von Christian Stahl, 14.9.14
Sonntagmorgen, 8 Uhr. Ich öffne mein Notebook, scanne Nachrichten, noch im Halbschlaf. Schon wieder ein bestialisch ermordetes Opfer der Terrortruppe „Islamischer Staat“ (IS). Die Enthauptung kann man weltweit im Video sehen. Schon wieder. Abscheulich.
Ich trinke Kaffee. Die NSA hatte offenbar Zugang zu Telekom-Netzen. Wundert mich das? Die CIA geht von mehr als 30.000 Kämpfern der IS Terrormiliz in Syrien aus.
„Tell me something new“. Abstumpfungserscheinungen. Auch bei mir. Die Gewohnheit ist ein mächtiger Dämpfer, hat Samuel Beckett mal gesagt.
Der Terror des IS ist das perfekte Medien-Event, um sich weltweit (und zu Recht) zu empören, aber die Millionen Flüchtlinge, die dem Terror und dem syrischen Bürgerkrieg entkommen wollen, im Stich zu lassen. Über drei Millionen Syrer (es gibt 4,4 Mio) sind auf der Flucht. In die Türkei sind 800.000 geflüchtet, in den Libanon mehr als eine Million. Deutschland lässt gerade mal 25.000 syrische Flüchtlinge ins Land. Beschämend.
Meine Stadt Berlin findet seit zwei Jahren keine Lösung für die Flüchtlinge vom Oranienplatz. Grundrechte? Zusicherungen? Versprechen des Senats? Nicht so wichtig. Seit Monaten wird den Flüchtlingen klar gemacht, dass sie in Akten und Augen der Behörden Menschen zweiter Klasse sind. Wesentliche Rechte werden ihnen einfach verweigert. “Berlin kapituliert vor den Flüchtlingen”, las ich letzte Woche in einer Berliner Tageszeitung. Wie bitte? Eine 3,5-Mio.-Metropole kommt mit wenigen hundert Menschen nicht klar, die unsere Hilfe brauchen? Die nichts fordern, als das Recht, hier zu leben, hier zu arbeiten, hier Steuern zu zahlen und sich in Deutschland frei zu bewegen?
Yehya E. war vor seiner Verhaftung im Oktober 2013 häufig dort. Er fühle sich den Flüchtlingen sehr verbunden, hat er mir bei unserem letzten Interview in der JVA Moabit vergangene Woche gesagt. Es erinnere ihn an seine eigene Jugend im Asylbewerberheim und in Neukölln. Ich habe ihn und seine Familie vor zehn Jahren kennengelernt, in dieser Zeit wurde aus Yehya E. der kriminelle Boss der Neuköllner Sonnenallee.
Doch ich kenne auch seine weichen Seiten, wenn er plötzlich still wird, den Kopf senkt und leise in Richtung Boden spricht. Um mich dann fragend anzuschauen, so, als erwarte er ein Urteil. Oder eine Note von mir. Ich konnte ihm nichts sagen. Ich war und bin viel zu wütend, wenn es um unseren Umgang mit Flüchtlingen geht.
Welche Familie in Deutschland hat keine Flucht- oder Migrationsgeschichte in den letzten 100 Jahren zu erzählen? Königsberg oder Kabul? Wo ist der Unterschied? Waren die hugenottischen Urururgroßeltern von Innenminister De Maizière, die im 17. Jahrhundert aus Frankreich nach Preußen migrierten, bessere Einwanderer als rumänische oder bulgarische Facharbeiter heute? Waren die deutschen Binnenflüchtlinge nach 1945 bessere Flüchtlinge als die syrischen Flüchtlinge aus dem Jahr 2014?
Haben wir wirklich ein so schlechtes Gedächtnis, dass wir in Deutschland die Fluchtgeschichten unserer Großeltern und Eltern schon vergessen haben? Erinnern wir uns wenigstens an unser Grundgesetz? Gleich im ersten Satz steht da etwas von der Würde des Menschen. Nicht von der Würde des deutschen Passinhabers.
2012 revidierte das Bundesverfassungsgericht das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz. Die staatlichen Geldleistungen für Flüchtlinge seien verfassungswidrig, ein Existenzminimum stünde jedem Menschen in Deutschland zu, meinten die Richter. Seitdem bekommen Flüchtlinge im Monat 336 Euro. Vorher waren es 225 Euro. Zu teuer für Deutschland? Arbeiten dürfen die meisten Flüchtlinge immer noch nicht. Wovon sollen sie sonst leben.
Yehya E. kam als vier Wochen altes Baby aus einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon nach Deutschland. Seitdem ist er geduldet, das heißt, er darf seit 23 Jahren nicht arbeiten. Nicht studieren. Berlin nicht verlassen. Keinen Führerschein machen. All das rechtfertigt keine Kriminalität. Die ist nicht zu rechtfertigen. Im Gegenteil, sie hat ihm vieles in Sachen Aufenthaltsstatus erschwert. Nun sitzt Yehya E. für weitere sechs Jahre im Gefängnis. Zu Recht. Das sagt er selbst. All das rechtfertigt keine Kriminalitât. Im Gegenteil: Sie hat ihm alles noch schwerer gemacht.
Haben wir ihm und den vielen Flüchtlingskindern mit ähnlichem Schicksal eine faire Chance gegeben? Haben wir ihn jemals als Deutschen akzeptiert? Als deutschen Intensivstraftäter? Als deutschen jungen Mann, der versucht hat, aus den Gangs von Neukölln auszusteigen und gescheitert ist, vorerst. Hat er deshalb keine zweite Chance verdient? Und was machen wir mit ihm, wenn er wieder raus kommt aus dem Knast und weiter geduldet ist und nicht arbeiten darf?
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts begründeten ihr Urteil vor zwei Jahren mit dem Satz: “Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht relativierbar”. Ist sie das nicht?
Oder sollte sie es nicht sein?
Disclaimer: Der Autor hat sich mit dem Lebensweg von Yehya E. und mit gesellschaftlichen Auswirkungen deutscher Migrationspolitik in seinem Film „Gangsterläufer“ auseinandergesetzt. Sein Buch “In den Gangs von Neukölln – Das Leben des Yehya E.” ist soeben erschienen.