unsere analogen Heroes und Sheroes stolpern über große Dummheiten aber auch über kleinere Missgeschicke. Die Online-Gemeinde hetzt unnachgiebig, sobald ein Straucheln bemerkbar wird. Umgekehrt überschütten wir Personen des analogen Alltags, die digital enorme Reichweiten und Reputation aufbauen, mit Aufmerksamkeit und Jubel. 

Ob die Begeisterung ein Kompensat für die Enttäuschung ist, vermag ich nicht zu sagen. Fest steht, dass sowohl die Entmystifizierung von Autoritäten als auch die Glorifizierung neuer Heroes und Sheroes dank digitaler Aufregungswellen nie schneller und heftiger vonstattenging.  Es liegt nahe, dass beides irgendwie miteinander zu tun hat, sich bedingt und in einer gewissen Wechselwirkung zueinandersteht. 

Bernhard Pörksen:
»Die große Gereiztheit.
Wege aus der kollektiven Erregung«
Carl Hanser Verlag, München, 2018
256 Seiten, 22 EUR
https://www.hanser-literaturverlage.de

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