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Der Fall Tsvetkova: Zum Prozess gegen eine russische LGBTQ-Aktivistin

Monatelang wurde Yulia Tsvetkova beobachtet, verhört und bedroht. Nun, sagt sie, habe sie nichts mehr zu befürchten. Ihren Job hat sie verloren, all ihre Projekte seien auf Eis gelegt. »Es gibt nur noch mein ›Ich‹ und meine Freiheit. Das Zweite kann mir immer noch weggenommen werden, aber für Ersteres werde ich bis zum Letzten kämpfen.«

von , 5.8.20

Das Blumenblatt sieht ein bisschen aus wie eine Vulva, die Muschel auch. Auf einer Zeichnung lächelt eine nackte Frau, ihre behaarten Genitalien entblößt, über ihr steht hingekritzelt: »Lebendige Frauen sind behaart – und das ist völlig normal!« Ähnliche Illustrationen zeigen das offenbar Unvorstellbare , lebendige Frauen haben demnach Falten, Muskeln, Fett. Sie sind keine Puppen, so die Botschaft des feministischen Social-Media-Kanals mit dem unmissverständlichen Namen »Vagina-Monologe«, benannt nach dem gleichnamigen Theaterstück von Eve Ensler, die im Juni ihre Unterstützung für Tsvetkova aussprach. Bis November 2019 führte ihn die junge Aktivistin und Künstlerin Yulia Tsvetkova. Bis die Polizei in ihre Wohnung einmarschierte, Festplatten beschlagnahmte und sie wenige Tage später zu einem Hausarrest verdonnerte, der vier Monate andauern sollte. Das war erst der Anfang eines Falles, dessen Ausgang immer noch ungewiss ist.

Die Geschichte beginnt in Komsomolsk am Amur, 8630 Kilometer entfernt von Moskau und nicht weit von Chabarowsk, wo momentan Zehntausende Menschen auf die Straßen gehen, um gegen die umstrittene Verhaftung ihres Gouverneurs Sergej Furgal zu protestieren. Es ist eine schöne Stadt, kulturell reich. Aber Tsvetkova nennt ihre Geburtsstadt die »kriminelle Hauptstadt des fernöstlichen Russlands« – sie wurde mitten hinein geboren, in die unruhigen ersten Jahre der postsowjetischen Neunziger. Ihre Mutter kommt ursprünglich aus Moskau, war jahrelang Theaterdirektorin. Mit 13 Jahren hatte Tsvetkova bereits ihre erste Soloausstellung in der Stadtgalerie.

Die Schule brach Tsvetkova mit 15 ab, floh nach Moskau, um modernen Tanz zu studieren. Sie probierte sich auch an Kampfkunst und Parkour. Mit 20 fand sie den Weg zurück in die Heimatstadt und ihre Leidenschaft für die Arbeit mit jungen Menschen. In dem pädagogischen Zentrum ihrer Mutter brachte sie Kindern Englisch bei, gab Theater- und Tanzkurse, aber sprach auch über Sex, der an den meisten russischen Schulen nicht Teil des Lernplans ist. In dieser Zeit entdeckte Tsvetkova den Feminismus für sich – der Auslöser für eine Art Erleuchtung war eine schwierige, gewalttätige Beziehung. »Früher dachte ich, dass Feministinnen irgendwelche Frauen sind, die mit Plakaten herumlaufen und irgendetwas fordern.« Lange hatte sie geglaubt, dass der Feminismus nichts mit ihr zu tun habe.

Aber mit der Zeit festigte sich ihre feministische Überzeugung. 2018 begann Tsvetkova als Aktivistin aufzublühen, sie organisierte regionale Diskussionsgruppen, veröffentlichte Zeichnungen mit eindeutigen Botschaften und schuf auf dem sozialen Netzwerk VKontakte die berühmt-berüchtigten »Vagina-Monologe«. Es wurden Dialoge und Debatten daraus, der Kanal erreichte immer mehr Feministinnen und LGBTQ-Aktivistinnen. Das Ziel lautete schlicht, den weiblichen Körper zu enttabuisieren. Und ganz nebenbei auf die Unfreiheiten der LGBTQ-Community in Russland aufmerksam zu machen.

Vielleicht hätte Tsvetkova noch lange so weiter machen können, doch dann gründete sie eine Theatergruppe für Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren. Die Aufführungen kreisten um Themen wie Toleranz und die Gleichheit zwischen Mädchen und Jungen. Tsvetkova war nun nicht länger lediglich eine Aktivistin wie es sie vielfach vor allem in Moskau und Sankt Petersburg gibt. Sie wurde so etwas wie ein Vorbild für ihre jungen Schauspieler, sie übte Einfluss aus. Beeinflussung kann gefährlich werden für ein System, das bitte selbst entscheiden will, wer wie beeinflusst wird.

Eine kurze Chronologie der Einschüchterung

Ende 2018 steckte das Theater mitten in den Proben für ein Aktivistenfestival. Die vier Stücke sollten vom Prager Frühling, Anti-Militarismus, Strafverfolgung und Geschlechterklischees handeln. Die Gefahr entging der Stadtverwaltung nicht. Im Februar 2019 erkundete sich ein hoher Beamter bei dem Theaterverwalter über die geplante Aufführung. Von was es denn da genau handele? Am nächsten Tag verlor das Theater seine Genehmigung für den Veranstaltungsort, Tsvetkova wandte sich empört an die Sozialen Medien. Schon kurz darauf wurde sie zur Stadtverwaltung bestellt, die ihr deutlich machte, schlechte Publicity könne man nicht gebrauchen. Tsvetkova bestimmte als neuen Veranstaltungsort das Theaterstudio ihrer Mutter, die Proben wurden fortgesetzt.

Im März trafen Polizisten bei der Theatertruppe ein. In Abwesenheit ihrer Eltern oder anderer Erwachsenen wurden die minderjährigen Schauspieler verhört, es ging um »homosexuelle Propaganda« und Extremismus. Tsvetkova ließ sich nicht einschüchtern, doch die Aufführungen fanden schließlich vor einem geschlossenen Publikum statt – 15 Leute waren geladen, die Eltern der Kinder und einige Journalisten. Es wurden auch Filmaufnahmen gemacht.

Auf den Kanälen Tsvetkovas verschwanden die farbenfrohen Vulven, es erschienen immer wieder längere Posts. Im April berichtete sie zum ersten Mal über die Polizeibefragungen, die mittlerweile zu ihrem Alltag wurden. Allein bis Juli wurde sie etwa zehn Mal aufs Polizeirevier bestellt, dann passierte erst einmal – nichts. Verdächtig ruhig wurde es um die Aktivistin, die nicht weiter überrascht war, als im September der Marathon der Befragungen einen neuen Anlauf nahm. Zu diesem Zeitpunkt, da nahm sie noch alles mit einem ironischen Augenzwinkern, schrieb sie auf Facebook: »Hallo, ja, wieder mal eine neue Anzeige? Soll ich wie immer vorbeikommen? Gut, bis dann.« Sie hätte das Gefühl, Bekannte zu besuchen, und nicht zum Verhör zu gehen.

Ende Oktober erfuhr Tsvetkova, dass gegen sie offiziell ermittelt werde, auf Ersuchen eines gewissen Timur Bulatov. Der Mann aus Sankt Peterburg ist ein prominenter Hetzer, er nennt sich selbst einen »homophoben Wolf«, der einen »moralischen Dschihad« anführt. Seine Gegner: Menschen aus der LGBTQ-Community – Bulatov zufolge »Pädophile« – und auch all diejenigen, die sie unterstützen. Er brüstet sich mit seinen Erfolgen, über 40 Lehrer und Beamte haben wegen ihm ihren Job verloren. Ein Psychiater musste sein Institut verlassen, nachdem Bulatov öffentlich gemacht hatte, dass der Mann Geschlechtsumwandlungen befürwortet. Akribisch verfasst Bulatov Akten über seine Opfer, die er dann zumeist deren Vorgesetzen vorlegt. Er mache das, so Bulatov, zum Wohl der Kinder. Der gute Wolf im Wolfsfell.

Ein langer Prozess der Ungewissheit

Am 20. November kam Tsvetkova gerade von dem feministischen Festival »Rebra Evy« (dt. Evas Rippen) aus Sankt Petersburg nach Hause. Dort hatte sie Filmaufnahmen eines der Stücke vorgespielt, die einige Monate zuvor das 15-köpfige Publikum in der Heimatstadt gesehen hatte. Neben den Festivalbesuchern hatten auch Polizisten vorbeigeschaut. Am selben Abend klopfte es an Tsvetkovas Tür, Hausdurchsuchung, Verdacht der Verbreitung von Pornographie. Wenig später gingen die Beamten jedes einzelne Foto und Video der Theatergruppe durch, es hatte schon seit Monaten nicht mehr geprobt – die häufigen Stippvisiten der Polizei machten sorgenfreie Aufführungen unmöglich. Am 22. November wurde der Hausarrest verhängt. Dann begannen die Prozesse.

Bislang wurde Tsvetkova dreimal wegen der angeblichen Verbreitung von Pornographie und »homosexueller Propaganda« verurteilt. Im ersten Fall wurden umgerechnet 625 Euro eingefordert, im zweiten etwa 935 Euro. Welche Strafe auf die dritte Anklage folgen wird, ist noch ungewiss. Doch eins steht fest: Wenn das vierte und schärfste Urteil erfolgreich vollstreckt wird, erwartet Tsvetkova eine Haftstrafe von zwei bis sechs Jahren. Nach Artikel 242, Paragraf 3 des russischen Strafgesetzbuches droht das für das »Propagieren nichttraditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen«, dessen Tsvetkova sich schuldig gemacht hat mit ihren Zeichnungen von nackten Frauen, homosexuellen Paaren mit Kind und Katze und den Blumenblättern.

Das 2013 eingeführte Gesetz ist nicht nur umstritten – es ist homophob, so zahlreiche menschen- und völkerrechtliche Organisationen. Namentlich wird die LGBTQ-Community in dem Gesetzestext zwar nicht genannt, doch ist deutlich, dass auf sie abgezielt wird. Die Formulierungen sind vage, der Interpretationsspielraum grenzenlos – jedes Festival, jeder LGBTQ-freundliche Post und jede harmlose Zeichnung können das Konstrukt der »traditionellen Normalität« ins Wanken bringen. So die Angst seitens der Regierung. Auf der anderen Seite steht die Angst der Menschen, die ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmtheit gefährdet sehen.

Ein stürmische Welle des Protests

Es wird unbequem in Russland für all diejenigen, die dem System unbequem werden. Tsvetkova hat Vulven gezeichnet und sich mit anderen Feministinnen ausgetauscht, sie hat sich öffentlich für die Unterstützung der bedrohten LGBTQ-Community ausgesprochen. In ihrem Theater sagte sie den jungen Menschen: Mädchen können verflixt noch einmal einen Baum hochklettern. Jungs können auch Pink tragen. Wenn sich zwei Menschen lieben und zufällig dasselbe Geschlecht haben – was macht das schon für einen Unterschied?

Einen Unterschied zu früheren Verhaftungen und Übergriffen an Aktivisten hat der Fall Tsvetkova dennoch – er polarisiert, seit Monaten. Selten war die offene Unterstützung so groß für eine Person, die nicht so recht in das vorgesehene System passen will. Das mediale Echo ist gigantisch; noch im November posteten Menschen ihre Empörung und gingen mit Schildern auf die Straßen, auf denen stand: Lebendige Frauen haben keine Rechte – und das ist nicht normal. Menschenrechtsorganisationen weltweit haben die Verhaftung als politisch motiviert und unrechtmäßig beschrieben. Das Memorial Human Rights Centre erklärte Tsvetkova Anfang Februar offiziell zur politischen Gefangenen. Am 16. März wurde der Hausarrest aufgehoben, unter der Bedingung, dass Tsvetkova Komsomolsk nicht verlässt, während momentan der vierte Prozess läuft. Menschenrechtsorganisationen weltweit haben die Verhaftung als politisch motiviert und unrechtmäßig beschrieben.

Ende Juni diskutierten drei Journalistinnen den Fall, sie nennen sich »die Unbequemen«. Ihre Sendung lief auf der Radiostation Echo Moskwy, der einzig verbleibende landesweite Rundfunksender Russlands, der bislang außerhalb des Kreml-Orbits seine Bahnen ziehen kann. Geladen war auch die Pussy-Riot-Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa, die den gezielten Desinformationskurs der Regierung anprangerte: »Sie zeigen nicht, welche Art von Bildern Yulia gezeichnet hat«. Bislang ist tatsächlich nicht bekannt, welche konkreten Illustrationen Tsvetkovas angebliche Tat beweisen sollen. Die staatlichen TV-Sender vermeiden es, die kontrovers unkontroversen Zeichnungen einzublenden. Eine der Radiomoderatorinnen war früher selbst Aktivistin, bekam immer wieder zu hören: »Ein Aktivist – das ist normal. Eine Aktivistin aber – da heißt es: Was mischt du dich überhaupt ein?« Männlich und unbequem, das hat Charakter. Aber eine Frau, die sich nicht fügt, ist gefährlich.

Das weiß nun auch Tsvetkova. Mehrfach habe sie das Angebot erhalten, einen Deal auszuhandeln, jedes Mal lehnte sie ab. In einem Blogbeitrag Mitte Juni gab sie zu, dass anfangs Schuldgefühle an ihr genagt hätten, weil ihre Mutter und ihre Freunde, aber auch die Kinder und Jugendlichen vom Theater in die Ermittlungen hineingezogen würden: »Aber mir ist klar geworden, dass ich nichts falsch gemacht habe. Das Problem ist das System selbst.« Wie es funktioniere, könnten nun immerhin ihre Schüler sehen.

Wie der Prozess ausgehen wird, ist momentan noch ungewiss. Könnte der öffentliche Aufschrei im eigenen Land und darüber hinaus bewirken, dass die Justiz einknickt? Monatelang wurde Yulia Tsvetkova beobachtet, verhört und bedroht. Nun, sagt sie, habe sie nichts mehr zu befürchten. Ihren Job hat sie verloren, all ihre Projekte seien auf Eis gelegt. »Es gibt nur noch mein ›Ich’ und meine Freiheit. Das Zweite kann mir immer noch weggenommen werden, aber für Ersteres werde ich bis zum Letzten kämpfen.«


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